# taz.de -- Barrierefreies Wohnen: Schöne Worte kosten nichts | |
> Ein Rollstuhl fahrender Mieter kämpft für eine Rampe am Haus. Für den | |
> Vermieter scheint das ein Riesenproblem zu sein – für die Verwaltung | |
> auch. Warum? | |
Bild: Nicht barrierefrei: Der Hauseingang von Nicola Arsic in Berlin-Kreuzberg | |
Berlin taz | Dass es um die Barrierefreiheit in Berlin nicht allzu gut | |
bestellt ist, weiß Nicola Arsic aus eigener Erfahrung. In anderen Städten | |
sei man viel weiter, sagt der serbische Architekt, der im Rollstuhl sitzt. | |
„Hier kann ich nur an bestimmten U-Bahnhöfen ein- und aussteigen, weil es | |
nicht überall Aufzüge gibt.“ Auch öffentliche Gebäude seien oft mit | |
Barrieren ausgestattet, beim neuen BER etwa gebe es unnötige Stufen und | |
„lebensgefährliche“, da zu steile Rampen ohne Geländer. „Offensichtlich… | |
das Thema noch nicht bei allen Verantwortlichen in Politik und Verwaltung | |
angekommen“, sagt Arsics Ehemann Dennis Kuhlow. | |
Die Verbitterung, die aus den beiden spricht, ist verständlich. Seit mehr | |
als zwei Jahren kämpft das Paar darum, wenigstens im privaten Wohnumfeld | |
mehr Barrierefreiheit herzustellen – und bekommt es mit massiven | |
Widerständen zu tun. | |
Im Oktober 2020 zog Arsic in Kuhlows Wohnung im 10. Stock eines | |
70er-Jahre-Baus mit Aufzug in Kreuzberg, wo dieser schon mehrere Jahre | |
lebte. Allerdings ist der Hauseingang nur über sechs Stufen zu erreichen, | |
weshalb Arsic das Gebäude nicht allein betreten kann. Das Paar schlug daher | |
dem Vermieter, der landeseigenen Gewobag, die Installation einer Rampe vor. | |
Arsic selbst fertigte einen Plan nach allen Regeln deutscher | |
DIN-Sicherheitsnormen an, sein Mann besorgte beim Bezirksamt die Zusage, | |
die Kosten von rund 25.000 Euro zu übernehmen. | |
Doch die Gebowag wollte nicht. Erst reagierte man über Monate gar nicht auf | |
Kuhlows Briefe, dann lehnte man die Rampe ab: zu teuer, zu gefährlich, | |
unnötig. Daraufhin verklagten Arsic und Kuhlow ihren Vermieter – und | |
bekamen Recht. Der Bau einer Rampe sei kein „erheblicher Eingriff in die | |
Bausubstanz“, heißt es im Urteil des Amtsgerichts vom vorigen März – sie | |
stelle sogar eine „dauerhafte Wertverbesserung“ dar. | |
## Klarer Fall für den Richter | |
Auch die übrigen Argumente der Gegenseite zerpflückte der Richter: Ein | |
elektrischer Lift, den die Gewobag kurz vor dem Prozess als Alternative ins | |
Spiel gebracht hatte, sei nicht vorzuziehen, da solche Anlagen | |
reparaturanfällig seien. Nicht ersichtlich sei zudem, weshalb die Rampe die | |
Unfallgefahr erhöhen soll – schließlich entspreche sie den DIN-Normen für | |
barrierefreies Bauen. „Unsubstantiiert“, so der Richter, sei zudem der | |
„Vortrag der Beklagten, dass eine Rampe zu einer Erhöhung der Prämie der | |
Gebäudehaftpflichtversicherung oder der Kosten für den Winterdienst führen | |
könnte“. | |
Doch das Unternehmen, das in Berlin 74.000 Wohnungen sein Eigen nennt und | |
damit wirbt, „Die ganze Vielfalt Berlins“ zu repräsentieren, wollte immer | |
noch nicht – und ging in Berufung. Das war der Sachstand im Mai 2022, | |
[1][als die taz erstmals über den Fall berichtete]. | |
Seitdem haben Arsic und Kuhlow einen weiteren juristischen Sieg errungen: | |
Das Landgericht bestätigte am 11. November das Urteil des Amtsgerichts. | |
Einziger Unterschied: Die beiden müssten eine „Sicherheitsleistung“ von | |
5.000 Euro hinterlegen, damit die Rampe nach eventuellem späterem Auszug | |
wieder abgebaut werden kann. Am liebsten wäre die Gewobag in Revision | |
gegangen – doch das Landgericht ließ dies wegen des geringen Streitwerts | |
nicht zu. Das Urteil ist daher rechtskräftig. | |
Mit der Umsetzung ließ sich die Gewobag Zeit. Erst vorigen Donnerstag, | |
knapp zwei Monate nach dem Urteil, kam die Genehmigung mit der Post. | |
Allerdings versucht die Wohnungsbaugesellschaft in dem Schreiben, das der | |
taz vorliegt, jede Menge Vorgaben zu machen – verklausuliert als | |
„Hinweise“, die Kuhlow unterschreiben soll. Penibel auf einer ganzen Seite | |
aufgelistet ist jede Einzelheit, auf die beim Rampenbau zu achten sei und | |
für die Kuhlow Haftung übernehmen soll. Vorgeschrieben werden soll sogar, | |
einen Poller, der im Weg ist, „einzulagern und nach Rückbau der Rampe an | |
der ursprünglichen Stelle wieder einzubauen“. | |
## Klage auf Entschädigung | |
Seine Anwältin habe ihm geraten, das nicht zu unterschreiben, sagt Kuhlow, | |
die Genehmigung sei ihrer Auffassung nach auch ohne Unterschrift gültig. | |
„Wir werden die Rampe genauso bauen, wie es im Gerichtsurteil beschrieben | |
ist. Diese Bedingungen der Gewobag stehen nicht darin“, so Kuhlow. | |
Ohnehin sind er und sein Mann sauer, weil ihr Vermieter wieder so langsam | |
reagiert hat. Darum haben sie mit ihrem Anwalt eine Klage auf 5.000 Euro | |
Entschädigung wegen Diskriminierung durch fortgesetzte Untätigkeit | |
vorbereitet. „Offensichtlich setzt die Gewobag alles daran, die Sache | |
weiter aufzuschieben und uns hinzuhalten“, sagt Kuhlow. | |
Aber warum eigentlich? Warum diese Angst vor einem kleinen Projekt, das die | |
Eigentümer nicht einmal etwas kostet? Anhaltspunkte für eine Antwort | |
liefert eine Stellungnahme der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, die | |
der Petitionsausschuss angefordert hatte. Aus dem Schreiben vom Juli 2022 | |
wird nicht nur deutlich, dass die Senatsverwaltung – eigentlich das | |
Aufsichts- und Kontrollgremium der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften | |
– die Argumente der Gewobag ungeprüft übernimmt, obwohl sie vor Gericht | |
widerlegt wurden. Etwa dass ein Treppenlift „gleichtauglich“ mit einer | |
Rampe sei, wie die Senatsverwaltung behauptet. „Das zeigt, wie erschreckend | |
ahnungslos die Verwaltung in Punkto Barrierefreiheit ist“, sagt Kuhlow. | |
Eine Rampe sei nicht nur robuster sondern vor allem für die Allgemeinheit | |
nutzbar – ein elektrischer Lift nur für einzelne Schlüsselinhaber. | |
Die Stellungnahme zeigt auch, was Senat und Verwaltung grundsätzlich | |
befürchten: dass der gesetzliche Anspruch von Mieter:innen auf | |
barrierefreie Umbauten, der in [2][Paragraf 554 BGB] verankert ist, | |
letztlich dazu führt, dass Hauseigentümer nicht mehr allein über ihr | |
Eigentum verfügen dürfen. Sie können eben dazu gezwungen werden, ihnen | |
missliebige Umbauten zuzulassen. | |
## Für alle Wohnungsbestände relevant | |
„Es ist davon auszugehen“, so die Senatsverwaltung, „dass die | |
zugrundeliegende Rechtsfrage, wie weit der Anspruch des Mieters tatsächlich | |
die Dispositionsbefugnis des Eigentümers einschränken darf (…), in Zukunft | |
zunehmend für den Gesamtbestand der Gewobag AG, wie auch für die Bestände | |
der übrigen städtischen Wohnungsbaugesellschaften, relevant werden wird.“ | |
Auf Deutsch: Wo kommen wir hin, wenn Tausende Mieter:innen Umbauten | |
wegen Barrierefreiheit verlangen? Das Recht auf eine umfassend | |
barrierefreie Umwelt ergibt sich zwar aus der | |
[3][UN-Behindertenrechtskonvention], die Deutschland 2009 unterzeichnet | |
hat. Aber mit der [4][Umsetzung durch die Länder und Kommunen] hapert es | |
seither. Erst seit 2020 ist in Berlin vorgeschrieben, dass bei Neubauten 50 | |
Prozent der Wohnungen barrierefrei sein müssen. Und erst Anfang 2021 hat | |
der Senat einen Maßnahmenplan 2020–2025 zur Umsetzung der Konvention | |
verabschiedet. Zum Thema Wohnen steht dort vage: „Ziel ist die | |
Bereitstellung von mehr barrierefreien Wohnungen“. | |
Auch die Gewobag betont gegenüber der taz, „dass wir als landeseigenes | |
Wohnungsbauunternehmen zu unserer sozialen Verantwortung stehen und unsere | |
MieterInnen dabei unterstützen, einen barrierefreien Zugang zur Wohnung zu | |
erhalten“. | |
Die Realität sieht offenbar anders aus, wie auch das folgende Beispiel | |
zeigt. Am Magdeburger Platz ist die Gewobag Eigentümerin eines Wohnhauses | |
von 1972 mit 88 kleinen Einraumwohnungen und Gemeinschaftsräumen. Es ist | |
kein offizielles Seniorenwohnhaus, aber bis heute laut Gabriele Hulitschke | |
von der Quartiersentwicklung Tiergarten Süd mehrheitlich an ältere Menschen | |
vermietet. Viele Mieter:innen seien in ihrer Mobilität eingeschränkt, | |
teils auf Hilfsmittel wie Rollatoren angewiesen. | |
„Aber das Haus ist nicht barrierefrei zugänglich, denn der Lift beginnt | |
erst halbe Treppe“, erklärt Hulitschke. Die Mieter:innen hätten sich | |
daher seit 2020 für die Installation einer Rampe stark gemacht und | |
entsprechende Briefe an die Gewobag geschrieben, auch mithilfe von | |
Hulitschke. „Bisher gibt es leider kein Gesprächsangebot des Vermieters“, | |
bedauert sie. | |
10 Jan 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Barrierefreies-Wohnen-in-Berlin/!5855756 | |
[2] https://www.gesetze-im-internet.de/bgb/__554.html | |
[3] /UN-Behindertenrechtskonvention/!5579449 | |
[4] /Rueckschrittliche-Verordnung/!5303619 | |
## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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