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# taz.de -- Regisseur über Trauma auf der Bühne: „Das Theater kann Nicht-Er…
> Ein Projekt am Hamburger Thalia widmet sich dem Trauma des
> Heimatverlusts. Grundlage ist Christiane Hoffmanns Buch „Alles, was wir
> nicht erinnern“.
Bild: Traumatische Erfahrung: Deutscher Flüchtlingstreck nach Westen vom Novem…
taz: Herr Grünewald, wie bringt man ein Trauma auf die Bühne?
Gernot Grünewald: Indem man Prozesse zeigt, die die Entstehung und
Weitergabe von Traumata oder Angststörungen für die Zuschauenden sinnlich
erlebbar machen. Wir, also die Dramaturgin Susanne Meister und ich,
befassen uns schon länger mit den Themen Flucht und Vertreibung und in
diesem Zuge auch mit der intergenerationellen Weitergabe von Traumata. An
[1][Christiane Hoffmanns] Buch „Alles, was wir nicht erinnern“, für das sie
die Fluchtroute ihres Vaters 1945 von Niederschlesien nach Wedel bei
Hamburg nach wanderte, lässt sich zeigen, wie eine Fluchterfahrung bis in
die dritte Generation fortwirkt und wie schwer Neu-Verheimatung ist. Das
Theater kann dabei Zeitebenen verschmelzen lassen und Nicht-Erinnertes oder
-Ausgesprochenes sichtbar machen.
taz: Wie haben Sie recherchiert?
Grünewald: Wir sind zusammen mit Christiane Hoffmann und dem polnischen
Dramaturgen Jarosław Murawski nach Różyna gefahren – das Dorf, aus dem ihr
Vater stammte – und haben die dort heute lebenden Menschen nach ihrer
Vertreibungserfahrung im Zuge der [2][„Westverschiebung“ Polens“] am Ende
des Zweiten Weltkrieges befragt. Fast alle Familien kommen aus einem Dorf
in der heutigen Westukraine. Entstanden ist so eine deutsch-polnische
[3][Parallelgeschichte.] Beide Seiten haben eine Heimatverlusterfahrung
erlitten und mussten sich in der Fremde neu-beheimaten. Nur, dass die Polen
das in den zum Teil noch intakten Dörfern der deutschen Täter tun mussten,
umgeben von deren Möbeln und Porzellan.
taz: Gelang die Neu-Verheimatung?
Grünewald: Auch hier zeigen sich Parallelen. Die erste Generation hat den
Heimatverlust nie ganz überwunden, erst die dritte fühlt sich in Różyna
zuhause. Der Aneignungsprozess braucht drei Generationen. Dabei hat sich
das Dorf seit dem Zweiten Weltkrieg nur wenig verändert: Die Polen leben
noch immer in den ehemals [4][deutschen Häusern.]
taz: Wie gehen die Bewohner mit der deutschen Geschichte des Ortes um?
Grünewald: Nach dem Krieg wurde versucht, deutsche Spuren aus dem
öffentlichen Leben zu tilgen. In Różyna pflastern deutsche Grabsteine den
Weg zur Kirche, die wenigen verbliebenen deutschen Grabmale auf dem
Friedhof waren zum Zeitpunkt unserer Reise im Februar dieses Jahres
verfallen. Diesen Sommer haben die Dorfbewohner dann die alte deutsche
Friedhofsmauer gestrichen und eine Gedenkplatte angebracht. Der Pfarrer des
Dorfes möchte mit Hilfe der Bewohner auch die Grabsteine auf den Friedhof
zurückbringen. Auch diese Geschichte ist Teil unserer Inszenierung, die
sich neben den traumatischen Fluchterfahrungen auch mit der Gegenwart eines
ehemals deutschen, jetzt polnischen Dorfs auseinandersetzt.
taz: Welche Rolle spielen Videos in Ihrer Inszenierung?
Grünewald: Wir sind im Zuge unserer Recherchereise noch einmal die 550
Kilometer des Trecks von 1945 und damit auch des Weges von Christiane
Hoffmann abgefahren. Mit dem dabei entstandenen Bild- und Tonmaterial
versuchen wir das Dorf und die Orte und Landschaft der Flucht audio-visuell
erfahrbar zu machen und so dem Ursprung der traumatischen Erfahrung nahe zu
kommen.
taz: Warum liegt Ihnen daran, dem Schmerz deutscher Vertriebener
nachzuspüren?
Grünewald: Weil er in beiden Teilen Deutschlands auf unterschiedliche Weise
bis heute nicht verarbeitet wurde und daraus familiäre und
gesellschaftliche Brüche entstanden sind, die uns als Gesellschaft weiter
prägen. Wenn ein Viertel der deutschen Nachkriegsbevölkerung eine in vielen
Fällen traumatische Verlusterfahrung in sich trägt und man um die
Intergenerationalität von Traumata weiß, dann ist das titelgebende „Alles
was wir nicht erinnern“ Teil unserer Gegenwart. Diese Gegenwart produziert
im Augenblick in der [5][Ukraine] und anderswo wiederum millionenfach
Traumata, die in den nächsten Jahrzehnten Teil unserer Alltags sein werden.
Das ins Bewusstsein zu heben, historische Erfahrung mit Gegenwart zu
verbinden und deren Auswirkungen zu reflektieren, ist Motivation für dieses
Projekt.
29 Nov 2024
## LINKS
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[4] /!5903425/
[5] /NGO-Chef-ueber-Traumata-in-der-Ukraine/!5950536
## AUTOREN
Petra Schellen
## TAGS
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Flüchtlinge
Polen
Theater
Wahlen in Ostdeutschland 2024
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