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# taz.de -- Streit um Barrierefreiheit in Hamburg: Der Rollstuhl soll raus
> Veronika Radigk darf ihre Mobilitätshilfe nicht mehr in den Hausflur
> stellen. Das bedeute „Hausarrest für immer“, sagt die schwerbehinderte
> Frau.
Bild: Braucht ihren Rollstuhl im Hausflur, um im Stadtteil mobil zu sein: Veron…
Hamburg taz | Es scheint die Sonne, Veronika Radigk sitzt auf einer
Fensterbank im Erdgeschoss und wartet auf ihre Besucherin. „Kommen Sie, ich
schließe uns auf.“ Leicht schlurfend und gebückt geht sie ein paar Schritte
zur Tür des Altbau-Wohnhauses an der Revaler Straße, Hamburg-St. Georg. Im
Flur holt eine Nachbarin ihre Post aus den Briefkästen. Daneben in der Ecke
zur Treppenhaustür steht unter einer blauen Hülle Radigks Rollstuhl.
„Nein“, sagt die Nachbarin, „der stört uns gar nicht.“
Hinter der Schwingtür beginnt das Treppenhaus. Radigk geht Stufe für Stufe,
hält sich am Geländer fest, bis in den zweiten Stock. „Die Treppe schaffe
ich“, sagt sie. Aber draußen mache sie ohne den Rollstuhl nach zehn Metern
schlapp. Sie leidet an Skoliose und Muskelschwäche, hatte schon über 20
Knochenbrüche – das ist die Folge der starken Medikation eines schweren
Asthmas in der Jugend. Seit fünf Jahren stellt die Kasse Radigk deshalb
einen Elektrorollstuhl. Damit ist sie in ihrem Stadtteil mobil, fährt zum
Arzt, zum Optiker, zur Sparkasse, zum Supermarkt. Aber nun soll der
Rollstuhl weg aus dem Flur. Aus Brandschutzgründen.
Radigks Wohnzimmer ist mit einem Kronleuchter, antiken Tapeten und Möbeln
liebevoll dekoriert. Die kleine Altbauwohnung erinnert fast an ein Museum.
Auf den Couchtisch hievt Radigk einen Aktenordner, bevor sie sich davor in
ihren Ohrensessel setzt. Seit Monaten kämpft die ehemalige Hort-Erzieherin
mit den Behörden um ihren Rollstuhl. „Ich will hier nicht weg. Ich habe
hier meine sozialen Kontakte“, sagt sie. Doch bisher sieht es nicht so aus,
als ob die Behörden ihr in der Frage, ob sie den Rollstuhl weiter im Flur
lagern darf, entgegenkommen. Doch diese Frage ist für Radigk existenziell.
24 Jahre schon lebt sie in diesen zweieinhalb Zimmern. „Ich habe das
Gefühl, ich habe mir hier jeden Zentimeter erwohnt.“ Nun drohe ihr
„Hausarrest für immer“. Eher bleibe sie nur noch drinnen als auszuziehen.
## Beschwerde einer Nachbarin
Die Entscheidung steht kurz bevor: Wenn bald [1][der Eingabenausschuss des
Parlaments] über ihre Petition in der Sache entscheidet, entscheidet in der
Folge auch der Bezirk Hamburg-Mitte über ihren Widerspruch. Und damit endet
ein Beschluss des Amtsgerichts, den Radigk im März erwirkt hatte, damit ihr
Vermieter nicht das Abstellen des Stuhls im Flur untersagt.
Auslöser war die Beschwerde einer Nachbarin, die längst ausgezogen ist: Die
klagte beim beim Bauamt, dass im Flur Sachen herumstünden: Kinderwagen,
Fahrräder und, eben, ein Rollstuhl. Das Amt sah den Brandschutz gefährdet,
die anderen Gegenstände wurden entfernt. Am 5. März erteilte das Bezirksamt
Mitte den Eigentümern dann eine Anordnung. Sie sollten auch den Rollstuhl
entfernen oder so stellen, dass der Brandschutz gewährleistet ist. Und
Radigk sollte das dulden.
Die Argumente sind zu lesen in der Stellungnahme von [2][Bezirksamtsleiter
Falko Droßmann], die der taz vorliegt. Insbesondere sei gefährlich, dass
der Rollstuhl im Hausflur über eine Steckdose geladen wird. Man verstehe
die Nöte der gehandycapten Bewohnerin, müsse aber auf die Brandgefahr eines
akkubetriebenen Gefährts hinweisen. Der Hausflur sei „erster Rettungsweg“.
Es sei abzuwägen, dass im Brandfall eine Vielzahl von Bewohnern unnötig in
Gefahr gebracht werden. So sei es im Schanzenviertel nach einem
Treppenhausbrand, der durch die Aufladung eines Rollers entstand, zu
Verletzten gekommen.
Schon im Vorweg der Anordnung wurden zwischen Ämtern und Hausverwaltung
Lösungen erörtert. Die Feuerwehr schlug eine feuerfeste Kiste vor, doch
dafür reicht der Platz im Flur nicht. Ursprünglich hatte Frau Radigk 2018
die Erlaubnis für eine Rollstuhlgarage auf dem Fußweg vor dem Haus. Doch
deren Bau wäre mit 7.000 Euro nicht nur teuer und bürokratisch aufwendig,
erinnert sich Radigk: „Ich sollte auch für Kampfmittelräumdienst zahlen und
immer alle Graffitis entfernen.“ Da habe sie es gelassen. Heute sei zudem
ihr Gesundheitszustand so, dass sie nicht lange genug stehen könne, um das
Gefährt aus so einer Garage zu holen.
Ihr Vorschlag war, eine feuerfeste Husse über den Rollstuhl zu legen.
Außerdem hatte Radigk schon bei der Anschaffung darauf geachtet, ein
Gefährt mit „Gel-Akkus“ zu nehmen. Die gelten, anders als die in vielen
E-Rollern verbauten Lithium-Ionen-Akkus, als sicherer. Das kam auch bei dem
Prozess um einen vergleichbaren Fall 2017 vor dem Amtsgericht Kassel zur
Sprache. „Eine Brandgefahr geht von richtig gewarteten Elektrorollstühlen
nicht aus“, sagte damals ein Sprecher der Herstellerfirma von Radigks
Rollstuhl der [3][Hessischen Niedersächsischen Allgemeinen]. Es handle sich
um Medizinprodukte mit „höchsten Sicherheitsstandards“.
Auch Radigk telefonierte mit Experten über „Gel-Akkus“, gab ihre Recherchen
an Bezirk und Parlament weiter. Sie sagt, von Behörden erhielt sie kaum
Hilfe, eine Stelle habe gesagt, sie solle ins Pflegeheim. „Da war ich
bedient.“
Persönlich zu ihr kam nur die Feuerwehr. „Die waren positiv überrascht,
dass ich diesen Gel-Akku habe.“ Außerdem stellten die Beamten fest, dass
der Stuhl den Fluchtweg nur geringfügig verstellt. Radigk schöpfte
Hoffnung. Doch für den Bezirk gilt der Stuhl weiter als Gefahr, er sei
selber „Brandlast“.
Anfang Mai sammelten Nachbarn Unterschriften. Alle Mieter schrieben dem
Eingabenausschuss, sie fühlten sich in keiner Weise durch den Rollstuhl
gestört und fürchteten auch nicht, dass sie bei einem Brand nicht fliehen
könnten. Selbst wenn es im Hausflur brennen sollte, könnte noch über den
Keller ausgewichen werden, der Ausgänge ins Freie hat.
## „Guter Wille“ ist da
Aber die Sache ist vertrackt. Die Feuerwehr verweist die taz auf einen
tragischen Treppenhausbrand in 2014, bei dem eine Mutter mit ihren zwei
Kindern starb. Von daher sei man bestrebt, sich für „möglichst sichere
Rettungswege einzusetzen“. „Es fehlt hier nicht an gutem Willen“, sagt au…
die Sprecherin des Bezirks, Sorina Weiland. Alle Beteiligten sähen die
Notwendigkeit, dass der Rollstuhl in der Nähe der Wohnung steht. Deshalb
würden weiter „Alternativen geprüft“.
Persönlich vermitteln in dem Fall würde Klaus Wicher, der Landesvorsitzende
des [4][Sozialverbands SoVD]. Das Argument mit der Brandlast scheine ihm so
stichhaltig nicht, sagt er. „Solange der Fluchtweg frei ist, sind unseres
Wissens nach Rollstühle in Fluren erlaubt.“ Man brauche schnell eine
Lösung, „damit die Frau weiter in ihrem Umfeld wohnen kann“.
Auf taz-Nachfrage ist auch [5][die Senatskoordinatorin für die
Gleichstellung von Menschen mit Behinderung] bereit, bei der Lösung zu
helfen. Und am Samstag sprach Radigk bei einem Wahlkampftermin den [6][für
den Bundestag kandidierenden] Droßmann an; der Bezirksamtsleiter sicherte
zu, bei der Rollstuhlfahrerin vorbeizukommen.
Radigk sagt, sie nehme das gerne an. „Ich hatte zuletzt das Gefühl, Hamburg
will mich nicht mehr.“
12 Jul 2021
## LINKS
[1] https://www.hamburgische-buergerschaft.de/eingaben/
[2] https://www.hamburg.de/mitte/bezirksamtsleitung
[3] https://www.hna.de/kassel/vermieter-verbietet-rollstuhlfahrerin-abstellen-i…
[4] https://www.sovd-hh.de/
[5] https://www.hamburg.de/skbm/
[6] https://www.drossmann.hamburg/?playlist=e5763af&video=cd079b0
## AUTOREN
Kaija Kutter
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