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# taz.de -- Der Hausbesuch: Das Zweitliebste tun
> Acht Jahre dauerte Bayan Alkhatibs Flucht von Syrien nach Deutschland.
> Seit gut einem Jahr ist sie endlich wieder mit ihrer Familie vereint.
Bild: Bayan Alkhatib ist endlich wieder mit den Menschen vereint, die sie liebt
Nur noch ein paar Wochen, dann hat Bayan Alkhatib ihren Bachelorabschluss
in Betriebswirtschaftslehre. Dann kann sie endlich richtig ankommen.
Draußen: Überall die gleichen Wohngebäude. Früher das Zuhause für
Siemensmitarbeiter und -mitarbeiterinnen, heute eine ruhige Gegend im
Westen Berlins. Gestutzte Hecken vor beigen Fassaden. Dahinter das
Privatleben, in Gärten, auf Spielplätzen und Balkonen. „Hier leben
hauptsächlich alte Leute“, sagt Bayan Alkhatib. Sie wohnt seit eineinhalb
Jahren in Siemensstadt.
Drinnen:Im Flur das Katzenklo, säuberlich angeordnete Schuhe, Türen zu den
abgehenden Zimmern. Eines für ihre Mutter Raghda und den jüngsten Bruder
Abdullah, ein weiteres teilen sich die zwei Brüder Ahmad und Mohammad. Nur
Bayan, die mit 24 Jahren die Älteste ist, hat ein eigenes Zimmer. Ein
schmales Bett steht darin, darauf ein weißer Teddy mit hängenden Schultern.
Auf dem Schreibtisch liegen Filzstifte, nach Farben sortiert. Barfuß geht
Bayan ins Wohnzimmer. Die Katze springt auf die graue Couch, die auf einen
großen Fernseher ausgerichtet ist. Auf dem Esstisch liegt ein Koran. Vor
der Fensterfront rauscht ein großer Baum im Wind. In der Wohnung ist es
ruhig. Die Brüder seien in der Moschee, die Mutter beim Einkaufen, sagt
Bayan. Sie setzt sich auf die Couch und legt eine Hand in die andere.
Das Zweitliebste: Sie trägt eine schwarze Brille, einen beige Hidschab und
hat einen melodisch englischen Akzent. Sie studiert online
Betriebswirtschaftslehre an der University of America. Ein Leitspruch in
Bayans Leben: Man soll sich beim Beruf für das entscheiden, was man am
zweitliebsten macht. Was sie am liebsten mag? Malen. Auch ihre Mutter malt.
Ein Bild von ihr lehnt an der Wohnzimmercouch. Sie haben es bisher nicht
geschafft, es aufzuhängen, sagt Bayan. Die Familie sei noch dabei, sich
einzurichten. An Syrien und den Libanon erinnert kaum etwas.
Deutschland: Am 21. April 2021 kam Bayan Alkhatib nach Berlin. Als sie am
ersten Morgen auf den Balkon trat, konnte sie es nicht glauben: keine
Zäune, kein Stacheldraht, keine Einschusslöcher wie im Flüchtlingscamp im
Libanon, wo sie jahrelang lebte. „Es ist ein Segen, den Himmel zu sehen“,
sagte sie ihrer Mutter. Etwas mehr als ein Jahr später lehnt Bayan am
Geländer. Kunstrasen ist auf dem Balkon ausgelegt, ein Einkaufstrolley
hängt an der Wand.
Altbauten: „Im Nahen Osten denkt man, die USA und Deutschland sind das
Gleiche. Dann kommt man hierher und alles ist anders“, sagt Bayan. Keine
Highways, nicht nur verglaste Gebäude, sondern auch Altbauten.
Die Flucht: Sie wächst in Jarmuk auf, einem Stadtteil von Damaskus. Ihr
Vater wird von der Regierung bedroht. Als Bayan 14 ist, flieht die Familie
in den benachbarten Libanon: „Von Syrien wegzugehen war ein Drama.“ Bayan
reibt ihre Daumenspitzen aneinander. Ihr Vater erreicht 2015 Deutschland.
Frau und Kinder will er nachholen, doch kurz darauf unterbricht die
Bundesregierung den Familiennachzug. Als wieder Angehörige nach Deutschland
kommen dürfen, ist Bayan schon 18 Jahre alt. Als Volljährige gilt sie
offiziell nicht mehr als Teil der Kernfamilie, wird ihr gesagt.
Unterbrechung: Es klingelt schrill, Bayans Mutter ist vom Einkauf zurück.
Kurz darauf serviert sie auf einem silbernen Tablett „Mamas Kuchen“ und
gezuckerten Kamillentee.
In der Luft hängen: Im September 2019 packt die Familie bis auf Bayan ihre
Koffer und reist zum Vater nach Deutschland. Ein Jahr lang leben sie in
einem Hotel, bis sie eine Wohnung finden. Im Winter sehen sie das erste Mal
in ihrem Leben Schnee. Sie sei in den Innenhof gegangen und habe sich in
den Schnee gelegt, erzählt die Mutter Raghda Abo Zamel am Küchentisch.
Allein im Lager: Bayan zurückzulassen sei die schlimmste Entscheidung ihres
Lebens gewesen, sagt die Mutter. Eine junge Frau alleine in einem
Flüchtlingscamp. Ein Nachbar sollte auf sie aufpassen. „Ich hatte große
Angst“, sagt Bayan über diese Zeit. Mittlerweile sind auch die Brüder aus
der Moschee zurück, sie verschwinden in ihre Zimmer. Nur der zweitälteste,
Ahmad, setzt sich im Schneidersitz auf einen Stuhl dazu.
Wieder zusammen: „Ich habe es nicht mehr geglaubt“, sagt Bayan. Eineinhalb
Jahre nachdem ihre Mutter mit den Brüdern den Libanon verlassen hat,
bekommt sie den Bescheid, dass sie ihrer Familie nachreisen kann. „Es war
verdammt viel Papierkram“, erzählt sie. Eine Organisation hilft ihnen, sie
bürgt auch finanziell für die Familie. Bayan steigt in den Flieger. Eine
Frau übersetzt ihr die deutschen Ansagen ins Englische. Am Ausgang warten
ihre Mutter und ihr Vater und ihre Brüder. Die seien größer geworden. „In
eineinhalb Jahren verändert sich viel.“ Nun leben sie wieder gemeinsam an
einem Ort, allerdings hat sich die Mutter inzwischen vom Vater getrennt.
Das war hart, sagt Bayan, aber man gewöhne sich daran, wie an alles im
Leben.
Bildung: Das Ankommen sei ihr schwergefallen, sagt Bayan. Sie studierte
weiter. Die bestmögliche Bildung für ihre Kinder war ihrer Mutter immer am
wichtigsten. „Sie hat hier eine Zukunft“, sagt Raghda über ihre Tochter.
Sie selbst ist Lehrerin, der Vater Anästhesist. Dass er jetzt als
Altenpfleger Nachtschichten machen müsse, findet Bayans ältester Bruder
Ahmad unfair. Seine Eltern hätten 25 Jahre Arbeitserfahrung „für nichts“,
sagt er. Er selbst hat Chemie studiert, jetzt lernt er Gabelstaplerfahren.
Auf dem Küchentisch liegen Deutschbücher. Darin stehen Dinge wie: „Rahim
weiß nicht, wie ein Bewerbungsgespräch abläuft“, „Regale auffüllen“ o…
„3.000 Liter Farbe bestellen“. Raghda schüttelt den Kopf: „Es ist eine
Katastrophe“, sagt sie. Sie wolle doch keine Handwerkerin sein.
Einsamkeit: Nach der Ankunft in Deutschland sind ihre Brüder ihre besten
Freunde geworden, sagt Bayan. Aber auch das Für-sich-Sein habe sie in
Berlin gelernt. Manchmal spaziert sie allein durch den nahegelegenen Park.
Die Bewohner:innen im Haus seien nicht sehr kontaktfreudig, eher
höflich und distanziert. Anschluss findet die Familie am ehesten in den
Deutschkursen, für Bayan der einzige Kontakt in der neuen Stadt. Langsam
kann sie sich mit den Kursteilnehmenden austauschen, die alle eine andere
Sprache sprechen.
Anstrengung: Bayan läuft durch die Küche, der Boden ist grauweiß meliert,
die Küchentischplatte ein Marmorimitat. In einem Topf brodelt eine
Joghurtsuppe. Ihre Mutter diskutiert mit dem ältesten Bruder, der im
Türrahmen lehnt. In sieben Jahren könnten sie eingebürgert werden, in fünf,
wenn sie niemals Geld vom Staat benötigen und schnell Deutsch lernen. „Du
musst dich anstrengen“, sagt Ahmad zu seiner Mutter.
Zukunft: Oft werde sie gefragt, ob sie nach Syrien zurück möchte, erzählt
Bayan. Sie verneint dann. Ein Zuhause sei Deutschland noch nicht, aber das
sei auch egal. Sie ist bei den Menschen, die sie liebt. Der Park liegt um
die Ecke. Sie kann den klaren Himmel sehen. Ende des Monats wird sie ihr
Studium abschließen. Sie will in einem Unternehmen arbeiten und dort später
eine Leitungsposition übernehmen, eine „Boss Lady“ sein, sagt sie. Wie ihre
Mentorin im Studium – eine Finanzmanagerin mit Kind und Mann, „eine Person,
bei der man denkt, sie hat alles“.
10 Sep 2022
## AUTOREN
Ann Esswein
## TAGS
Der Hausbesuch
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