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# taz.de -- Der Hausbesuch: Klopfen wie ein Weltmeister
> Heidelore Rutz wurde in der DDR inhaftiert, weil sie für ihre Ausreise
> demonstrierte. Die BRD kaufte sie frei. Die Erfahrungen sind ihr
> Verpflichtung.
Bild: Hat sich in der BRD ein neues Leben aufgebaut: Heidelore Rutz
Zäsuren gibt es im Leben vieler Menschen. Dass sie in der DDR im Gefängnis
saß, dass sie Flüchtling war, das sind die Einschnitte im Leben von
Heidelore Rutz.
Draußen: „Vogelsang“ heißt die Straße in der Einfamilienhaussiedlung in
Potsdam. Zur Mittagszeit ist Taubengegurre zu hören. Vor Rutz’ Garten
dürfen Wildblumen wachsen. „Das sieht ja wie in Polen aus“, habe eine
Bekannte aus der Orientalischen-Tanz-Gruppe gerufen, als sie mal zu Besuch
kam.
Drinnen: Ein Nebeneinander von alten und neuen Möbeln zieht sich durchs
Erdgeschoss. Erbstücke sind darunter, die der Familie zugeschickt wurden,
nachdem sie 1984 von der Bundesregierung freigekauft worden war. „Wir
hatten Glück“, sagt Rutz, bei anderen hätte das nicht so geklappt. Auf dem
Sofa liegt das Buch „Unrast“ von Olga Tokarczuk. Darin ein Kapitel, das
beschreibt, dass die Eltern der Autorin einmal im Jahr verreisten, weil sie
dachten, es tun zu müssen. Für die Mutter von Heidelore Rutz stimmte das
nicht, als sie 1945 floh. Und für die Familie Rutz stimmte es in den 80er
Jahren auch nicht. Sie wollten weg, weg aus der DDR.
Flüchtlingskind: Rutz ist 1945 in Hinterpommern geboren, heute Polen. Ihre
Mutter ist mit ihr und den zwei älteren Töchtern kurz vor Kriegsende
Richtung Westen geflohen. Der Vater ist vermisst. „Ich bin in einem
Frauenhaushalt aufgewachsen.“ Ein Mann im Haus fehlte ihr nie. Manchmal
überlege sie, was es bedeute, wenn alle Vorbilder Frauen sind. Etwa bei
lesbischen Paaren, die ein Kind haben. Sie kann nichts finden, was
dagegenspricht.
Ins Leben gehen: Sie wird erst Krankenschwester, macht dann auf der
Abendschule Abitur und geht auf eine Schule für Krippenleitung. In
Brandenburg arbeitet sie später in diesem Beruf. Mit 21 lernt sie ihren
Mann Dietrich kennen, bekommt zwei Söhne. Der Mann hat eine Vision.
Die Vision: Ihr Mann will in den Westen. „Ich war eigentlich zufrieden. Ich
wäre nicht umgezogen.“ Aber wenn man miteinander spreche und Pläne mache,
dann reife das. Heidelore Rutz ist ganz klar: Wenn sie sich zu etwas
entschlossen habe, ziehe sie es durch. „Uns störte sehr, dass es keine
Meinungsfreiheit gab.“ Sie nennt die DDR einen paranoiden Staat. Zu viele
ungebildete Leute hatten das Sagen.
Ausreiseanträge: Anfang der 80er Jahre stellten Dietrich und Heidelore Rutz
für sich und ihre zwei Söhne Ausreiseanträge. Der erste wird abgelehnt, der
zweite ebenso. Dietrich Rutz ist Arzt, er könne auch in der DDR
praktizieren, sei gesagt worden. Da erfuhren sie von anderen
Ausreisewilligen, die sich im Sommer 1983 an Samstagen in Jena in weißer
Kleidung im Kreis auf den Platz der Kosmonauten stellten. Schweigend. 198
Leute waren beim ersten Mal da. Sie blieben unbehelligt.
Nach dem Urlaub: Nach dem Protest fuhr die Familie in die Ferien. Auf dem
Rückweg kamen sie an Jena vorbei, gerade rechtzeitig zum schweigenden
Protest. Wieder stellten sie sich auf den Platz. Die zwei Söhne mit dabei.
Die Leute, die neben ihnen standen, fassten sie an den Händen und drückten
fest zu. „Sie müssen mich doch nicht so festhalten“, habe sie zu denen
gesagt. Sie verstehe die Angst, aber wehtun müsse man ihr nicht.
Verhaftet: Was Heidelore Rutz nicht ahnte: Die, die sie festhielten, waren
Stasileute. Sie, ihr Mann, überhaupt alle 48, die gekommen waren, wurden
weggezerrt, verhaftet; Rutz saß fünf Monate in Untersuchungshaft in der
Lindenstraße in Potsdam, wusste drei Wochen lang nicht, wo ihre Kinder
sind.
Warten: „Die Situation ist surreal. Es kann nicht wahr sein, Man kann es
nicht fassen. Die Kinder weg. Der Mann weg. Ich dachte, gleich geht die Tür
auf und ich kann gehen.“ Noch glaubte sie an ein Missverständnis. „Ich
hatte doch nichts gemacht.“ Dann stellte sie fest, dass die das ernst
meinen. Wochenlang wartete sie in der U-Haft, „der Vernehmer ist im
Urlaub“, sei immer gesagt worden. Nur mit ihrem Mann kann sie im Gefängnis
doch kommunizieren – indirekt: Sie lacht sehr schrill und laut auf in ihrer
Zelle und er hustet ein paar Zellen entfernt, ebenso laut, zurück. Immerhin
wussten sie so: Sie sind da, sind am Leben.
Klopfzeichen: Überhaupt kommunizieren. Kaum saß sie in der Zelle, hörte sie
rhythmisches Klopfen und begriff schnell. Auch sie will sich mitteilen,
klopft 38-mal gegen die Wand – soll heißen: „Ich bin 38 Jahre alt.“ Es w…
verstanden. Dann wird zurückgeklopft: 14-mal, Pause, 1-mal, Pause, 15-mal,
Pause, 5-mal. Es dauerte, bis sie verstand: N-A-M-E. Die Zahlen stehen für
die Buchstaben im Alphabet. Danach gab es für sie kein Halten. Sie
„spricht“ mit denen in der Zelle nebenan, denen unter ihr, denen diagonal.
„Die klopft wie ein Weltmeister“, habe ein Wachmann gesagt. Schon da wusste
sie: „Wenn ich über diese Odyssee je ein Buch schreibe, soll es
‚Klopfzeichen‘ heißen.“ Das Buch gibt es. Noch heute zähle sie mit, wenn
jemand nervös auf den Tisch klopft.
Urteil: Nach fünf Monaten kam das Urteil, das, so Rutz, ohnehin von Anfang
an festgestanden habe. Sie bekommt 15 Monate Gefängnis, ihr Mann 18 Monate.
Weil er die Kinder in Gefahr gebracht habe, sagte die Richterin. „Sie sind
diejenige, die die Kinder in Gefahr bringt“, habe sie geschrien.
Hoheneck: Im Dezember 1983 wird Rutz nach Hoheneck gebracht – das
Frauengefängnis, das bei Stollberg im Erzgebirge auf einer Anhöhe steht.
Ein gigantischer kalter Bau. Sie kommt in Zelle Nummer 54, eine für zwölf
Frauen, die zu einem Waschraum mit zwei Klos führte. Auf der anderen Seite
eine Tür zu einer weiteren Zelle. Zwei Klos für 24 Frauen. Das Gefängnis
war brachial überbelegt.
Zwangsarbeit: In Hoheneck wurde im Drei-Schicht-Betrieb Bettwäsche genäht
und Feinstrumpfhosen gefertigt für westdeutsche Supermarktketten und
Warenhäuser. Fließbandarbeit, Akkordarbeit, unter miserablen Bedingungen,
mit miserabler Verpflegung, mit mangelndem Arbeitsschutz. Rutz musste drei
Schichten arbeiten, obwohl sie chronisch krank ist. Verweigerung wurde
bestraft. Quelle, Otto, Neckermann, Aldi, Kaufhof – alle profitierten von
der billigen Knastware und die DDR kassierte dafür Devisen. Zwangsarbeit
war es, sagen manche. Die Forderung an die westdeutschen Firmen, in einen
Entschädigungsfonds einzuzahlen, trifft bisher auf wenig Resonanz
Mai 1984: Eines Tages wird sie aus ihrer Zelle gerufen; sie wird verlegt,
nach Karl-Marx-Stadt. „Man wusste ja nichts.“ Und dann nach drei Wochen
plötzlich die Aufforderung, das Gebäude zu verlassen. „Da war der Westbus
vor der Tür“, sagt sie. „Das war herrlich. Das war spontan. Das war
unfassbare Freude.“ Sie wurde von der Bundesregierung freigekauft. Im Bus
habe sie nicht gewusst, wo sie sich hinsetzen solle. „Setzen Sie sich hin,
wo Sie sich hinsetzen wollen“, habe man ihr gesagt. „So etwas hatte man
innerhalb eines Jahres verlernt“, sagt Rutz. Der DDR-Rechtsanwalt Wolfgang
Vogel, der die Freikäufe für die BRD organisierte, habe die Freigekauften
im Bus gebeten, nicht zu winken. „Da hatte doch keiner Lust drauf. Alle
saßen da. Umarmten sich. Weinten.“ Nur dass die Kinder nicht da waren, habe
geschmerzt. „Sie kommen in zwei Monaten, hat Vogel gesagt.“
Im Westen: Sie und ihr Mann haben sich in der BRD ein neues Leben
aufgebaut. Er wird Chefarzt, die Söhne können aufs Gymnasium und studieren;
sie schulte um in den medizinisch-technischen Bereich und machte noch eine
Ausbildung in Akupunkturmassage. Bis heute praktiziert sie. „Das
Eingewöhnen in der BRD war leicht; man musste nicht mehr auf Jagd nach
Gurken gehen.“ Nach der Rente zogen sie nach Potsdam. Jahrelang hat sie
Flüchtlingsarbeit gemacht in ihrem Kirchenkreis. Schon in den 90er Jahren,
als der Jugoslawienkrieg war. „Weil ich weiß, was es bedeutet, Flüchtling
zu sein“, sagt sie.
Flashback: Manchmal passiert es, dass die Weltlage, wie jetzt, sie an ihre
Gefängniserfahrungen erinnert. „Dann leidet man mit.“ Diktatoren, meint
sie, ähnelten sich. „Man hofft immer, dass sie krank werden, es mit ihnen
zu Ende geht, aber so ist es nicht.“ Neulich feierte sie Geburtstag;
anstatt Geschenke sammelte sie für die Ukraine. 1.500 Euro kamen zusammen.
„’ne tolle Summe.“ Der gelb-blau ummantelte Schuhkarton mit dem Schlitz
steht noch auf dem Schrank.
26 Sep 2022
## AUTOREN
Waltraud Schwab
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Der Hausbesuch
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