Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Der Hausbesuch: Sie hat schon lange keine Angst mehr
> Anastasia Gulejs Leben ist eine Jahrhundertbiografie. Die 97-Jährige
> trägt die Narben der ukrainischen Geschichte in sich.
Bild: „Man muss weiterleben. Das ist der Widerstand. Das ist jetzt meine Aufg…
Es sei okay, sagt Anastasia Gulej, dass es ausgerechnet Deutschland ist, wo
sie Zuflucht gefunden hat.
Draußen: Eine Einfamilienhaussiedlung in Bad Kösen bei Bad Naumburg in
Sachsen-Anhalt. Vor dem Haus, wo die 97-jährige Anastasia Gulej mit ihrer
Tochter Valentina in einer Einliegerwohnung im Souterrain lebt, ist das
Gras verdorrt.
Drinnen: Hinter der Eingangstür liegt die kleine Wohnküche mit Sofa,
Küchenzeile, Tisch, darauf ein Blumenstrauß. Es sind fremder Leute Dinge.
Gulej und ihre Tochter haben, sagen sie, nichts Persönliches aus der
Ukraine mitgebracht. „Wir dachten, es ist für eine Woche.“ Aber doch,
jemand ist da, den sie nicht zurückgelassen haben in ihrem Haus bei Kiew:
Puschinka – das Federchen, eine Katze. Die versteckt sich gerade.
Was sie sieht: Mit ihrem Rollator wandert Anastasia Gulej mitunter die
Straße entlang. Sie sieht die grünen ordentlichen Rasen und Blumen in
Töpfen. „In der Ukraine sind die Gärten wild, die Blumen ziehen wir
selbst.“ Ihr Garten fehlt ihr, und eingelegte Gurken nach ihrem Rezept. Die
Gurken hat sie bekommen, aber sie braucht noch Meerrettichblätter,
Johannisbeerblätter, Kirschblätter und Kräuter dafür. Wenn sie in einem
Garten ein Kraut sieht, das ihr fehlt, fragt sie danach. Die Leute geben es
ihr gern.
Flucht 2022: Als die Russen am 24. Februar die Ukraine angreifen, denkt
Gulej nicht an Flucht. Sie sucht bei Alarm Zuflucht im Keller. Es gibt
Fotos davon. Brot habe sie keins, aber Brei habe sie genug, hat sie gesagt.
Und dass sie vor nichts Angst habe, lange nicht mehr. „[1][Ich habe Hitler
überlebt], Stalin überlebt und dieses Arschloch Putin werde ich auch
überleben!“ Anastasia Gulejs Kinder wollen, dass sie flieht, aber sie
sträubt sich. Bis sie Raketen an ihrem Haus vorbeifliegen sieht. Die
treffen den nahen Flughafen, und Gulej versteht, dass der Keller nicht
schützt. Mit Sohn und Tochter macht sie sich im März auf den Weg. Beim
ersten Versuch kommen sie nicht aus Kiew raus. Beim zweiten schaffen sie es
nach Lwiw. Dann eine strapaziöse Weiterfahrt zu einem Freund in Magdeburg.
Die Heimat: Anastasia Gulej wird 1925 in Poltawa in der Ukraine geboren –
damals Sowjetunion. Sie hat drei Brüder, ihr Vater ist Lehrer. Als Kind
erlebt sie die Hungersnot und den stalinistischen Terror. Verwandte werden
erschossen oder deportiert, die Großeltern, es sind Kulaken, Bauern, werden
bei der Zwangskollektivierung enteignet und hausen fortan in einer
Erdhöhle. Nur heimlich können sie zu ihren Eltern kommen. Sie lernt,
hungernd zu teilen und sich für andere einzusetzen.
Haltung: Als ihr kränklicher Bruder 1939 zwangsweise in den Finnlandkrieg
geschickt wird, setzt Gulej sich auch für ihn ein. 13 Jahre ist sie alt und
schreibt einen Brief an die Sowjetführung. Die Anrede: „Guten Tag, Genossen
Stalin, Molotow, Kaganowitsch, Woroschilow und übriges Gesindel!“ Sie
fragt, warum sie den Krieg angefangen haben und warum junge Menschen
deswegen sterben sollen. Der Brief sei nie in Moskau angekommen, wohl aber
wurde die Familie fortan überwacht.
Die Glückskarte: Einmal kreuzt sie als Teenager bei einem Spiel bei der
Frage, was sie von der Zukunft erwartet, die Nummer Drei an. Als sie die
Karte mit der Drei aufdeckt, steht darauf: „Eine Reise ins Ausland.“ Es ist
wie ein Orakel. Anastasia Gulej will Sprachen lernen, Philologie studieren,
Länder bereisen. Sie denkt, es wird die Reise nach Moskau zum Studium sein.
1941, sie ist schon auf dem Weg, da besetzen die Deutschen im Zweiten
Weltkrieg die Ukraine. Sie muss umkehren.
Zwangsarbeit: Erst zerschnitt der Krieg Gulejs Brüdern den Lebensweg, weil
sie eingezogen wurden. Dann trifft es sie. Weil die Nazis nicht genug
Menschen finden, die sich freiwillig zur Arbeit in Deutschland melden,
werden ab April 1943 vor allem junge Frauen dazu gezwungen. 17 Jahre ist
Anastasia Gulej alt, als sie in einen Transport gesteckt werden soll.
„Meine Brüder kämpften gegen die Deutschen. Weshalb sollte ich für sie
arbeiten?“
Flucht 1943: Sie sieht schon den mit Stacheldraht umzäunten Sammelplatz, da
nutzt sie einen unbeobachteten Moment und haut ab. Zwei Wochen schlägt
Gulej sich durch bis nach Hause. Jemand muss sie gesehen haben, bald wird
sie von drei Männern wieder abgeholt. Dieses Mal ist an Flucht nicht zu
denken. Gulej wird zur Zwangsarbeit nach Schlesien verschleppt, muss in
Katowice Schlacke von Bahnwaggons laden. Den Plan zu fliehen gibt sie nicht
auf. Zusammen mit vier Kameradinnen tut sie es an einem Regentag im
September 1943. Sie schlägt sich 300 Kilometer nach Osten durch, und wird
wieder gefangen. Dieses Mal kommt sie nach Auschwitz. Ihr wird die Nummer
61369 eintätowiert, der rote Winkel angeheftet. Sie, eine Politische.
Im KZ: Erst muss Gulej Gräben ausheben in Birkenau, dann erfährt sie, dass
es landwirtschaftliche Außenlager gibt und erzählt dem Kapo absichtlich,
sie käme aus der Landwirtschaft. Es klappt und sie kommt eine Zeitlang in
ein Kommando, das sich um die Kartoffelzucht kümmert. Unbeobachtet isst sie
sie roh. Auch muss sie die Felder düngen. Sie stellt fest, dass sie es mit
Asche von verbrannten Menschen tut. Ihre Arbeit – eine fortwährende
Beerdigung.
Der Todesmarsch: Im Januar 1945 wird sie auf einen der Todesmärsche
geschickt. Viele Kilometer bei Eiseskälte schleppen sich die Menschen
dahin. Zwischendurch werden sie in einen offenen Viehwaggon voller Schnee
gepfercht. Gulej ist krank, hat Gelbsucht, schafft es nach Buchenwald, und
wird weiter getrieben nach Bergen-Belsen, wo sie noch Typhus bekommt.
Draußen vor den Baracken reichen die Leichenberge bis zu den Dächern.
Drinnen kaum atmende Skelette, die Menschen sein sollen. Eine von ihnen:
Anastasia Gulej. Und doch, sie lebt, als die britische Armee das Lager
befreit.
Erzählen: Sie hat das schon so oft erzählt, es gibt jetzt ein Buch, in dem
alles steht. Man solle ihr lieber einfache Fragen stellen, sagt Gulej. Wie
es war, als sie zurückkam in ihr Heimatdorf? „Man lebt. Man hält sich am
Alltag fest.“ Ihre Mutter wollte ihr etwas Leckeres kochen. „Nein Mama,
koch mir nichts Besonderes, koch mir viel“, habe sie gesagt.
Neues Leben: Gulej holt das Abitur nach, studiert Forstwirtschaft; das sei
populär gewesen. Nach dem Studium soll sie ins Altai-Gebirge geschickt
werden. Da will sie nicht hin. Ihr Kommilitone, der um sie wirbt, soll nach
Moldau. Sie heiraten und bekommen drei Kinder. „Das war Freude, war Glück.
Das Leben geht immer weiter.“ In Moldau ist sie zuständig für
Aufforstungsprojekte. Sie muss die Logistik machen, Leute finden, die
freiwillig in der Pflanzzeit mithelfen. Walnüsse und Ahorn waren die
Hauptbaumarten. „Das Blätterrauschen ist Musik, wenn die jungen Bäume im
Frühling austreiben.“ Hosen zieht sie bei der Arbeit nie an. Sie reitet
auch im Rock. Als ihr Mann in Kiew eine Arbeit bekommt, gehen sie zurück in
die Ukraine. Dort baut sie mit Helfern ihr Haus.
Trauma: Moldau hatte in den 1930er-Jahren „nicht die schlimme Zeit der
Zwangskollektivierung“, sagt sie. Als sie dort lebte, „wurde das
nachgeholt“. In Moldau erlebte sie die stalinistischen Enteignungen. „Ich
habe gesehen, wie ganze Familien verschleppt wurden.“ Sie kann es kaum
aushalten. Es ist eine Retraumatisierung. „Aber was soll man machen? Soll
ich trinken? Soll ich mich ins Bett legen und nichts mehr tun? Man muss
weiterleben. Das ist der Widerstand. Das ist jetzt meine Aufgabe:
Weiterleben.“ Sie hat es schon einmal getan.
Anastasia Gulejs Biografie in Buchform erhältlich über [2][die
Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt].
4 Sep 2022
## LINKS
[1] /Tagebuch-aus-der-Ukraine-und-dem-Exil/!5838852
[2] https://lpb.sachsen-anhalt.de/service/literaturangebot/
## AUTOREN
Ljuba Danylenko
Waltraud Schwab
## TAGS
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Der Hausbesuch
Ukraine
Stalin
IG
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Der Hausbesuch
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Der Hausbesuch
Der Hausbesuch
Der Hausbesuch
Der Hausbesuch
## ARTIKEL ZUM THEMA
Regisseur über Trauma auf der Bühne: „Das Theater kann Nicht-Erinnertes sic…
Ein Projekt am Hamburger Thalia widmet sich dem Trauma des Heimatverlusts.
Grundlage ist Christiane Hoffmanns Buch „Alles, was wir nicht erinnern“.
Spuren des Zweiten Weltkriegs: Krieg, der in den Frieden ragt
Seit 1945 ist Frieden in Deutschland, doch der Krieg blieb gegenwärtig.
Vier Erinnerungen von taz-Autor*innen.
Der Hausbesuch: Klopfen wie ein Weltmeister
Heidelore Rutz wurde in der DDR inhaftiert, weil sie für ihre Ausreise
demonstrierte. Die BRD kaufte sie frei. Die Erfahrungen sind ihr
Verpflichtung.
Politologe über Putins Psychospiele: „Angst ist eine Kriegswaffe“
Krieg, Gasnot, Atomdrohung: Viele Leute haben gerade Angst. Der Politologe
Jan-Werner Müller sagt, Furcht zuzulassen, mache Demokratien stark.
Der Hausbesuch: Das Zweitliebste tun
Acht Jahre dauerte Bayan Alkhatibs Flucht von Syrien nach Deutschland. Seit
gut einem Jahr ist sie endlich wieder mit ihrer Familie vereint.
Der Hausbesuch: Sie hat an sich gar nicht gedacht
Ihren Vater verehrt Adelgund Mahler sehr. Er war Künstler, hatte
Ausstellungsverbot unter den Nazis. Sie tut alles, damit er nicht vergessen
wird.
Der Hausbesuch: „Wir waren doch immer barfuß“
Kinderarbeit im Schwarzwald – Dieter Knöbel war einer dieser Hirtenbuben,
die sich von klein auf verdingen mussten. Seitdem arbeitet er unermüdlich.
Hausbesuch bei Künstler Waleed Ibrahim: „Familien hier sind oft verstreut“
Er ist Kurde und wächst in Rojava auf. Er studiert in Damaskus, sucht sein
Glück in Dubai – und landet in Willich, einer Kleinstadt am Niederrhein.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.