| # taz.de -- Jürgen Dusel über Barrierefreiheit: „Kein Nice-to-have“ | |
| > Jürgen Dusel ist Behindertenbeauftragter der Regierung. Ein Gespräch über | |
| > Grenzen seines Amts, Expertise durch Erfahrung, Vorurteile und | |
| > Bürokratie. | |
| Bild: Jürgen Dusel in seinem Büro in Berlin | |
| wochentaz: Herr Dusel, wünschen Sie sich manchmal mehr Macht? | |
| Jürgen Dusel: Es reicht nicht aus, dass der Staat die | |
| UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert und sagt, das gilt jetzt bei | |
| uns. Er muss dafür sorgen, dass diese Rechte auch bei den Menschen | |
| ankommen. Da würde ich schon gern mit ein bisschen mehr Power reingehen. | |
| Am 3. Dezember ist Internationaler Tag der [1][Menschen mit Behinderungen]. | |
| Feiern Sie den oder ist es für Sie ein nerviges jährliches Ritual? | |
| Es ist kein Ritual, aber das ist der Tag der Aktivist*innen. Da halte ich | |
| mich als jemand, der von der Bundesregierung eingesetzt wird, eher zurück. | |
| Sie sind Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit | |
| Behinderungen. Ist Ihr Amt mit seiner begrenzten Macht eine Art | |
| Feigenblatt? | |
| Das Feigenblatt könnte auch Ohrfeigen verteilen. Ich erlebe manchmal, dass | |
| Leute im parlamentarischen Verfahren oder in der Politik genervt sind von | |
| uns. Ich sehe aber das Amt als Möglichkeit, Einfluss auszuüben. Die Frage | |
| ist natürlich: Reicht das oder brauchen wir dafür mehr? | |
| Sie werden zum Beispiel nur angehört, bevor neue Gesetze beschlossen | |
| werden, und haben dann kein Vetorecht. | |
| Mir würde es schon reichen, wenn die Regierung unsere Position nicht nur | |
| anhören, sondern auch begründen müsste, warum sie die dann nicht übernimmt. | |
| Aktuell wird das Behindertengleichstellungsgesetz evaluiert, da geht es | |
| auch um die Stellung des Behindertenbeauftragten. Ich bin gespannt, was | |
| dabei herauskommt. | |
| Müssten Sie nicht eigentlich Inklusionsbeauftragter sein? | |
| Das ist so eine Tradition des Amtes, das es ja schon seit 1981 gibt. Aber | |
| klar, darüber kann man reden. | |
| Glauben Sie, die Menschen da draußen wissen inzwischen, was Inklusion ist? | |
| Vor zehn Jahren hatten die meisten Leute weniger Ahnung. Heute verbinden | |
| viele den Begriff mit dem gemeinsamen Lernen. [2][Inklusion in der Schule] | |
| ist wichtig, vor allem für die Kinder ohne Behinderung. Da kann ich ihnen | |
| Geschichten erzählen – ich war ja als fast blinder Mensch auf einer | |
| Regelschule. Aber für die meisten Menschen mit Behinderung spielt Inklusion | |
| in der Schule keine Rolle. Mehr als 90 Prozent erwerben ihre Behinderung | |
| erst nach der Schule. | |
| Erzählen Sie von Ihrer Schulzeit. | |
| Ich war erst in einer Grundschule für sehbehinderte Kinder. Und dann sollte | |
| ich weit weg auf die Blindenstudienanstalt in Marburg, weil es hieß, so ein | |
| Kind mit Sehbehinderung können wir den Lehrer*innen an der Regelschule | |
| nicht zumuten. Dafür gebe es doch die Förderschule: kleine Klassen, | |
| qualifizierte Lehrer*innen, und das Kind wird nicht gemobbt. Stimmt ja | |
| vielleicht auch. Aber ich wollte da nicht hin. Ich wollte nicht im Internat | |
| sein. Da geht es nicht nur um die Frage Förderschule ja oder nein, sondern | |
| auch darum, was wir den Kindern zumuten. Ich war dann auf einer Schule, auf | |
| der vor allem Menschen ohne Behinderung waren. Und das war für mich ein | |
| Segen. | |
| Sie haben später Jura studiert. Wie haben Sie als nahezu blinder Mensch in | |
| der Schule und im Studium gelernt? | |
| In der Schule gab es ein paar Verabredungen. Alles, was an die Tafel | |
| geschrieben wird, wird vorgelesen. Bestimmte Texte habe ich größer | |
| bekommen, ich konnte damals mit der Nase auf dem Papier noch etwas | |
| erkennen. Im Studium war es viel schlimmer: In der Bibliothek gab es noch | |
| Zettelkästen, in denen man suchen musste. Das ging für mich natürlich | |
| nicht. Ich habe viel Zeit in Vorlesungen zugebracht und ein sehr gutes | |
| Gedächtnis entwickelt. Aber: Es war wirklich hart. Wenn man als Mensch mit | |
| Behinderung nicht die Unterstützung bekommt, die man braucht, dann ist das | |
| wie eine Bergwanderung mit einem Rucksack, der zehn Kilo schwerer ist als | |
| bei den anderen. Deswegen ist es so wichtig, dass wir die | |
| Unterstützungsstrukturen stärken. | |
| Eigentlich sollte längst jede Schule in Deutschland inklusiv sein. Gehören | |
| Sonderschulen abgeschafft? | |
| Langfristig ja, weil es richtig ist, dass Kinder mit und ohne Behinderung | |
| zusammen in die gleiche Schule gehen. Die Kinder mit Behinderung müssen | |
| aber ihren Mehrbedarf an Unterstützung bekommen, die Förderschulpädagogen | |
| müssen in die Regelschulen. Das fehlt in der Realität immer wieder, und | |
| dann fährt man das Thema Inklusion an die Wand. Dann fühlen sich die im | |
| Recht, die schon vorher gesagt haben, das klappt ja sowieso nicht mit dem | |
| gemeinsamen Lernen. | |
| Schauen wir auf den Arbeitsbereich. Was haben Sie da bisher erreicht? | |
| Viele Leute assoziieren mit dem Thema nur Menschen, die in den Werkstätten | |
| für behinderte Menschen arbeiten. Aber viel mehr arbeiten auf dem ersten | |
| Arbeitsmarkt. Deshalb war es für mich ein wichtiger Erfolg, dass wir in der | |
| letzten Legislatur für Menschen mit Schwerbehinderung, die Einkommenssteuer | |
| bezahlen, die Pauschbeträge verdoppelt haben. | |
| Viele Unternehmen drücken sich ja davor, die gesetzlich vorgeschriebene | |
| Zahl an Beschäftigten mit Schwerbehinderung einzuhalten, und zahlen | |
| stattdessen lieber die sogenannte Ausgleichsabgabe. | |
| Es kann nicht sein, dass ein Viertel aller beschäftigungspflichtigen | |
| Unternehmen keinen Menschen mit Schwerbehinderung beschäftigen. Was würde | |
| passieren, wenn in Deutschland ein Viertel aller Autofahrer*innen | |
| sagen würde: „Für mich gilt die Straßenverkehrsordnung nicht“? Ich glaub… | |
| der Staat würde reagieren. Deswegen will ich, dass die Ausgleichsabgabe | |
| für diejenigen verdoppelt wird, die trotz Beschäftigungspflicht keinen | |
| Menschen mit Schwerbehinderung beschäftigen. Das steht auch im | |
| Koalitionsvertrag und bis Ende des Jahres soll es einen entsprechenden | |
| Referentenentwurf geben. | |
| Warum stellen die Unternehmen denn nicht ein? | |
| Da hören Sie die immer gleichen Vorurteile: Menschen mit Behinderung seien | |
| häufiger krank oder nicht so leistungsfähig. Das ist falsch. Und dann kommt | |
| doch wieder das gemeinsame Lernen ins Spiel. Die Leute, die mit mir Abi | |
| gemacht haben, die können sich konkret einen vorstellen, der nichts sieht, | |
| aber sein Abi schafft. Da waren Leute dabei, die später | |
| Personalverantwortung übernommen und Menschen mit Behinderungen eingestellt | |
| haben. | |
| Es geht also nur um Vorurteile? | |
| Wir müssen auch die Systeme vereinfachen. Wenn ein kleines Unternehmen | |
| jemanden mit Schwerbehinderung einstellen will, dann kann es sein, dass am | |
| Montag die Bundesagentur für Arbeit kommt, am Dienstag das Integrationsamt, | |
| am Mittwoch ein Integrationsfachdienst, am Donnerstag der Arbeitsschutz, | |
| und am Freitag sagt dann der Unternehmer, das ist mir zu kompliziert. | |
| Deswegen habe ich empfohlen, dass wir einen zuständigen Träger brauchen, | |
| der alle Leistungen aus einer Hand anbietet. | |
| Sollten Werkstätten für Menschen mit Behinderung abgeschafft werden? | |
| Noch nicht. Wir müssen die Position der Leute ernst nehmen, die von der | |
| Schließung der Werkstätten betroffen wären. Für viele ist das auch ein Ort | |
| sozialer Interaktion. Da melden sich wieder ganz viele zu Wort, die | |
| vermeintlich genau wissen, was gut ist für die Menschen dort. Das ist | |
| paternalistisch. Aber wir müssen auf jeden Fall über Reformen sprechen: | |
| Entlohnung, Transparenz, die Frage der Mitbestimmung. | |
| Die Leute arbeiten [3][für ein bis zwei Euro pro Stunde]. | |
| Das ist nicht wertschätzend und ich würde am liebsten auch sofort [4][den | |
| Mindestlohn bezahlen]. Ich möchte aber nicht, dass die Leute in der Folge | |
| ihre Rentenanwartschaften verlieren und sich ihre Situation insgesamt | |
| verschlechtert. Dann gibt man ihnen Steine statt Brot. Bis Mitte nächsten | |
| Jahres soll eine Studie zu dem Thema vorliegen, dann können wir konkret | |
| über Gesetze reden. | |
| Frustriert es Sie manchmal, wie langsam alles vorangeht in Deutschland? | |
| Wir sind schon sehr groß darin, Dinge kompliziert zu machen. | |
| Da sticht dann der Denkmalschutz das Menschenrecht auf Teilhabe aus, und | |
| der barrierefreie Wohnungsbau scheitert an Kostenbedenken … | |
| [5][Barrierefreiheit] ist kein Nice-to-have. Wir leben in einer alternden | |
| Gesellschaft und bauen Wohnungen mit Barrieren? Das ist unprofessionell. | |
| Barrierefrei zu bauen ist vielleicht 1 bis 2 Prozent teurer, das lässt sich | |
| betriebswirtschaftlich getrost vernachlässigen. Und volkswirtschaftlich ist | |
| es ohnehin viel günstiger, wenn die Leute länger in ihren Wohnungen bleiben | |
| können. Was mir wichtig ist: Barrierefreiheit brauchen wir nicht nur aus | |
| sozialen Gründen, sondern weil es unser Land moderner macht. | |
| Was kann denn jede Einzelne tun, um inklusiver zu werden? | |
| Zuerst mal die eigenen Vorstellungen über Menschen mit Behinderungen noch | |
| mal hinterfragen. Sind die wissensbasiert oder eher so was Gefühltes? Und | |
| dann: Begegnungen schaffen – gemeinsam lernen, zur Arbeit und in die Kneipe | |
| gehen. Dann klappt das mit dem inklusiven Fußabdruck. | |
| 3 Dec 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Manuela Heim | |
| Jasmin Kalarickal | |
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