| # taz.de -- Teilhabe für Behinderte: Palmen, Politik und Partizipation | |
| > Kürzlich tagte das Berliner Behindertenparlament erstmals im Berliner | |
| > Abgeordnetenhaus. Es ging um Sichtbarkeit, Austausch und Forderungen. | |
| Bild: Das Behindertenparlament im Berliner Abgeordnetenhaus am 3. Dezember | |
| Berlin taz | Im Plenarsaal des Berliner Abgeordnetenhauses tagt an diesem | |
| Samstag ein besonderes Parlament. Es sind hundert Menschen mit | |
| Beeinträchtigungen. Sie scheinen die gesamte Bandbreite von | |
| „irgendwie-anders-besonders“ zu vertreten. Manche sprechen anders. Aber sie | |
| sprechen. Manche können nicht laufen. Aber sie rollen (sich). Manche trauen | |
| sich kaum. Aber sie hören zu. Manchen sind andere Menschen schnell zu laut | |
| und zu viel. Aber sie sind dort. Sie alle vertreten ihre Interessen | |
| gegenüber Politiker:innen und Behörden. | |
| Das Abgeordnetenhaus ist ein Bau mit hohen Decken – ein | |
| geschichtsträchtiger Ort. „Demokratie zähmt Macht“ sagte etwa Hanna-Renate | |
| Laurien schon zur Wendezeit. Sie war damals die Präsidentin des Parlaments. | |
| An der Eingangstür führen Polizist:innen eine Sicherheitskontrolle wie | |
| auf dem Flughafen durch, und in der Empfangshalle stehen Palmen an den | |
| Treppen. Es ist ein prächtiges Stück Berlin mit roten Teppichen und Säulen. | |
| Außerdem befindet sich dort der wahrscheinlich einzige BVG-Automat in einem | |
| Haus ohne Bahnhof. | |
| Der derzeitige Präsident des Abgeordnetenhauses heißt Dennis Buchner. Er | |
| spricht ein paar Worte zu Beginn der Veranstaltung im Plenarsaal. Das | |
| Behindertenparlament „stößt Veränderungen an und gibt konkrete Forderung an | |
| die Hand“, sagt er. Das verdiene seinen Respekt. Ein Vorbereitungsteam aus | |
| Einzelpersonen und Organisationen macht seit 2020 auf die Bedarfe von | |
| mindestens 9 Prozent der Berliner Bevölkerung aufmerksam. | |
| ## Es fehlt an Grundlegendem | |
| Chronisch Kranke und Menschen mit Beeinträchtigungen haben mit diesem | |
| Parlament ein eigenes Gremium. Letztes Jahr konnte die erste Zusammenkunft | |
| wegen der Coronapandemie online erfolgen, vorletztes Jahr als | |
| Open-Air-Veranstaltung – und jetzt, an diesem dritten Dezember, dem | |
| internationalen Tag der Menschen mit Behinderung, tagt es also im | |
| Abgeordnetenhaus. | |
| Neben der Standardsprache besteht an diesem Tag die Möglichkeit, mit | |
| Gebärden, über das geschriebene Wort, [1][online] und in leichter Sprache | |
| an der Sitzung zu teilzunehmen. Christian Specht, der Erdenker des Berliner | |
| Behindertenparlaments, sitzt stattlich mit Jackett auf dem Präsidiumsplatz | |
| und heißt ebenfalls willkommen. | |
| Die Stimmung ändert sich mit Beginn der Fragen an die Abgeordneten. Die | |
| Anwesenden werden ruhiger, die Beiträge werden ernster. Aus den | |
| Wortmeldungen geht hervor, wo genau die Barrieren vor Menschen mit | |
| Behinderung stehen. | |
| Es wird über Inklusionstaxis (zu hohe Eigenbeteiligung), über Ausbau von | |
| Wohnungen ohne Barrieren (Geld reiche nicht für Umbau), über die | |
| Notwendigkeit von barrierefreien Elementen auf Spielplätzen (Bausenat | |
| antwortet sinngemäß, jemand solle etwas irgendwann auf irgendeinen Weg | |
| bringen), über Assistenzen (Geldzuschüsse für Arbeitgeber:innen mit | |
| Behinderung sollten gezahlt werden) und über Menschen, die mit | |
| Beeinträchtigten arbeiten, gesprochen (diese könnten auch eine Barriere | |
| darstellen). | |
| ## Ein Sozialticket, günstiger als 29 Euro pro Monat | |
| „Wir sind noch nicht da, wo wir sein müssen“, gibt Bettina Jarasch (Grüne) | |
| zu. Sie ist neben anderen Senator:innen erschienen, um sich die Belange | |
| des Behindertenparlaments anzuhören. Die Politiker:innen gehen darauf | |
| ein und beschreiben gleichermaßen, was schon erreicht worden ist. | |
| Zum Beispiel werde das ÖPNV-Ticket bereits vor der bundesweiten Regelung | |
| für 29 Euro angeboten und ab Januar 2023 solle zusätzlich ein Sozialticket | |
| für 9 Euro erhältlich sein, hebt Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke) | |
| hervor. Das helfe auch den Menschen mit Beeinträchtigungen, die | |
| Grundsicherung beziehen. Für die U-Bahnhöfe ohne Fahrstuhl gebe es den | |
| Rufbus „Muva“, der derzeit in den östlichen Bezirken erprobt werde, fügt | |
| Bettina Jarasch hinzu. Damit könne die Treppe umfahren werden. | |
| Eine häufige Frage ist: Wann? Wann wird eine Verbesserung umgesetzt, wann | |
| können wir mit Konkretem rechnen? Die Antwort darauf ist, dass die | |
| Bürokratie der Ausschreibungen und Anträge viel Zeit kosten. Das bezeichnet | |
| Kipping als „echten Mist“. Doch zumindest was den Partizipationsfonds | |
| betrifft, wird es nun konkret: Das Geld für die Arbeit für politische | |
| Mitbestimmung von Verbänden solle im kommenden Jahr ausbezahlt werden. | |
| Die Schwierigkeiten beträfen allerdings nicht nur Menschen mit kognitiven | |
| und körperlichen Behinderungen, sondern auch psychisch Kranke. Darauf weist | |
| eine Parlamentarierin hin, die sich online zugeschaltet hat. Menschen mit | |
| seelischen Problemen hätten oft nicht den Mut, für sich zu sprechen und | |
| seien nicht in der Lage, auf ein Amt zu gehen, um sich Unterstützung zu | |
| holen. [2][„Das muss einfacher werden“], fordert auch ein anderer | |
| Stimmberechtigter. Und so wird laut über eine Akademie nachgedacht, die | |
| Schulungen zur Qualifizierung für Helfende und Verwaltungsangestellte | |
| anbietet. | |
| ## Anstrengend, wichtig und erfolgreich | |
| Schon im Vorhinein war darüber gesprochen worden, wie man den Tag so | |
| gestalten kann, dass er für alle Teilnehmenden machbar wäre. Das hieß: | |
| Pausen einplanen – drei Stück sind es, in denen Essen und Getränke | |
| bereitstehen. So ist es für alle, die damit sonst Probleme hätten, | |
| einfacher, sich zu konzentrieren. | |
| Wer die Pausen nutzt, um sich umzuschauen, hat vor dem Saal viel zu | |
| entdecken: Es hängen dreieckige und halbrunde Glasscheiben von der Decke, | |
| die bestimmt gut gesichert sind. Licht kommt aus schief hängenden | |
| Vorrichtungen, die wie überdimensionierte Schultüten aussehen. Das | |
| Mittagessen steht in einem zugigen Raum, der Casino heißt, bereit. | |
| Als sich der Arbeitstag dem Ende zuneigt, wird der Ablauf etwas chaotisch. | |
| Es scheint nicht immer klar zu sein, über was geredet werden soll. Die | |
| Sprecher der Fokusgruppen bemühen sich, ihre Anträge vorzubringen. | |
| Schlussendlich wird jeder einzelne Antrag [3][mit Forderungen] von einer | |
| Mehrheit des Behindertenparlaments angenommen. Vielleicht wäre es gut | |
| gewesen, die Politiker:innen abstimmen zu lassen. Das hätte einen | |
| Eindruck gegeben, ob und inwieweit die Forderungen tatsächlich umgesetzt | |
| werden könnten. | |
| 6 Dec 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.youtube.com/watch?v=ZnXRUW67XTg | |
| [2] /Juergen-Dusel-ueber-Barrierefreiheit/!5897236 | |
| [3] /Berliner-Behindertenparlament/!5896494 | |
| ## AUTOREN | |
| Sean-Elias Ansa | |
| ## TAGS | |
| Behindertenpolitik | |
| Sozialsenatorin | |
| Gesellschaftliche Teilhabe | |
| GNS | |
| Christian Specht | |
| Inklusion | |
| Behindertensport | |
| Christian Specht | |
| Behindertengleichstellungsgesetz | |
| wochentaz | |
| Taxi | |
| Christian Specht | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Berliner Behindertenparlament 2023: Ein leicht verständlicher Austausch | |
| In Berlin haben sich 100 Menschen mit Behinderungen versammelt, um über | |
| Inklusion zu diskutieren. Präsident Christian Specht hat dafür lange | |
| gekämpft. | |
| Special Olympics World Games: „Sehen wir uns in Berlin?“ | |
| In Quedlinburg wird die Ankunft afrikanischer Sportler:innen mit | |
| Behinderung gefeiert. Es entstehen rührende Bilder - doch die haben Risse. | |
| Behindertenparlament in Berlin: Hier werden Hürden beseitigt | |
| Bei der diesjährigen Auftaktveranstaltung macht das Berliner | |
| Behindertenparlament Druck auf den neuen schwarz-roten Senat. | |
| Barrierefreies Wohnen: Schöne Worte kosten nichts | |
| Ein Rollstuhl fahrender Mieter kämpft für eine Rampe am Haus. Für den | |
| Vermieter scheint das ein Riesenproblem zu sein – für die Verwaltung auch. | |
| Warum? | |
| Jürgen Dusel über Barrierefreiheit: „Kein Nice-to-have“ | |
| Jürgen Dusel ist Behindertenbeauftragter der Regierung. Ein Gespräch über | |
| Grenzen seines Amts, Expertise durch Erfahrung, Vorurteile und Bürokratie. | |
| Taxigewerbe beantragt Tariferhöhung: Im Rollstuhl zahlt man extra | |
| Taxis werden teurer. Zum Entsetzen der Behindertenbeiräte überlegen | |
| Niedersachsens Landkreise, einem Zuschlag für Rollifahrer zuzustimmen. | |
| Berliner Behindertenparlament: Nicht über uns ohne uns | |
| Beim Berliner Behindertenparlament bringen sich Betroffene aktiv in die | |
| Politik ein. Am 7. Mai ist die digitale Auftaktveranstaltung. |