# taz.de -- Stück über jüdische Familie in Dessau: Stolpersteine für den Ko… | |
> Carolin Millner schaut in die Vergangenheit der Stadt Dessau. „Was | |
> bleibt. Das Leben der Familie Cohn“ ist dort im Anhaltischen Theater zu | |
> sehen. | |
Bild: Maribel Dente, Anja Bothe (im Hintergrund) in „Was bleibt. Das Leben de… | |
Das neue Stück im Alten Theater in Dessau passt besser in die Diskurse der | |
Gegenwart, als man gerne hoffen würde. Zu diesen Diskursen gehört es, die | |
Grenze auszuloten, hinter der Antisemitismus beginnt. Und die Suche nach | |
den Wurzeln für Fälle von kollektiver Amnesie, die ihn immer wieder | |
aufploppen lassen. | |
„Was bleibt. Das Leben der Familie Cohn“ gewährt einen seriös | |
recherchierten Blick in die Vergangenheit der Stadt, mit der das Personal | |
des Stückes eng verbunden ist. Denn auch hier sind nicht nur die ganz | |
konkreten Stolpersteine der Erinnerung vor Häusern nötig. Als regieführende | |
Autorin bringt Carolin Millner in ihrem Stück über die Geschichte einer | |
jüdischen Familie aus Dessau Dokumentation und Narration zusammen. | |
Der Anspruch, mit ihrer Art von Stückerfindung und -umsetzung aufzuklären, | |
Denkprozesse in Gang zu setzen oder auch historische Bildung zu vermitteln | |
und darauf zu bauen, dass das wie eine Impfung gegen unterschwelligen | |
Antisemitismus wirkt, ist auch beim Abtauchen in die Geschichte der | |
Dessauer Bankiersfamlie Cohn und ins 19. Jahrhundert nicht zu übersehen. | |
Manchmal sieht man dabei förmlich die nicht vorhandene Brechtgardine oder | |
hört die leitartikelnden Manuskriptseiten rascheln. Aber sei’s drum – das | |
Stück ist nötig. Und die Art, wie Anja Bothe, Maribel Dente, Mona Georgia | |
Müller und Edgar Sproß es präsentieren, überzeugt. | |
## Mit Geld Fortschritt beflügeln | |
Natürlich geht es in einem Text, in dem Leben und Karriere des jüdischen | |
Hofbankiers sowohl des Anhaltischen Herzogs als auch des späteren ersten | |
Kaisers von Bismarcks Deutschem Reich Wilhelm I. ums Geldverdienen und die | |
soziale Frage. Es gab und gibt ja tatsächlich Banker, deren Aktivitäten sie | |
zur Personifizierung von Kapital und Ausbeutung machen oder (heutzutage) | |
bei manch einem demokratischen „Kontrolleur“ diverse Gedächtnislücken | |
produzieren. | |
Es gibt aber auch solche, die mit ihrem Geld Fortschritt beflügeln und der | |
Allgemeinheit dienen. So wie jener Dessauer Moritz von Cohn, der nicht nur | |
einen beispielhaften gesellschaftlichen Aufstieg als Bankier hinlegte, | |
sondern auch als Familienvater seine Tochter Julie allein aufzog, nachdem | |
ihn seine Frau verlassen hatte. | |
Es ist damit auch ein Text über patriarchalische Familienstrukturen, um das | |
Festhalten an der eigenen religiösen Identität in einer Umwelt, die im | |
Konkurrenzkampf gerne auf das antisemitische Feindbild des reichen, | |
raffgierigen Juden verfällt. Trotz aller Protektion durch den Dessauer oder | |
Berliner Hof. | |
Auf der kleinen Bühne bewegen sich die vier jungen Darsteller in den dezent | |
historisierenden Kostümen von Ausstatterin Maylin Habig zwischen | |
verschieden großen, betonartigen Quadern. Ein paar Kieselsteine auf einem | |
der Blöcke erinnern an einen jüdischen Friedhof. Immer wenn in der | |
episodischen Stückerzählung eine angedeutete Biografie mit dem Tod endet, | |
legt sich einer der Protagonisten auf einen Stein, wird mit einem Tuch | |
verdeckt und neben ihm ein Stein platziert. | |
## Musikalische Zwischenspiele mit Klezmer-Adaptionen | |
Vor allem die drei Darstellerinnen wechseln immer wieder die Rollen. Dürfen | |
etwa ausgelassene junge Mädchen sein, mit dem Willen, etwas aus sich zu | |
machen. Edgar Sproß, der meistens den Text jenes Moritz spricht, kriegt das | |
Kunststück fertig, mit seiner dezenten Zurückhaltung eine sozusagen | |
überzeitliche Stimme bürgerlicher Vernunft zu verkörpern. | |
Selbst wenn er seiner Tochter die von ihm angebahnte Verbindung mit | |
Ferdinand von Oppenheim, also im Grunde eine Verbindung von zwei jüdischen | |
Bankhäusern, schmackhaft macht. Jan Preißler gönnt dem Darstellerquartett | |
musikalische Zwischenspiele mit Klezmer-Adaptionen und einem sogar witzigen | |
Seitenhieb auf [1][den Antisemiten Richard Wagner]. Sie spielen | |
zurückhaltend ohne mit dem (Besser-)Wissen von heute zu protzen. | |
Wobei auch Auschwitz vorkommt, wo das in Dessau entwickelte Zyklon B die | |
Duschen zu Gaskammern machte. Eigentlich erzählt der Abend aber eine | |
Erfolgsgeschichte von bürgerlicher Emanzipation und vermeintlicher | |
Integration. | |
Am Ende erzielt Millner mit dem pur Dokumentarischen im Stück die größte | |
Wirkung: Alle vier setzten auf einem der Grabsteine und lesen die Namen | |
aller Dessauer Juden vor, die in der Zeitung am Tag nach der sogenannten | |
Reichskristallnacht veröffentlicht wurden. Nur ein Dutzend von ihnen hat | |
den Rassenwahn der Nazis überlebt. | |
2 Dec 2024 | |
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## AUTOREN | |
Joachim Lange | |
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