Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Luftangriffe auf Kreuzberg: Der Schmerz der Lebenden
> Wie erinnern an einen der schwersten Luftangriffe auf Berlin 1945? Für
> die Berliner Unterwelten liest Martina Gedeck Texte einer Mutter vor – im
> Bunker.
Bild: Mit steinerner Miene trägt Martina Gedeck den Bericht von Hedwig Langer …
Täglich ein paarmal wanderten wir zur Trümmerstätte unseres Hauses und
gruben mit eigenen Händen, da kein Spaten aufzutreiben war, nach unseren
Kindern. (…) Wir fanden einen Knopf von Ottchens Pullover, Fingerknochen
mit einem verschmorten Ring darauf, zarte Ober- und Unterschenkelknochen,
den Bügel einer Handtasche, die Brille meiner Schwägerin, unsere
Hausschlüssel, Nagelfeile, Nagelschere von Renilein. (…) Am nächsten Tag
fanden wir Friedelschens Füßchen in seinen neuen Schuhen … verschmort.
Später fanden wir einen Schädel, den wir für den unserer Thea hielten.“
[1][Die Schauspielerin Martina Gedeck] holt ein paar Mal tief Luft, dann
liest sie diese vorletzte Passage aus den Erinnerungen von Hedwig Langer.
Langer und ihr Mann haben beim Bombenangriff auf Berlin am 3. Februar 1945
ihre vier Kinder verloren. Nicht im Bombenhagel sind sie vor genau 80
Jahren umgekommen, sondern im Feuersturm danach.
Der Angriff an diesem Samstag war der schwerste, den Berlin im Zweiten
Weltkrieg erlebte. Das Feuer verbrannte nicht nur das Mietshaus in der
Oranienstraße, in dem die Langers gelebt hatten. Auch die Kreuzberger
Luisenstadt, der Anhalter Bahnhof, das Zeitungsviertel, der Moritzplatz und
das Exportviertel in der Ritterstraße waren in Schutt und Asche gelegt
worden.
Die Erinnerungen von Hedwig Langer stehen ganz im Zentrum einer
ungewöhnlichen Gedenkveranstaltung, die der [2][Verein Berliner
Unterwelten] am Montag im ehemaligen Luftschutzbunker in der Dresdener
Straße organisiert hat. Sie ist, auch dank der Anwesenheit von
Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey (SPD), so etwas wie der inoffizielle
Auftakt Berlins zum Gedenken an 80 Jahre Kriegsende.
## „Bombenwetter“ über Berlin
Doch wie erinnert man an einen Tag, an dem am Himmel über Berlin die Sonne
schien, also „Bombenwetter“ herrschte? An einen Tag, an dem der Voralarm um
10.27 Uhr ausgelöst wurde und 13 Minuten später der Hauptalarm, da war
schon deutlich geworden, dass die US Army Airforce von ihren britischen
Stützpunkten aus einen Großangriff fliegen würde. 958 viermotorige Bomber
hatten den Auftrag, das Regierungsviertel, das Zeitungsviertel sowie den
Potsdamer und den Anhalter Bahnhof zu zerstören.
„Doch an diesem Tag herrschte ein starker Westwind“, sagt Dietmar Arnold,
der Vorstandsvorsitzende der Berliner Unterwelten. Sein Verein hat nicht
nur die Lebensgeschichte von Hedwig Langer recherchiert, deren ungeschönten
Bericht Martina Gedeck vorträgt. Er kann inzwischen auch die Namen von über
5.000 Toten nachweisen, die an diesem Tag ums Leben gekommen sind. Auch
Roland Freisler, der Präsident des Volksgerichtshofs, gehört dazu.
„Der starke Wind hat den Bombenteppich um einige hundert Meter nach Osten
verschoben“, sagt Arnold. Statt auf das Regierungsviertel traf die Last von
2.000 Tonnen Sprengbomben und 250 Tonnen Brandbomben auf die dicht bebauten
und bis dahin nicht zerstörten Gründerzeitquartiere von Kreuzberg.
Dietmar Arnold, der die Gedenkveranstaltung im ehemaligen Luftschutzbunker
am Montag eröffnet, erinnert auch an die Opfer des deutschen Bombenkriegs,
an die Bombardierung des britischen Coventry, an Rotterdam, an die 55.000
Gefallenen der britischen Bomberbesatzungen. Fast die Hälfte des fliegenden
Personals der Royal Air Force hatte im Krieg ihr Leben lassen müssen. Auch
Jonathan Sear, Verteidigungsattaché der Britischen Botschaft, ist deshalb
nach Kreuzberg zur Gedenkveranstaltung gekommen. Er sagt: „Heute stehen wir
hier zusammen Schulter an Schulter, Deutsche und Briten.“
„Coventrisieren“ hat Reichspropagandaminister Joseph Goebbels 1940 die
wahllose Zerstörung britischer Städte und ihrer Zivilbevölkerung genannt.
Ein Kreuz aus – allerdings nicht originalen – Nägeln aus der zerstörten
Kathedrale von Coventry wurde auch im Bunker in der Dresdner Straße
angebracht. Spätestens 1943 kehrte dann das, was von den Nazis ausging,
nach Deutschland zurück.
„Mir bot sich ein grauenvolles Bild. Tiefe Krater von den Bomben
eingerissen, nicht krepierte Bomben, tote Pferde, Hunde, zerfetzte
Menschenleiber, Menschenarme, menschliche Oberschenkel, geröstete Leiber,
einen grauenhaft verkrümmten Manneskörper, der auf dem Bauche lag und Kopf
und Beine in die Luft gestreckt hatte, der Rücken rotbraun geröstet. Auf
der Bauchseite sah man Fetzen einer Strickjacke.“
## Umgekommen im Feuersturm
Lange Zeit war unklar, ob es auch in Berlin einen Feuersturm gegeben hatte.
Die breiten Straßen, aber auch die Luftverteidigung der Reichshauptstadt
sowie die große Zahl an 10.000 Feuerwehrleuten hatten Berlin bis Ende 1944
vor einem Flächenbrand bewahrt, wie er zuvor große Teile der Hamburger
Innenstadt im Juli 1943 in der „[3][Operation Gomorrha]“ der Royal Air
Force zerstört hatte. 34.000 Menschen waren damals gestorben. Beim
[4][Feuersturm am 13. und 14. Februar 1945 in Dresden] waren bis zu 25.000
Menschen ums Leben gekommen. Inzwischen aber gehen Dietmar Arnold und sein
Team davon aus, dass es auch am 3. Februar 1945 in Kreuzberg einen
Feuersturm gegeben hat. Ihre vier Kinder, die Hedwig Langer und ihr Mann in
den Tagen nach dem Angriff aus den Trümmern gegraben hatten, waren nicht
beim Luftangriff in den Mittagsstunden ums Leben gekommen, sondern in den
Bränden in den Stunden danach.
Den Bombenangriff hatte Hedwig Langer in einem Luftschutzkeller verbracht.
Ihre Kinder hatte sie bei der Schwägerin gelassen. Der ungenutzte
U-Bahn-Tunnel in der Dresdener Straße, in dem die Gedenkveranstaltung
stattfindet, war 1941 zu einem Bunker umgebaut worden, in dem 800 Menschen
Schutz finden sollten. Am 3. Februar 1945 drängten sich dort 4.000
Menschen. Alle haben überlebt.
Hedwig Langers Kinder waren mit der Schwägerin in einem anderen Bunker.
Nach dem Angriff hatten sie ihn verlassen und waren in die Wohnung
zurückgekehrt. Doch dann kam das Feuer. Nachbarinnen hatten Langer
mitgeteilt, dass die Kinder um 17 Uhr noch gelebt hatten.
„Wer damals getroffen wurde, entschied der Zufall“, sagt Franziska Giffey.
Noch bevor Martina Gedeck mit ihrer Lesung beginnt, würdigt Berlins
Wirtschaftssenatorin die Recherchen des Vereins Unterwelten. „Dass wir
heute so viel über den 3. Februar 1945 wissen, liegt daran, dass wir bei
Unterwelten Menschen haben, die sich darum gekümmert haben.“
Zwar war der mit Maschine geschriebene und nicht namentlich gekennzeichnete
Text, der ganz nüchtern mit „Erinnerungen an den 3. Februar 1945“
überschrieben ist, bereits 1997 vom Hamburger Archiv „Reproducts“ entdeckt
worden. Den Namen der Verfasserin aber haben erst die Berliner Unterwelten
recherchieren können.
Sie haben auch herausgefunden, dass Hedwig Langer, eine geborene
Rautenberg, am 20. Juni 1925 in Preußisch Friedland ihren Mann Felix, einen
Studienrat, geheiratet hatte und mit ihm und den Kindern in Berlin in der
Oranienstraße 113–114 lebte.
Auch das Grab der Kinder von Hedwig Langer konnten Dietmar Arnold und seine
Leute ausfindig machen. Sie liegen auf dem katholischen Friedhof St. Hedwig
II. in Weißensee. „Was aus Hedwig geworden ist, haben wir leider noch nicht
herausgefunden“, sagt Arnold. Bekannt ist nur, dass sie ihren Bericht 1952
geschrieben hatte, im selben Jahr, in dem ihr Mann gestorben war.
## Krieg ist wieder nähergerückt
Als „Teil der Berliner Erinnerungskultur“ bezeichnet Franziska Giffey den
3. Februar 1945. „Lange Zeit stand das Leid der Bevölkerung nicht im
Fokus“, sagt die SPD-Politikerin, „auch aus Angst davor, das Leid der Shoa
zu relativieren.“ Heute könne man beides tun. „Leid lässt sich nicht
aufrechnen“, betont Giffey.
Die Senatorin erinnert auch daran, dass das Thema Krieg, das lange ein
Thema der Vergangenheit war, seit dem russischen Krieg in der Ukraine
wieder näher gerückt sei. „Frieden ist nicht selbstverständlich“, sagt
Giffey und erwähnt auch die Menschen, die am Wochenende für Freiheit und
Demokratie demonstriert haben. „Es geht gerade um sehr viel.“
Martina Gedeck senkt die Augen, nachdem sie die allerletzte Passage des
Berichts vorgetragen hat. Sie schweigt. Kein Applaus. „Der Text ist
ungemein bewegend“, hatte Gedeck schon einen Tag zuvor [5][in einem
Radiointerview] gesagt. „Aber der Text ist auch hart“, hatte sie
hinzugefügt.
„Wir sammelten alle diese Knochen und Knöchlein wie kostbare Reliquien und
trugen sie nach Hause, um sie später einem Särglein zu übergeben. Als die
Kriminalpolizei sich einmischte und mit einer Suchaktion nach Toten und
deren Resten begann, forderte sie die kostbaren Reste unserer geliebten
Kinder zurück. Wir brachten sie zurück und fanden sie später, als sie für
die Bestattung freigegeben wurden, in Kochtöpfen vor.“
3 Feb 2025
## LINKS
[1] https://martina-gedeck.com/
[2] https://www.berliner-unterwelten.de/index.html
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Operation_Gomorrha
[4] https://www.dhm.de/lemo/kapitel/zweiter-weltkrieg/kriegsverlauf/dresden
[5] https://www.radiodrei.de/programm/schema/sendungen/radio3_am_morgen/archiv/…
## AUTOREN
Uwe Rada
## TAGS
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Kriegsende
Kreuzberg
NS-Widerstand
Kreuzberg
Holocaust-Gedenktag
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Protest
## ARTIKEL ZUM THEMA
Gedenkstätte Deutscher Widerstand: Durchhalteterror in den letzten Kriegstagen
Eine neue Ausstellung befasst sich mit dem Widerstand gegen das NS-Regime
am Weltkriegsende. Vielfach ging es dabei um die Rettung der eigenen
Städte.
Gedenken an die Bombardierung Kreuzbergs: Als der Krieg zurück nach Berlin kam
Erstmals hat Berlin der Toten des Bombenagriffs vom 3. Februar 1945
gedacht. Warum in der Hauptstadt keine Dresdener Verhältnisse drohen.
80 Jahre Auschwitz-Befreiung: Neuer Name, neues Leben
In seiner Gedenkstunde für die NS-Opfer blickt der Bundestag auf die
Ukraine. Historikerin Ayelet Eva Herbst recherchiert zu Juden, die sich
wehrten.
Spuren des Zweiten Weltkriegs: Krieg, der in den Frieden ragt
Seit 1945 ist Frieden in Deutschland, doch der Krieg blieb gegenwärtig.
Vier Erinnerungen von taz-Autor*innen.
Widerstand gegen Neonazi-Aufmarsch: Dresden geht denken
In Dresden fällt es schwer, den Weltkriegsopfern zu gedenken. Neonazis
versuchen, das Thema zu okkupieren. Der Widerstand dagegen hat das
bürgerliche Lager erreicht.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.