# taz.de -- Elternschaft von Frauen mit Behinderung: Viola Schneider ist schwan… | |
> Menschen mit Behinderung haben wie alle ein Recht auf Elternschaft. Nicht | |
> immer erfahren sie so viel Unterstützung wie Viola Schneider. | |
Bild: Für Frauen mit einer Behinderung gibt es in ganz Deutschland nur einen G… | |
Den entscheidenden Impuls gab ihre Gynäkologin. „Sie haben doch einen | |
Kinderwunsch“, sagte sie. „Verzichten Sie nicht darauf, Sie bekommen das | |
auf jeden Fall hin.“ Dann erinnerte die Gynäkologin Viola Schneider daran, | |
dass sie bald 35 sei und es nicht einfacher werde. Viola Schneider, die | |
anders heißt, hat viele Freundinnen ohne Gehbehinderung, die ihre Kinder | |
heben, tragen, hinter ihnen herrennen und mit ihnen Fahrrad fahren können. | |
Sie selbst hat eine spastische Diparese in beiden Beinen. | |
Sie kann laufen, wenn auch nicht ganz sicher. „Zu Hause komme ich super | |
zurecht, aber sobald ich draußen bin, ändert sich das“, sagt Schneider. | |
Manchmal braucht sie im Alltag Hilfe. Zum Beispiel, wenn es bei einer | |
Veranstaltung ein Buffet gibt, dann muss jemand ihren Teller tragen. „Ich | |
war lange überzeugt, dass ich es nicht schaffe, mich um ein Kind zu | |
kümmern, wenn ich schon solche kleinen Sachen nicht alleine machen kann“, | |
sagt sie. | |
## Atemübungen zu Jazzmusik | |
Jetzt sitzt Schneider im Geburtsvorbereitungskurs von Pro Familia in | |
Frankfurt/Main und macht Atemübungen zu Jazzmusik. Es ist der einzige Kurs | |
in Deutschland, der sich speziell an werdende Eltern mit Körper- oder | |
Sinnesbehinderung oder mit Lernschwierigkeiten richtet. Auf dem Tisch | |
liegen Schokobonbons und Salzbrezeln, Buntstifte und ein Anatomieatlas. | |
„Jetzt einatmen und sich vorstellen, dass der Atem bis ins Becken fließt“, | |
sagt Susanne Bell. | |
Seit zwölf Jahren leitet die ausgebildete Peer-Beraterin den Kurs zusammen | |
mit ihrer Kollegin Hannelore Sonnleitner-Doll. Hier geht es um | |
Geburtspositionen und Wehen ebenso wie um Assistenzanträge und Termine beim | |
Amt. Das Ziel der Kursleiterinnen: Die werdenden Eltern in ihren | |
Kompetenzen zu stärken und ihnen das Selbstbewusstsein mitzugeben, das sie | |
draußen brauchen. | |
## Du schaffst das auch! | |
Wie alle Menschen haben auch Menschen mit Behinderung das Recht darauf, | |
eine Familie zu gründen, [1][selbst zu entscheiden, ob sie Kinder haben | |
möchten], wie viele und zu welchem Zeitpunkt. So steht es in der | |
UN-Behindertenrechtskonvention. Immer mehr Menschen mit Behinderung machen | |
von ihrem Recht auf selbstbestimmte Elternschaft Gebrauch. Viola Schneider | |
ist inzwischen im neunten Monat schwanger. | |
Sie wurde in den vergangenen Jahren von Menschen begleitet, die ihr Mut | |
zusprachen: Die Arbeitskollegin, die im Rollstuhl sitzt und deren Tochter | |
inzwischen sieben Jahre alt ist. „Schau mich an!“, sagte sie. „Wenn ich es | |
schaffe, schaffst du das auch!“ Und ihr Partner Philipp, der nie daran | |
zweifelte, mit ihr eine Familie gründen zu wollen. Ihm haben die | |
Kursleiterinnen einen zehn Kilogramm schweren Babybauch umgebunden, „um ein | |
Gefühl für das zusätzliche Gewicht zu bekommen“. | |
Philipp Schneider ist zwei Köpfe größer als seine Frau, trägt zurückgegelte | |
Haare und wie sie eine Brille mit eckigen Gläsern. Meistens lässt er seine | |
Frau für sie beide sprechen. Dabei legt er eine Hand auf ihre Jeans oder | |
streicht ihr über den Rücken. | |
## Es lief super, solange sie saß | |
Nicht immer war Viola Schneiders Umfeld ermutigend. Eigentlich, sagt sie, | |
habe sie sich immer „so ein richtig klassisches Familienleben“ gewünscht, | |
„mit Heiraten und am liebsten mit fünf Kindern“. Aber dann waren da die | |
Begegnungen in der Disko, als Jugendliche. Es lief super, solange sie saß. | |
Wenn sie aufstand, waren die Flirts schnell vorbei. In ihren Zwanzigern | |
erklärten ihr die Männer, dass sie eine tolle Frau sei, sie aber nicht | |
wüssten, wie sie „damit“ umgehen sollen. „Und dann kamst du“, flüster… | |
ihrem Mann zu. | |
Leise Zweifel bleiben trotzdem: „Ich sehe bei meinen Freundinnen, wie | |
schnell sie ihre Kinder heben und tragen, das wird bei mir nicht so sein.“ | |
Susanne Bell kann diese Gedanken gut nachfühlen. Mit ihren Eltern ist sie | |
Kanu gefahren und zelten gegangen. Mit ihrer Tochter konnte sie diese Dinge | |
kaum teilen. Seit einem Unfall sitzt sie im Rollstuhl. „Ihr Kind lernt auch | |
mit dem Onkel oder einer Freundin das Fahrrad fahren“, sagt Bell. „Und Sie | |
sind die Mama, daran ändert sich nichts.“ | |
## Ärzt*innen und Hebammen müssen mehr wissen | |
Als Bell mit ihrer Tochter schwanger war, gab es noch keinen | |
Geburtsvorbereitungskurs für Eltern mit Behinderung. Die Informationen | |
suchte sie sich im Internet und der Bibliothek zusammen. Zum Vorgespräch in | |
der Klinik brachte sie eine Dissertation zu Geburten bei | |
Querschnittslähmung mit. | |
Seit zwei Jahren liegt für Situationen wie ihre eine medizinische Leitlinie | |
vor – vor allem dank des Engagements von Betroffenenverbänden, wie Bell | |
weiß. „Ich würde mir wünschen, dass ähnliche Leitlinien auch für Gebäre… | |
mit Muskelkrankheiten und anderen körperlichen Behinderungen erstellt | |
werden“, sagt Bell. „Die Ärzt*innen und Hebammen müssen mehr über unsere | |
Behinderungen wissen.“ | |
## Die meisten Praxen sind nicht barrierefrei | |
Zugleich brauchen Menschen mit Uterus Zugang zu gynäkologischen Praxen. | |
Seit 1998 bietet Co-Kursleiterin und Ärztin Sonnleitner-Doll eine | |
gynäkologische Sprechstunde für Frauen mit Behinderung an. Mit einer extra | |
breiten Liege, der barrierefreien Toilette und dem absenkbaren | |
gynäkologischen Stuhl ist ihr Behandlungszimmer eher die Ausnahme als die | |
Regel. Aussagekräftige Zahlen gibt es nicht, fest steht aber, dass die | |
meisten Praxen nicht barrierefrei sind. Und dann möchte man auch gern in | |
einer Praxis sein, in der man sich wohlfühlt. | |
Mit solchen Problemen befasst sich auch Katharina Holl, die beim Netzwerk | |
behinderter Frauen Berlin arbeitet, einer Organisation von und für Frauen | |
mit Behinderung. Holl ist selbst Mutter. Von der Sprechstundenhilfe bekam | |
sie einst zu hören, dass sie an ihrer Stelle kein Kind bekommen würde. „Man | |
muss leider davon ausgehen, dass ich kein Einzelfall bin“, sagt Holl. | |
## Hoffentlich sieht das nicht doof aus | |
In Frankfurt möchten die Kursleiterinnen heute noch einmal wiederholen, | |
worauf man beim Stillen achten muss. „Erst wird die eine Brust leergesaugt, | |
das Baby gewickelt, dann die zweite Brust angesaugt, um die Milchproduktion | |
anzuregen“, sagt Sonnleitner-Doll. „Beim nächsten Mal umgekehrt. Und zur | |
Erinnerung ein Haargummi an die Hand der leeren Brust.“ Die beiden Frauen | |
helfen den Schwangeren dabei, individuelle Lösungen zu finden, die für ihre | |
Bedarfe passen. Zum Beispiel, den richtigen Ort zum Wickeln zu finden. „Ich | |
glaube, ich werde auf dem Sofa wickeln“, sagt Schneider. Da können weder | |
sie noch das Baby herunter fallen. | |
Die werdenden Eltern haben auch einen regulären Geburtsvorbereitungskurs | |
besucht. Als „etwas einschüchternd“ empfand ihn Viola Schneider. „Bei den | |
Übungen dachte ich schon, oh Mann, hoffentlich sieht das bei mir nicht doof | |
aus.“ | |
## Der Antrag für Elternassistenz | |
Bell und Sonnleitner-Doll besprechen mit ihren Teilnehmenden auch mögliche | |
Unterstützungsleistungen. Ab April, wenn die Elternzeit von Herrn Schneider | |
vorbei ist, möchte das Paar eine einfache Elternassistenz in Anspruch | |
nehmen. Sie richtet sich an Eltern, die Assistent*innen selbst anleiten | |
können. Bei der qualifizierten Assistenz, die beispielsweise von Eltern mit | |
Lernschwierigkeiten genutzt und auch „begleitete Elternschaft“ genannt | |
wird, haben die Assistent*innen zusätzlich pädagogische Befugnisse. | |
Den Antrag für ihre Elternassistenz hat Viola Schneider vor drei Wochen | |
eingereicht. Sie ist optimistisch, dass alles klappt. Zu recht, meint | |
Kerstin Blochberger, Geschäftsführerin des Bundesverbands behinderter und | |
chronisch kranker Eltern. Seit der Umsetzung des entsprechenden Passus im | |
[2][Bundesteilhabegesetz] im Jahr 2020 würden viel mehr Anträge positiv | |
entschieden, sagt sie. | |
## Behinderung durch Behörden | |
An den Bundesverband wenden sich viele Eltern, weil es sehr lange dauert, | |
bis die Anträge bearbeitet werden. Oder weil sie Schwierigkeiten haben, | |
Assistent*innen zu finden, insbesondere wenn nur der Mindestlohn | |
bewilligt wurde. Und dann stellt sich die Frage, ob die von den Eltern | |
dargestellten Bedarfe auch von den zuständigen Ämtern so gesehen werden. | |
„Wie hoch der Unterstützungsbedarf eingeschätzt wird, hängt vor allem davon | |
ab, welchen Sachbearbeiter man erwischt“, berichtet Katharina Holl aus | |
Berlin. „Das liegt an fehlender Qualifikation.“ Noch immer wüssten nicht | |
alle Mitarbeiter*innen in den Ämtern, dass es die Möglichkeit der | |
Elternassistenz gebe. Insbesondere für Eltern mit Lernschwierigkeiten oder | |
psychischen Erkrankungen kämen teilweise noch Probleme mit dem Jugendamt | |
hinzu. „Anstatt die Möglichkeiten einer begleiteten Elternschaft zu nutzen, | |
gibt es Fälle, in denen Kinder vom Jugendamt aus den Familien genommen | |
werden“, sagt Holl. „De facto werden Eltern mit Behinderung immer wieder | |
daran gehindert, ihr geltendes Recht auf aktive Elternschaft zu leben.“ | |
## Die Tasche fürs Krankenhaus ist gepackt | |
Dennoch: Die Entwicklungen gehen in eine gute Richtung, findet Kerstin | |
Blochberger. In jedem Landkreis gebe es inzwischen eine unabhängige | |
Teilhabeberatungsstelle, die Eltern bei der Antragstellung unterstützt. | |
Auch die Einstellungen der Mehrheitsgesellschaft hätten sich geändert. Vor | |
20 Jahren sei es noch üblich gewesen, dass körperbehinderten Mädchen | |
erklärt wurde, sie müssten gut in der Schule sein, weil später niemand für | |
sie sorgen würde. „So wachsen die Kinder heute nicht mehr auf“, sagt | |
Blochberger. | |
Zum Kursabschluss in Frankfurt werden Bewegungsübungen gemacht. Die | |
Teilnehmenden sollen die Hände auf den Bauch legen und das Becken hin- und | |
herwiegen. „Bald bist du da, gell?“, flüstert Schneider, und streicht sich | |
über den Bauch. Für den 2. Januar ist der Kaiserschnitt terminiert. Das | |
Kinderzimmer hat das zukünftige Elternpaar schon eingerichtet, die Tasche | |
fürs Krankenhaus ist gepackt. Viola Schneider ist bereit. | |
25 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
Franziska Schindler | |
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