# taz.de -- Special Olympics World Games: „Sehen wir uns in Berlin?“ | |
> In Quedlinburg wird die Ankunft afrikanischer Sportler:innen mit | |
> Behinderung gefeiert. Es entstehen rührende Bilder - doch die haben | |
> Risse. | |
Bild: Sport mit Stimmung: Fußballtunier bei den Special Olympics | |
QUEDLINBURG taz | „Tansania macht noch Mittagsschlaf“, sagt Samantha Mantel | |
zehn Minuten vor Beginn der Eröffnungsfeier in Quedlinburg. Erst in der | |
Nacht zuvor sind einige Sportdelegationen aus Afrika in das nördliche | |
Harzvorland gekommen. Daher sind alle noch müde. Die Quedlinburger | |
Gleichstellungsbeauftragte Samantha Mantel wirkt trotz der Verspätung | |
entspannt. Ghana sei ja schon da, und Kamerun und Madagaskar würden | |
demnächst aus Halberstadt eintreffen. | |
Die vier afrikanischen Delegationen sind in ihren Host Towns angekommen, | |
wo sie zu den [1][Special Olympics World Games], die in dieser Woche in | |
Berlin stattfinden, untergebracht sind. Dort bieten Stadtverwaltung und | |
Vereine über mehrere Tage Führungen oder Kreativkurse für ihre Gäste an. | |
Insgesamt stellen bundesweit 216 Kommunen Unterkünfte für die Teams aus 190 | |
Ländern. Sie bereiten sich vor und entspannen, bis es am Samstag nach | |
Berlin geht: zur Eröffnungsfeier der Spiele für Menschen mit geistiger oder | |
mehrfacher Behinderung im Olympiastadion. Es ist das größte inklusive | |
Sportereignis der Welt. Die [2][etwa 7.000 Athleten und Athletinnen messen | |
sich in 26 Disziplinen]. Eine Woche lang. | |
Im Quedlinburger Hotel Schlossmühle wird die Ankunft der vier afrikanischen | |
Delegationen in Deutschland gefeiert. Mit Bürgermeistern, Verbänden sowie | |
mit einigen Athleten und Athletinnen aus der deutschen Delegation werden | |
die Gäste empfangen. | |
## Fürsorglicher Umgang | |
Es ist warm, sommerlich. Die Tische sind weiß bespannt, das Hotel reicht | |
Gurkensticks an Kräuterquark, die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wuseln | |
den ganzen Abend herum. Eine kommt auf eine Gruppe Herumstehender zu und | |
sagt: „Ich bin die Marion. Wenn ihr was braucht, dann fragt einfach Mama.“ | |
Melinda Bukari ist begeistert vom herzlichen Empfang. Sie fühle sich seit | |
der Ankunft am Flughafen sehr gut aufgehoben. „Die Menschen hier sind so | |
tolerant“, sagt sie und schüttelt den Kopf dabei. Sie arbeite für das | |
Bildungsministerium in Ghana und organisiere die Reise ihrer Delegation. | |
Während sie spricht, kommt ein junger Mann immer wieder auf sie zu, heftet | |
sich an ihren Arm. Er ist einer der ghanaischen Tischtennisspieler, jung | |
und mit Glatze. | |
Mal fragt er nach Salzstangen und mal schaut er den fremden Journalisten | |
mit großen Augen an. Bukari hält seine Hand und spricht in einer Sprache | |
aus ihrer afrikanischen Heimat mit ihm. Sie tätschelt ihn und redet fast | |
parallel auf Englisch weiter: „In Ghana gibt es kaum Unterstützung für | |
Menschen mit geistiger Behinderung. Ich muss sehr viel Kraft in diese | |
Arbeit stecken.“ | |
## Vorbild Antonio Rüdiger | |
Auch Hamza Mohammed ist über den Sport nach Quedlinburg gekommen. Er gehört | |
zur Fußballmannschaft von Ghana, die sich aus Menschen mit und ohne | |
Behinderung zusammensetzt. Diese inklusiv ausgetragenen Sportarten nennen | |
sich Unified Sports. Mohammed ist 20, weißer Pulli, schwarze Jeans, große | |
Sportuhr am Handgelenk. Er ist bereits das dritte Mal bei den Special | |
Olympics dabei. „In Abu Dhabi 2019 sind wir Vierter geworden“, sagt er. | |
Sein größtes Vorbild sei der deutsche Nationalspieler Antonio Rüdiger, der | |
Verteidiger ist – wie Mohammed. „Ich liebe Fußball, ja, Fußball ist gut. | |
Ich will Nationalspieler in Ghana werden, Nationalspieler werden“, sagt er. | |
Er strahlt, während er auf der Gartencouch sitzend redet, mit den Händen | |
gestikuliert und dabei gedanklich schon über das Feld stürmt. | |
Während eines Spiels dürfe der Geist nie bei jemand anderem als bei einem | |
selbst sein, sagt Hamza Mohammed und tippt mit dem Zeigefinger an seinen | |
Kopf. Er feile an einer Strategie, und zusammen mit seinem Team werde die | |
dann umgesetzt. „Wenn ich vorher zu Gott bete, dann wird alles gut gehen, | |
gut gehen“, ist er überzeugt. Er trainiere zweimal täglich: morgens allein | |
und nachmittags im Team. Er sei gut vorbereitet, und die Frage, ob er ein | |
guter Fußballer ist, bejaht er, ohne zu zögern. | |
## Tanzende Bürgermeister | |
„Bitte alle reinkommen!“, ruft es unvermittelt aus einem großen Saal. Die | |
anderen Delegationen sind mittlerweile eingetroffen und versammeln sich an | |
runden Tischen. Besteck, Teller, Servietten liegen bereit. Sogar eine | |
Speisekarte mit dem Aufdruck der Special Olympic World Games liegt da. Der | |
Saal ist etwa so groß wie eine Sporthalle, ein Buffet ist aufgebaut, an der | |
Bar wird für Getränke gesorgt. | |
Ein DJ-Pult lässt erahnen, was noch kommen wird. Sehr viele junge Menschen | |
sind gekommen. Die Gruppen bleiben meist unter sich. Dort die Verwaltung | |
der Stadt, hier die Leute aus Kamerun, etwas am Rande leuchten die blauen | |
T-Shirts der Lebenshilfe, einer Organisation, die sich für die Teilhabe von | |
Menschen mit Behinderung in allen gesellschaftlichen Bereichen starkmacht, | |
darunter im Sport. | |
Es werden Reden gehalten, viele mit Dank bedacht und Geschenke verteilt. | |
Vier Menschen übersetzen in vier Sprachen. Auch die Madegassen sind nicht | |
mit leeren Händen gekommen: Sie gehen zu den Bürgermeistern und wickeln | |
ihnen ein Stück Stoff, der Lambahoany genannt wird, um die Hüften. Die | |
drei anwesenden Stadtoberhäupter stehen dann da, mit Rock, mitten in dem | |
Saal vor Hunderten Menschen – und beginnen zu tanzen. | |
Konrad Sutor engagiert sich im TSG Quedlinburg für Menschen mit geistiger | |
Behinderung. Er sagt: „Ab Herbst wollen wir inklusiven Basketball | |
anbieten.“ Das heißt Menschen mit und ohne Behinderung nehmen teil. Er | |
erlebt die Inklusion als eine Bereicherung für den Sport und vermutet die | |
Barrieren eher in den Köpfen der Menschen. | |
Eigentlich brauche es gar keine Veränderung der Strukturen, sondern nur die | |
Bereitschaft, etwas Neues zu probieren, sagt er. Dann nimmt jemand das | |
Mikrofon und erklärt, dass es in Deutschland üblich sei, zu Beginn eines | |
Wettkampfs „Sport frei!“ zu sagen. Darauf ruft er: „Sport!“, die Gäste | |
antworten: „frei!“ | |
## Laufen, werfen, tanzen | |
Am Tisch der Kameruner sitzt Lamina Ndognje. Sie redet kaum. Doch als das | |
Wort „frei“ im Saal erschallt, schaut sie das erste Mal auf. Ihre | |
Mundwinkel ziehen sich zu einem Lächeln nach oben, sie gluckst und mit | |
leichter Verzögerung spricht sie der Menge nach. Ein Basecap sitzt auf | |
ihrem Kopf, darunter schimmern rote Haare hervor. Sie trägt ein neongelbes | |
Sport-Shirt, dazu eine kurze bunte Hose. Um den Hals trägt sie einen Schal | |
von Germania Halberstadt. Lamina Ndognje ist 20 Jahre alt, sie tritt als | |
Leichtathletin bei den Special Olympics an. Laufen und Werfen, das sind | |
ihre Disziplinen. | |
Und Tanzen. Ohne Schiedsrichter und Wertung, aber sehr olympisch. Als | |
Shakiras Hit zur WM 2010 in Südafrika aus den Lautsprechern erklingt, kommt | |
Leben in ihren Körper. „Waka, Waka“, schallt es durch den Saal. Lamina | |
Ndognje setzt das Basecap ab, steht auf, hebt die Arme und betritt die | |
Tanzfläche. Es scheint nur sie und die Musik zu geben. | |
Dieses Fest will Einigkeit zeigen und den Sport als Vehikel auf dem Weg | |
dahin. Es stellt Deutschland als den Gastgeber dar, der für Toleranz steht, | |
sich diese etwas kosten lässt und ohne Vorurteile vereint. Man könnte glatt | |
vergessen, dass auch das deutsche System Menschen mit Behinderung | |
ausgegrenzt, schlecht entlohnt, unsichtbar macht. | |
So wird etwa unter dem Hashtag #IhrBeutetUnsAus in sozialen Medien auf die | |
Unterbezahlung in Werkstätten für Menschen mit Behinderung hierzulande | |
aufmerksam gemacht. Es wäre längst an der Zeit für Reformen, für eine | |
Diskussion über [3][eine gerechte Entlohnung, Transparenz, die Frage der | |
Mitbestimmung der Beschäftigten]. | |
So bunt sich das Land an diesem Tag präsentiert hat, in Sachsen-Anhalt gibt | |
es allzu viele Menschen, die sich rassistisch und diskriminierend | |
verhalten. Jede Fünfte Stimme bei der Landtagswahl ging an die AfD. | |
[4][Eine Partei, in der ein Zusammenhang zwischen Behinderung, Inzest und | |
Migration hergestellt wird], wie es der Hauptgeschäftsführer des | |
Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Ulrich Schneider, mal formuliert hat. | |
## Vorbild Deutschland | |
Doch für die Gäste aus Afrika ist der Umgang mit Menschen mit Behinderung | |
in Deutschland vorbildhaft. Sie zeigen Interesse am deutschen System, | |
wollen mehr über die Werkstätten erfahren. Sie nehmen an Führungen teil und | |
lassen sich genau erklären, wie das Gästebuch von einer Frau mit geistiger | |
Behinderung gefertigt wurde. Denn in Afrika gebe es gar keine Arbeit, kaum | |
Schulangebote und sehr wenig Akzeptanz, sagen die Coaches aus Kamerun und | |
Ghana. | |
Noch deutlichere Worte findet Alima. Sie lebt in Kamerun, ist aber kein | |
Mitglied der Delegation. „Bei uns kann es passieren, dass Kinder mit | |
Behinderung in den Fluss geworfen werden oder in die Mülltonne“, sagt sie. | |
Ein solches Kind werde als eine „Strafe Gottes“ verstanden. In das | |
Gästebuch schreibt sie, dass sie hier zum ersten Mal Wertschätzung für | |
Menschen mit Behinderung erfahren habe. Sie hoffe auf Unterstützung aus | |
Deutschland für den Kampf um Inklusion. | |
Dass ein Journalist sich nach ihrer Situation erkundigt, kann sie kaum | |
begreifen: „Es gibt keine Berichterstattung in Kamerun, keiner interessiert | |
sich für diese Menschen.“ Laut der Leiterin der Delegation gibt es etwa | |
3.000 Menschen mit Behinderung in ihrem Land – und nur eine Schule. Sie | |
habe eine Petition gestartet für das Recht auf Schulbildung, sagt sie. Wenn | |
5.000 Unterschriften geleistet seien, könne das Papier im Parlament | |
eingereicht werden. | |
Als Shakiras Stimme verklingt, kommt Lamina Ndognje zurück vom Tanzen. Sie | |
hält ihre Puppe vor sich und posiert für ein Foto. Hinter ihr fährt der Bus | |
mit der Delegation aus Ghana ab. Und mit ihnen auch der junge | |
Tischtennisspieler und Melinda Bukari. Sie lässt das Fenster herunter und | |
fragt: „Sehen wir uns in Berlin?“ | |
17 Jun 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.berlin2023.org/ | |
[2] /Special-Olympics-World-Games-in-Berlin/!5939605 | |
[3] /Juergen-Dusel-ueber-Barrierefreiheit/!5897236 | |
[4] /Lobbyist-zu-diskriminierender-Anfrage/!5501263 | |
## AUTOREN | |
Sean-Elias Ansa | |
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