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# taz.de -- Spuren des Zweiten Weltkriegs: Krieg, der in den Frieden ragt
> Seit 1945 ist Frieden in Deutschland, doch der Krieg blieb gegenwärtig.
> Vier Erinnerungen von taz-Autor*innen.
Bild: Der Zweite Weltkrieg hat vielfältige Spuren hinterlassen: Fassade mit Ei…
## Die Pflastersteine
Einmal im Jahr, pünktlich zum ersten Advent, bekamen wir – die 12 Enkel
meiner Großmutter – ein Päckchen. Als wir alt genug waren, um
Regelmäßigkeiten zu erkennen, wussten wir, was drin ist: Eine Blechdose, in
der zuvor Jacobs-Kaffee gewesen war, mit Plastikdeckel, nun ausgelegt mit
Alufolie, um die Plätzchen zu schützen, die sie für uns gebacken hatte.
Pflastersteine wurden sie genannt; kleine, hellbraune Rundlinge mit
Zuckerguss. Legte man sie aneinander, sahen sie aus wie Kopfsteinpflaster.
An sich keine guten oder raffinierten Plätzchen. Ganz einfaches Gebäck. Im
Ursprungsrezept mit nur wenig Butter, nur einem Ei, dafür Sirup und
Kunsthonig. Und genau das ist Teil ihrer Geschichte, denn die
Pflastersteine waren so viel mehr als Plätzchen. Erinnerungsträger, die in
ihrer Krume tragen, was uns bis heute belastet, was wir nicht vergessen
dürfen. Insofern ist ihre Süße auch eine Mahnung.
Zum ersten Mal hat meine Großmutter Pflastersteine 1942 gebacken, angeregt
durch ein Rezept in der Werra-Rundschau mit der Überschrift „Wir backen für
das Feldpostpäckchen“. Mein Großvater war zu der Zeit Wehrmachtssoldat,
irgendwo in der damaligen Sowjetunion. Ihm schickte sie ein Päckchen mit
Pflastersteinen nach dem Rezept aus der Heimatzeitung. Und tatsächlich
schickte sie es ihm nur einmal, weil er im Jahr darauf tot war; „gefallen“
wie es immer heißt, in der Nähe der Stadt Schytomyr. Und trotzdem hat meine
Großmutter die Pflastersteine immer wieder gebacken; stets am Montag nach
Totensonntag, wenn sich das Pfarrhaus, in dem sie nun ohne den Mann und
Vater der drei Kinder lebte, auf Weihnachten vorbereitete.
Sie hat Unmengen davon gebacken und sie in Päckchen verschickt: an Soldaten
aus der Kompagnie ihres Mannes, an Witwen Gefallener, später an ihre
Kinder, noch später an uns. Jahr für Jahr, immer diente das Rezept aus der
Werra-Rundschau als Vorlage, nur wurde – die Zeiten wurden besser –
Kunsthonig durch echten Honig ersetzt, mehr Butter gab es auch.
Noch heute werden Pflastersteine bei uns gebacken zu Beginn der
Adventszeit; meine Mutter hat die Tradition weitergeführt. Und immer
schwingt die Geschichte mit, gebacken „für das Feldpostpäckchen“,
verschickt an den Mann, den Vater, den seine Kinder nur aus Erzählungen
kennen und wir Enkel erst recht. Der Soldat, der als Pfarrer nicht hätte in
den Krieg ziehen müssen, der es aber tat, weil auch er überzeugt war von
Hitlers Kriegszielen. Der Mensch, der in Schytomyr starb. Dort, wo genau 80
Jahre später wieder Menschen sterben.
Diese kleinen, runden Dinger symbolisierten zuerst – unausgesprochen – die
persönliche Trauer einer Familie; sie trugen stets – erst recht
unausgesprochen – das Erinnern an deutsche Schuld und grausame Verbrechen
in sich. In diesem Advent rufen sie wach, warum wir Deutschen heute eine
besondere Verantwortung dafür haben, dass dort, wo unsere Großväter
wüteten, nicht erneut Menschen Opfer eines brutalen Angriffskrieges werden
dürfen. Felix Zimmermann
## Die Soße auf dem Teller
Wenn man bei meinen Eltern einen Schrank öffnet, sollte man auf einiges
gefasst sein. Es fallen einem gerne mal Tüten oder Gläser oder andere Dinge
entgegen. Im Keller gibt es einen Raum, der ist komplett mit Kartons
vollgestellt. Und in der Küche finden wir bei Besuchen regelmäßig
Lebensmittel, die seit Jahren oder gar Jahrzehnten abgelaufen sind.
Gewürze, Honig, Tee, gekörnte Brühe, sogar Nudelsaucen und Schokolade.
Aber wegwerfen? Das fällt meiner Mutter schwer. Sie ist einige Jahre vor
Kriegsende geboren, und vielleicht erklärt das, warum vor allem Essen für
sie so wertvoll ist. Sie liebt Teigschaber, besonders die aus weichem
Gummi, denn damit bekommt sie jeden Rest aus der Schüssel.
Wenn die Enkelkinder aufgegessen haben, fragt sie regelmäßig, warum sie
denn nicht aufessen. Sie meint die Soßenreste auf ihren Tellern. Wenn die
Enkel dann wirklich nicht mehr können, isst mein Vater die Teller blank. Er
legt eigentlich Wert auf gute Manieren, aber hilft – zumindest bei seinem
eigenen Teller – dann auch mal mit der Zunge nach.
Man könnte das Nicht-wegwerfen-Können als Schrulle abtun. Gleichzeitig ist
es für uns, die wir immer nur Konsum und Überfluss erlebt haben, auch eine
Erinnerung: Es ist nicht selbstverständlich, immer alles jederzeit
verfügbar zu haben. Auch wir sollten achtsamer sein. Wir müssen ja nicht
gleich die Sauce vom Teller lecken. Milena Klink
## Der Traum
Es war ein immer wiederkehrender Traum, den ich in meiner Kindheit hatte.
Er handelte vom Krieg. Ich bin in der Wirtschaftswunderzeit aufgewachsen,
der Vergessenszeit, der Lass-uns-nicht-darüber-reden-Zeit, der Zeit, in der
Zukunft galt. Wie sich die Vergangenheit dann aber in meine Träume
geschlichen hat, das kann man sich denken. Denn Kinder wissen Dinge, die
ihnen die Erwachsenen nie erzählten. Sie wissen sie anders als die
Erwachsenen, aber sie wissen sie.
Die Schlüsselszene in diesem Traum, der mich plagte und mir große Angst
machte, ging in etwa so. Meine Mutter, meine Geschwister und andere Leute
des Dorfes, Alte, Frauen, Kinder, mussten in Windeseile auf den Anhänger
eines Lastwagens steigen. Wie ich, so klein noch, es schaffte, weiß ich
nicht mehr. Ich weiß nur, dass der Lastwagen schon im Fahren war, denn wir
waren auf der Flucht. Ich saß am hinteren Rand neben der Wagenklappe und
sah meinen Vater in Soldatenmontur mit Stahlhelm und Gewehr panisch dem
Lastwagen hinterherrennen, er wollte auch auf die Ladefläche. Ich rief nach
ihm, aber er schaffte es nicht. Er wurde kleiner und kleiner und
verschwand.
Selbst jetzt, nach so vielen Jahren, sehe ich beim Aufschreiben die Bilder
vor mir und spüre, wie mein Herz schneller schlägt.
Meine Familie hat keine Fluchtgeschichte. Wir wohnten in Süddeutschland –
unweit des Rheins. Wohl wurde die Mutter meiner Mutter mit ihren sechs
Töchtern gegen Ende des Krieges in den Schwarzwald evakuiert, da die
französische Armee die Region von der westlichen Rheinseite aus beschoss.
Aber die älteren vier Töchter, sie waren zwischen 17 und 22 Jahre alt, und
meine Mutter war eine von ihnen, mussten mit dem Fahrrad abwechselnd zurück
ins Dorf, um die Tiere auf dem Bauernhof zu versorgen. Eine Woche die
älteren beiden Schwestern, eine Woche die mittleren beiden Schwestern.
Diese Episode wurde gern erzählt, sie schien mit Angst gepaartes Abenteuer.
Mein Vater war Soldat im Krieg. Zeitweise im Nachschub, hat Panzer von der
Fabrik auf Züge verladen und mit zur Front gefahren. Und dann wieder zurück
zur Fabrik.
Aber solche Details spielten nicht in meinen Kindertraum hinein. Da war
lediglich das Bild des rennenden Soldaten mit Gewehr und Helm, der mein
Vater war, und da war der Lastwagen, der davonfuhr, ohne ihn mitzunehmen.
Obwohl Frieden war, träumte ich als Kind vom Krieg. Irgendwo, irgendwie
werden die Erwachsenen, und das sind ja nicht nur meine Eltern gewesen,
trotz des Schweigegebotes geredet haben. In Andeutungen. Mit Worten, die
Kinder nicht verstehen. Sie haben Erfahrungen, die sie nicht verarbeiten
konnten, weitergegeben an die nächste Generation, die sich mit ihnen in den
Träumen herumschlug.
Ich weiß nicht, wann ich aufhörte, diesen Traum zu träumen. Vielleicht als
ich anfing zu fragen, was habt ihr getan? Und keine Antwort bekam. Waltraud
Schwab
## Die Band und die Bomber
Vor dem Rathaus meiner Heimatstadt kann man immer noch die in den Boden
eingelassenen schweren Stahldeckel mit der Aufschrift „Luftschutz“ sehen,
Hersteller Mannesmann. Darunter der Schutzraum. Ich ging jeden Tag auf dem
Weg zur Schule an diesem Mahnmal des letzten Kriegs vorbei. Luftschutz,
Mannesmann. An der Heimatfront kam der Tod von oben.
Eine der Bands, die wir mit 15 hörten, hieß Motörhead. Ihr erstes Konzert
spielten Motörhead im Februar 1975. Sie hängten den Nachbau einer Heinkel
He 111, des deutschen Standardbombers aus dem Zweiten Weltkrieg, über die
Bühne. Ihre Konzerte begannen mit dem Klang einer Sirene, Luftalarm. Sie
blendeten ihr Publikum mit Suchscheinwerfern, während Sänger Lemmy
Kilmister, der ein Eisernes Kreuz um den Hals trug, über den Bombenkrieg
sang. Manchmal trug er auch eine SS-Uniform.
Als ich ihn traf, 40 Jahre nach seinem ersten Konzert mit Motörhead und 70
Jahre nach Ende des großen Kriegs, fragte ich ihn, warum. „Britische
Soldaten sahen damals aus wie Pfadfinder“, sagte Lemmy. „Das Design der
deutschen Uniformen war dagegen unglaublich gut. Und unglücklicherweise sah
die Uniform der SS am besten aus.“
Lemmy meinte, Motörhead machten Musik für das Zeitalter der
Massenvernichtung: „Der Krieg war das zentrale Ereignis des 20.
Jahrhunderts.“ Auf jedem Motörhead-Album gibt es mindestens einen Song über
den Krieg. „Krieg ist ein griffiges Thema“, sagte Lemmy dazu trocken.
„Irgendwo findet immer einer statt.“ Vier Wochen später starb er, das ist
nun auch schon wieder sieben Jahre her.
An seinen Satz musste ich in jüngster Zeit oft denken. Irgendwo findet
immer einer statt. Ulrich Gutmair
24 Dec 2022
## AUTOREN
Waltraud Schwab
Felix Zimmermann
Milena Klink
Ulrich Gutmair
## TAGS
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