| # taz.de -- Der Hausbesuch: Sie hat an sich gar nicht gedacht | |
| > Ihren Vater verehrt Adelgund Mahler sehr. Er war Künstler, hatte | |
| > Ausstellungsverbot unter den Nazis. Sie tut alles, damit er nicht | |
| > vergessen wird. | |
| Bild: Adelgund Mahler im Wintergarten. An der Wand Silhouetten eines Torfsteche… | |
| Bei Adelgund Mahler gibt es von allem viel. Viele Bilder. Viel Nippes. | |
| Viele Blumen und Vögel. Viele Erinnerungen. Und viel zu tun. | |
| Draußen: An der Ravensburger Straße in Bad Wurzach im Allgäu steht, | |
| versteckt hinter Sträuchern, ein 120 Jahre altes zweistöckiges Anwesen. Es | |
| ist das [1][Sepp-Mahler-Haus], ein Kulturdenkmal, das dort findet, wer es | |
| sucht. Wer zwischen dem Gebüsch hindurchlugt, bekommt eine Ahnung von der | |
| Schönheit des hinter dem Gebäude liegenden Gartens. | |
| Drinnen: Da ist verwirrende Vielfalt. Zu jedem Ding, vom Briefkasten über | |
| die Möbel bis zum Wichtigsten, den Bildern, die überall hängen, gibt es | |
| eine Geschichte. Nichts ist nur Dekoration, alles ist Teil des Lebens von | |
| drei Menschen: dem Vagabunden, Anstreicher, Künstler und Autor Sepp Mahler, | |
| dessen Frau Gertrud und deren Tochter Adelgund. Mitunter blitzt sogar etwas | |
| durch, das mit dem Vater von Sepp Mahler zu tun hat. Der war Torfmeister | |
| des „Fürstlich Waldburg-Wurzach’schen Torfwerks Oberried“ und hat das Ha… | |
| einst bauen lassen. | |
| Die Bewahrerin: Seit dem Tod der Eltern ist einzig die 1944 geborene | |
| Adelgund Mahler da, um das Vermächtnis der Vorfahren weiterzutragen. Wer | |
| etwas aus ihrem Leben wissen will, bekommt eine kurze Antwort zu sich und | |
| eine lange zur Familie, vor allem zum Vater. Denn den verehrt sie sehr. | |
| Gefragt etwa, wie sie ihren Vornamen finde, antwortet sie: „Er gefällt mir. | |
| Der Vater meiner Mutter sagte immer: ‚Jeder Mensch, der auf die Welt kommt, | |
| ist geadelt‘ – und mein Vater war begeistert.“ | |
| Vorfahren: Ihr Vater sei gerne Familienmensch geworden, meint Adelgund | |
| Mahler. „Es war wie ein Ankommen für ihn.“ Und das mitten im Krieg. Davor | |
| sei so viel Aufbruch gewesen, so viel Herumziehen, so viele Verwerfungen. | |
| „Schon dass er im Leprosenhaus zur Welt kam, ist ein Zeichen“, sagt die | |
| Tochter. Ins Bad Wurzacher Leprosenhaus wurden zwischen dem 14. und 18. | |
| Jahrhundert Seuchenkranke gebracht. Es gab in Sepp Mahlers Geburtsjahr 1901 | |
| aber keine Leprakranken mehr. | |
| Die Großeltern: Im Leprosenhaus wohnte die Familie des Großvaters, des | |
| Torfmeisters. Der soll ein Freigeist gewesen sein, Luft-und-Sonne-Fan, | |
| Vegetarier (seither isst niemand in der Familie mehr Fleisch). Mit seinem | |
| Sohn Sepp sei er oft nackt durch das Moor gewandert, aber die „Schlangen im | |
| Moor hat er nie getötet“. Die Großmutter, eine Großbauerntochter, dagegen | |
| war „Kirchgängerin“, kühl, stolz, streng, wenngleich weitgereist. Sie | |
| habe ihren Sohn gern in steife Anzüge gesteckt. Mit 14 sei der dann | |
| abgehauen, zu Fuß nach München. Dort machte er eine | |
| „Dekorationsmalerlehre“. Später studierte er an der Kunstakademie in | |
| Stuttgart. | |
| Das Zuhause: Um ihr eigenes Leben macht Adelgund Mahler kein Aufhebens. Es | |
| verlief gradlinig, meint sie. „Im Einklang“ mit der Umgebung, da, in Bad | |
| Wurzach. Im Gegensatz zu ihr habe der Vater viel erlebt. Als „Anstreicher“ | |
| habe er nie gearbeitet, wohl aber als Torfstecher, als Kirchenmaler, als | |
| Hilfsarbeiter. „Und immer gezeichnet, gemalt dabei.“ Seine Bilder sind | |
| poetisch-realistisch, sozialkritisch, in eher düsteren Farben, manchmal | |
| auch überzeichnet, wie bei Zille, Dix, Munch. „Munch hat er verehrt.“ Sepp | |
| Mahler hätte bekannt werden können; er hatte im Jahr 1924 Zeichnungen an | |
| Herwarth Walden in Berlin geschickt, der die Galerie „Der Sturm“ führte. | |
| Dort wurden sie neben denen von Chagall, Klee, Feininger, Kokoschka | |
| gezeigt. | |
| Der Vagabund: Wäre der Vater 40 Jahre jünger gewesen, Adelgund Mahler kann | |
| sich vorstellen, er wäre ein Hippie geworden. Denn ab 1924 zieht Sepp | |
| Mahler durch Europa und den Orient. Er tritt als Moritatensänger auf, | |
| arbeitet auf Fischkuttern, als Tagelöhner, Fremdenführer, Holzfäller, | |
| Wasserverkäufer, Eselstreiber. Er malt und schreibt. 1929 bittet ihn seine | |
| mittlerweile verwitwete Mutter aber doch, zurückzukommen; und er tut’s. | |
| Anfang der 30er Jahre hat er Ausstellungen in Stuttgart und Berlin und | |
| veröffentlicht Texte und Gedichte im Magazin Der Vagabund. Dann kommen die | |
| Nazis und zerschlagen alles, die Kunst, die Literatur, die Lebenswege. Sepp | |
| Mahler wird verhaftet, sitzt für nichts 46 Tage im Gefängnis, seine Bilder | |
| seien entartet. Zehn Jahre hat er Ausstellungsverbot „und überhaupt kein | |
| Einkommen“, sagt seine Tochter. | |
| Die Liebe: Sepp Mahler wird von den Nazis 1941 zwangsrekrutiert. Er muss | |
| russische Kriegsgefangene in Hinterpommern bewachen. „Das hat ihn seelisch | |
| fertig gemacht“, sagt Adelgund Mahler. „Dass er denen Dinge wegnehmen | |
| sollte. Dass er gesehen hat, wie sie hungern.“ Nach einem Jahr war er ein | |
| Wrack, wurde kriegsgeschädigt entlassen, zu Hause wieder aufgepäppelt von | |
| einer Kunsterzieherin aus Stuttgart, die, als Mahler im Krieg war, das Haus | |
| versorgte. Dann taucht deren Cousine auf, und die Liebe schlägt zu. 1943 | |
| wird geheiratet, 1944 kommt die Tochter zur Welt. Was für ein Glück in all | |
| dem Unglück der Zeit! Als die französische Armee im Jahr darauf nach Bad | |
| Wurzach kommt, quartiert sie sich im Mahler-Haus ein. Die Familie muss es | |
| verlassen. „Die haben aber nichts kaputt gemacht.“ Nur zwei Fahrräder und | |
| die Geige ihrer Mutter seien mitgenommen worden. Bald nachdem sie wieder | |
| zurückdürfen, müssen sie Flüchtlinge aus dem Osten aufnehmen. Sie, | |
| Adelgund, hat es nicht gestört. „Ich hatte eine wunderbare Kindheit.“ | |
| Die Schule der Mädchen: Schwierig wird es, als sie aufs Gymnasium will. In | |
| Bad Wurzach dürfen nur Jungen auf die weiterführende Schule. Sie muss nach | |
| Ravensburg. Morgens um viertel vor sechs geht der Arbeiterbus, mit dem sie | |
| mitfahren kann. Nach dem Abitur 1966 studiert sie auf Lehramt in München. | |
| „Aber ich habe schnell gemerkt, dass das nichts für mich ist.“ Sie wechselt | |
| zu Kunstgeschichte. Nach acht Semestern bricht sie ab. „Es hat mich | |
| gelangweilt. Gotik hauptsächlich, einer hat es auch mit der Rennaissance | |
| wichtig gehabt. Moderne Kunst kam nicht vor.“ Ihre Eltern legen ihr keine | |
| Steine in den Weg. „Du musst nicht tun, was dir nicht behagt, hat mein | |
| Vater gesagt.“ Sie geht zurück nach Bad Wurzach und beginnt, sich um das | |
| Werk ihres Vaters zu kümmern. Vor allem nach dessen Tod 1975. „Ich habe an | |
| mich gar nicht gedacht.“ | |
| Dennoch: Auch sie hat ihre Geschichte: „Ich war einmal verlobt. Mit dem | |
| Herrn Professor.“ Aber dann merkten die beiden, dass das nichts ist. Bei | |
| ihm seien die Möbel rumgestanden, um abgestaubt zu werden, nicht um sie zu | |
| nutzen. „Da mussten wir uns wieder entloben.“ Manchmal allerdings habe sie | |
| schon das Gefühl, zu kurz gekommen zu sein. „Aber ich kann doch froh sein. | |
| Ich hab ein Haus, auch wenn es kostet. Ich hätte gern mehr musiziert.“ Sie | |
| spielte Geige im Münchner Studentenorchester. „Mein Vater spielte auch | |
| Geige. Die ist ihm auf der Wanderschaft in einen Abgrund gefallen.“ | |
| Die Nachlassverwalterin: Nach dem Tod von Sepp Mahler ordnet Adelgund das | |
| Werk ihres Vaters, das mehr als 5.000 Bilder umfasst. Mitunter verkaufen | |
| sie und ihre Mutter ein Gemälde; davon leben sie. Die Bilder sind wertvoll. | |
| Adelgund Mahler arbeitet Ausstellungen und Katalogen zu, sie transkribiert | |
| das schriftstellerische Werk des Vaters, pflegt und erhält Haus und | |
| Garten. „Ich hab nicht nur einen Nachlass, ich habe drei.“ Den | |
| künstlerischen und schriftlerischen meines Vater, aber auch die | |
| Sozialgeschichte der Torfstecherei. Zuletzt pflegt die Tochter auch die | |
| Mutter; die stirbt 2009 mit 99 Jahren. „Ich habe die Verantwortung für | |
| meine Familie innerlich gespürt; ich bin ja auch so erzogen worden.“ | |
| Verantwortung: „Wir haben es nicht so mit den Heiligen“, sagt Mahler. Aber | |
| die Bewahrung der Schöpfung ist der Familie wichtig. Deshalb dieser Garten, | |
| wo sie alles tut, damit Insekten und Vögel etwas zu fressen finden. Und das | |
| Haus haben sie und ihre Mutter schon nach der Atomreaktorkatastrophe von | |
| Tschernobyl mit Sonnenkollektoren bestückt. „Tschernobyl war eine Zäsur; | |
| wir haben handeln müssen.“ Für warmes Wasser zogen sie Rohre hinter | |
| schwarzer Folie auf der Hausfassade entlang. „Man muss eigene Energie | |
| einsetzen, wenn man Energie sparen will. Denkenergie, Körperenergie.“ | |
| Die Aussicht: Mittlerweile jedoch wächst Adelgund Mahler die Verantwortung | |
| über den Kopf. Solange das Haus aber ein privates Museum ist, bekommt sie | |
| keine öffentlichen Gelder. Sie hofft, dass eine Kultureinrichtung das Haus | |
| übernimmt, damit es als Museum bestehen kann und endlich Fördergelder | |
| fließen. Das entwickelt sich jedoch zäh. Dabei würde sie den neuen | |
| Betreibern zuarbeiten, sie hat das Know-how. „Trotzdem … jetzt hoffe ich, | |
| dass ich befreit werde. Aber man weiß ja nie, wie es weitergeht mit dem | |
| Krieg, der Inflation, der Globalisierung“, sagt sie. | |
| 6 Aug 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://sepp-mahler-haus.de/ | |
| ## AUTOREN | |
| Waltraud Schwab | |
| ## TAGS | |
| Der Hausbesuch | |
| Kunst | |
| Allgäu | |
| Der Hausbesuch | |
| Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg | |
| Der Hausbesuch | |
| Der Hausbesuch | |
| Liedermacher | |
| Popgeschichte | |
| Museum | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Der Hausbesuch: Klopfen wie ein Weltmeister | |
| Heidelore Rutz wurde in der DDR inhaftiert, weil sie für ihre Ausreise | |
| demonstrierte. Die BRD kaufte sie frei. Die Erfahrungen sind ihr | |
| Verpflichtung. | |
| Der Hausbesuch: Sie hat schon lange keine Angst mehr | |
| Anastasia Gulejs Leben ist eine Jahrhundertbiografie. Die 97-Jährige trägt | |
| die Narben der ukrainischen Geschichte in sich. | |
| Der Hausbesuch: Er macht nicht, was andere erwarten | |
| Als Schüler peppt Stephan Griese Flohmarktfunde zu Partyoutfits auf. Dann | |
| macht er sich als Designer selbstständig – bis er umdenken muss. | |
| Der Hausbesuch: Er hat in Fantasiewelten gelebt | |
| Such dir ein Hobby, das für deine Behinderung „angemessen“ ist – das hö… | |
| Johannes Bruckmeier als Kind. Heute skatet er mit Blindenstock. | |
| Georg Kreisler zum 100. Geburtstag: Die Kunst hat ihn gerettet | |
| Georg Kreisler war Komponist, Dichter, Sänger, Wiener, Amerikaner, Jude. | |
| Aber Schubladen mochte er nie. Am 18. Juli wäre er 100 Jahre alt geworden. | |
| Erinnerungen an Künstler Heino Jaeger: Das merkwürdige Genie | |
| 25 Jahre nach seinem Tod erinnern Ausstellungen an den Künstler Heino | |
| Jaeger. Nachfahren wie Rocko Schamoni helfen bei der Wiederentdeckung mit. | |
| Neues Grosz-Museum in Berlin: Beschlagnahmt, verschollen, zurück | |
| Der Maler George Grosz flüchtete vor den Nazis in die USA. Das neu | |
| eröffnete Grosz-Museum in Berlin erinnert nun an seine Kunst. |