# taz.de -- Der Hausbesuch: Er hat in Fantasiewelten gelebt | |
> Such dir ein Hobby, das für deine Behinderung „angemessen“ ist – das h… | |
> Johannes Bruckmeier als Kind. Heute skatet er mit Blindenstock. | |
Bild: Seit 4 Jahren fährt Johannes Bruckmeier Skateboard, ziemlich gut sogar | |
Er dachte lange, er müsse der Größte sein, müsse Geschichten erfinden, um | |
von anderen geliebt zu werden. Zu Besuch bei Johannes Bruckmeier in | |
Nürnberg. | |
Draußen: Vielgeschossige Hochhäuser stehen im Carré um einen grünen | |
Innenhof der Nürnberger Wohnsiedlung. Die Abendsonne scheint auf den Balkon | |
von Johannes Bruckmeier, von unten sind spielende Kinder zu hören. | |
Drinnen: In der Wohnung steht nicht viel herum. An den Wänden hängt ein | |
Pokémon-Plakat, im Wohnzimmer gibt es eine Pflanze, einen Fernseher, eine | |
E-Gitarre. In einer Schranktür aus Glas ist ein Loch. Im Regal liegt | |
„Asterix bei den Olympischen Spielen“. Bruckmeier kommt gerade von der | |
Arbeit, er ist Physiotherapeut. „Mein Wohnzimmer ist aber eigentlich die | |
Straße“, sagt er. Dort wo er skaten kann, mit seinem Blindenstock. | |
Erinnerungen: Seine frühsten Erinnerungen sind die beim Augenarzt. Seine | |
Mutter weint. Der Arzt sagt, damit er sich nicht überall stoße, solle man | |
ihm lieber einen Helm aufsetzen oder ihn durch die Gegend tragen, denn er | |
werde niemals richtig sehen können. Der Grund: Retinitis Pigmentosa. Eine | |
Augenerkrankung, die irgendwann zur kompletten Erblindung führt. Das hat | |
Bruckmeier damals nicht verstanden. Er versteht nur, dass seine Mutter | |
seinetwegen weint. So kamen die Schuldgefühle. „Für das was ich meinen | |
Eltern antat.“ | |
Wut: Bruckmeier wurde ein wütendes Kind. Im Internat für Sehbehinderte sei | |
er gemobbt und geschlagen worden. Er zeigt eine Narbe: „Da hat mir jemand | |
eine Tür vor den Schädel geknallt.“ Irgendwann habe er begonnen, auf Gewalt | |
mit Gegengewalt zu reagieren. „Ich war der Bully und ich habe mich auch | |
bemüht, diesen Ruf bis zur 10. Klasse zu halten.“ So habe er seine Ruhe | |
gehabt. | |
Autoritätsproblem: „Mit meinen Lehrern kam ich nicht zurecht“, sagt | |
Bruckmeier. Er habe ein Autoritätsproblem entwickelt, alle Grenzen | |
ausgereizt. „Ich durfte ja nichts machen, weil ich mich verletzen konnte.“ | |
Bruckmeier kann oder will nicht ruhig sein, wird mit [1][ADHS] | |
diagnostiziert. Dann wird ihm gesagt, er solle sich eine | |
Freizeitbeschäftigung suchen, die „angemessen“ ist „für einen Blinden�… | |
ärgert ihn. | |
Deswegen begegnet er seinen Lehrern und der Welt mit dieser Einstellung: | |
„Du willst mir was sagen? Mal schauen, wie viel du mir wirklich sagen | |
kannst.“ Je mehr er sich gegen die Lehrer stellt, desto mehr wird ihm | |
gezeigt, wie wenig er über sich selbst bestimmen kann. „Mein Problem ist | |
nicht meine Behinderung, sondern wie mit mir umgegangen wurde“, sagt er. | |
Wie alle anderen: Eigentlich wollte er sein wie alle anderen, aber die Welt | |
habe ihm gezeigt, dass er nicht wie alle anderen ist. Oder er hat sich | |
eingeredet, dass die Welt ihm dies zeige. Er könne das heute nicht mehr | |
unterscheiden, sagt Bruckmeier. Verwirrte Jugendliche nähmen ihre Umwelt | |
manchmal anders wahr, als sie in der Realität ist. | |
Lügen: „Dieser Gedanke, dass mich niemand mögen kann, weil ich behindert | |
bin, war lange da.“ Er dachte, dass er nur glücklich wird, wenn andere ihn | |
mögen würden. Also fängt er an, seinen Mitschülern Lügengeschichten zu | |
erzählen, die ihn in seiner Vorstellung zu einem besseren Johannes | |
Bruckmeier machen. Was er an den Wochenenden alles erlebt habe. Dass er mit | |
seiner Band Gigs hatte und er ein „krasser“ Musiker sei. Oder dass er mit | |
seiner Eishockeymannschaft Erfolge gefeiert habe. Es ist nicht so, dass er | |
sich alles ausdenkt. | |
Er spielte E-Gitarre. Lauten Metallsound, schnelle Technik mit einem | |
Plektrum, das so groß ist wie ein Türstopper. Und er spielte trotz seiner | |
Sehbehinderung auch Eishockey. „Aber halt nicht krass.“ In Wirklichkeit war | |
er mit seinem Vater unterwegs. Sie machten Ausflüge, gingen auf Burgen oder | |
Eis essen. Zu Hause hatte er keine Freunde. | |
Fantasiewelten: „Ich habe in Fantasiewelten gelebt.“ Die echten Geschichten | |
erzählte er nicht, „weil ich mich damit nicht identifizieren wollte“. Dass | |
er beispielsweise als Nachwuchstalent im Kugelstoßen gegolten habe und | |
deswegen zu den Paralympics, nach London gefahren sei. Dass er im Biathlon | |
den Deutschen Meistertitel geholt habe. Diese wahren Geschichten erzählte | |
er nicht. „Ich habe das ja nicht gemacht, weil mir das Spaß gemacht hat, | |
sondern weil meine Aggression irgendwohin musste.“ | |
Wertschätzen: „Wenn ich so drüber nachdenke, hätte ich das früher viel me… | |
wertschätzen müssen“, sagt Bruckmeier. Die Jugend, die Teenagerzeit. „Es | |
hätte so schön sein können“, wenn er nicht so ein „kleiner, frustrierter | |
Jugendlicher“ gewesen wäre. Er erzählt von seiner Zeit als Eishockeytrainer | |
mit 18 und wie er mal eine Fernbeziehung hatte in Rostock, wo er 19 Stunden | |
lang mit Regionalzügen hingefahren ist. Damals wohnte er noch in der Nähe | |
von Salzburg. | |
Das erste Skateboard: 2018 betritt Bruckmeier, mit 23 Jahren, einen | |
Skateshop. Von seiner Sportlichkeit ist nicht mehr viel übrig. Er wiegt 140 | |
Kilogramm und hat Liebeskummer, der Frust, der sich schon seit Kindheit | |
anhäufte, war auf dem Zenit. „Ich habe mir gedacht: Leckt mich doch alle am | |
Arsch. Ich mach jetzt, was ich will!“ „Ein Skateboard bitte“, sagte er zu | |
dem Verkäufer. „Für wen?“, fragte der. „Für mich.“ „Einen Helm daz… | |
„Nein.“ | |
Flüchten: Sein ganzes Leben habe er sich in Rollen geflüchtet. Der „krasse�… | |
Musiker oder Eishockeyspieler, was er nicht alles Tolles machte. Skaten, | |
sagt er, hat es ihm ermöglicht, sich eine Fantasie nicht nur | |
zusammenzuspinnen, sondern sie auch wirklich zu leben. | |
Wohlfühlen: Er lernt schnell. Nimmt im ersten Jahr über 40 Kilogramm ab. Es | |
kamen Menschen in sein Leben, die ihn nicht nur auf seine Behinderung | |
reduzieren, die in ihm einfach so einen „coolen Typen“ sehen. Und so begann | |
er, sich langsam wohlzufühlen. Mittlerweile skatet Bruckmeier an vielen | |
Orten in Europa, er war in Maribor, in Innsbruck, in Frankfurt und Köln, er | |
wurde nach Bergamo eingeladen und hat Sponsoren. | |
Treppen: Und offenbar ist er gut. Er springt Treppen runter. Dafür muss er | |
sich erst mal mehrere Stunden mit dem „Spot“ beschäftigen: Er stellt eine | |
Bluetooth-Box mit Musik auf, die ihm Orientierung gibt. Da wo die Musik am | |
lautesten ist, springt er ab. „Stürze“, sagt er, „seien wichtig, um einen | |
Ort kennenzulernen“. | |
Dieses eine Mädel: Seine Lügen allerdings habe er dennoch nicht in den | |
Griff bekommen. Er sagt, er hat sich die Erzählungen selbst geglaubt. Das | |
habe sich tief in seinem Leben verankert, er, der tolle Hecht, er, der | |
Star, der alles kann. Das ging so lange gut, bis er vergangenes Frühjahr | |
„dieses eine Mädel“ kennenlernt. Ab da erzählt er die Geschichten nicht | |
mehr. „Da hatte ich das erste Mal in meinem Leben das Gefühl, dass ich | |
einfach so sein kann, wie ich bin.“ Sie werden ein Paar, für vier | |
„intensive“ Monate. Am Ende geht es schief, weil er doch nicht der ist, der | |
er glaubt zu sein. | |
Komfortzone: Sie fahren zusammen nach Amsterdam. Bruckmeier, der nur etwas | |
sehen kann, wenn es nicht zu hell oder dunkel ist, und dann auch nur 30 | |
Zentimeter vor der Nasenspitze und in einem Umfang, als würde man durch | |
einen Strohhalm schauen, hat ein Problem, weil ihm Amsterdam fremd ist. | |
Kontrolle hat er nur an „Orten, an denen ich mich auskenne“. Orte, wo er | |
seine Behinderung kaschieren kann. | |
Das geht nicht in Amsterdam, einer fremden Stadt in einem fremden Land, wo | |
eine Sprache gesprochen wird, die er nicht versteht. „Jetzt merkt sie, dass | |
ich behindert bin“, habe er sich gedacht. Und dann hat er sich verstellt. | |
„Ich hab so getan, als sei ich der Geilste, der rumläuft“, erzählt er, �… | |
meine Unzulänglichkeiten zu kaschieren.“ Er wird unauthentisch. Das hält | |
an, bis sie wieder in Nürnberg sind. Sie sprechen nicht darüber. Und | |
trennen sich. | |
Liebeskummer: Er flüchtet sich ins Skaten. Bei einem Contest bricht er sich | |
den Arm. Er schlitterte über eine nasse Plastikplane, mit Absicht, | |
mehrmals, die Menge feierte ihn dafür, er „ächzte“ nach dem Applaus und d… | |
Anerkennung – und fällt. Im Krankenhaus wird ihm klar, dass er etwas ändern | |
muss. Er verlässt die Klinik, besucht Freunde, die er belogen hatte, | |
erzählt ihnen die Wahrheit. Dass viele Geschichten nicht stimmen, dass er | |
ein „x-beliebiger Typ“ ist, der keine Freunde hatte, bis er 16 war. Sie | |
verzeihen ihm. „Das war das erste Mal, dass ich richtig glücklich war.“ | |
Zukunft: Jetzt schaut er nach vorne. Er gibt Workshops und versucht, andere | |
Blinde zum Skaten zu bringen. Viele gibt es nicht. Mit Freunden aus den USA | |
setzt er sich dafür ein, dass Skaten bei den [2][Paralympics] als Sportart | |
zugelassen wird. Er hat akzeptiert, sagt er, dass es für andere nicht | |
normal ist, wenn er als Blinder, jetzt mit Stock, auf sein Brett steigt. | |
„Ich habe aber vielleicht die Chance, dazu beizutragen, dass es für die | |
nächste Generation normal wird.“ | |
21 Aug 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Diagnose-ADHS/!5870761 | |
[2] /Speerwerferin-bei-den-Paralympics/!5792389 | |
## AUTOREN | |
Clemens Sarholz | |
## TAGS | |
Der Hausbesuch | |
Blinde Menschen | |
Skateboard | |
Schwangerschaft | |
Der Hausbesuch | |
Der Hausbesuch | |
Der Hausbesuch | |
Der Hausbesuch | |
Der Hausbesuch | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Elternschaft von Frauen mit Behinderung: Viola Schneider ist schwanger | |
Menschen mit Behinderung haben wie alle ein Recht auf Elternschaft. Nicht | |
immer erfahren sie so viel Unterstützung wie Viola Schneider. | |
Der Hausbesuch: Das Zweitliebste tun | |
Acht Jahre dauerte Bayan Alkhatibs Flucht von Syrien nach Deutschland. Seit | |
gut einem Jahr ist sie endlich wieder mit ihrer Familie vereint. | |
Der Hausbesuch: Er macht nicht, was andere erwarten | |
Als Schüler peppt Stephan Griese Flohmarktfunde zu Partyoutfits auf. Dann | |
macht er sich als Designer selbstständig – bis er umdenken muss. | |
Der Hausbesuch: Sie hat an sich gar nicht gedacht | |
Ihren Vater verehrt Adelgund Mahler sehr. Er war Künstler, hatte | |
Ausstellungsverbot unter den Nazis. Sie tut alles, damit er nicht vergessen | |
wird. | |
Der Hausbesuch: „Wir waren doch immer barfuß“ | |
Kinderarbeit im Schwarzwald – Dieter Knöbel war einer dieser Hirtenbuben, | |
die sich von klein auf verdingen mussten. Seitdem arbeitet er unermüdlich. | |
Der Hausbesuch: Mit dem Faden verwoben | |
In ihrem Holzener Haus beherbergt Birgit Götz ein Webatelier. Sie verbindet | |
als Handweberin die Techniken des Handwerks mit Heilpädagogik. |