| # taz.de -- Choreographie inklusiv: Augen zu beim Tanz! | |
| > Die mixed-abled Tanz-Compagnie „Chorosom“ sieht alle Perspektiven als | |
| > gleichberechtigt an. Ihr Stück „BarriereArm“ wird in Itzehoe | |
| > uraufgeführt. | |
| Bild: Wie findet man zu einer Umarmung, wenn man nichts sieht? BarriereArm gibt… | |
| Itzehoe taz | Ob kurz und flüchtig oder innig und intensiv, ob ein | |
| schnelles Drücken oder ein langes Festhalten: Die Umarmung zählt zu den | |
| häufigsten nonverbalen, menschlichen Verhaltensweisen. Eigentlich. Mal | |
| abgesehen von den [1][Jahren der Pandemie. Da war eine Umarmung untersagt, | |
| war gefährlich.] | |
| Gerade „diese Abwesenheit“, so erinnert sich die Choreografin Katharina | |
| Jacobsen, „steckt noch immer in unseren Körpern und tief in unserem | |
| Bewusstsein drin. Und je länger wir zur Umarmung recherchiert haben, desto | |
| mehr hat sie sich als Thema aufgedrängt.“ Als Thema für die neue | |
| Tanzproduktion „BarriereArm“, die am heutigen Mittwoch Premiere feiert. | |
| Darin nähert sich die 2021 gegründete Tanzcompany „Chorosom“ dem Sujet auf | |
| eine besondere Weise: Sie hat den Anspruch, ihre Performance für alle | |
| Menschen – mit und ohne Behinderungen – so zugänglich wie möglich zu | |
| machen. | |
| In „BarriereArm“ erforschen also eine Tänzerin mit und eine ohne | |
| [2][Sehbeeinträchtigung] die Geste der Umarmung – ihre Abwesenheit, ihre | |
| Wirkung, ihre innerliche und äußerliche Berührung und auch die Barrieren, | |
| die damit verbunden sein können. | |
| ## Weg vom primär Visuellen | |
| Aber wie kann man eine Umarmung eigentlich kommunizieren, wenn man nicht | |
| sehen kann? Welche Sprache kann man für diesen Vorgang finden, wenn Mimik | |
| und Gestik nicht visuell erfahrbar sind? „Eine Umarmung“, so beschreibt es | |
| die Tänzerin Naomi Sanfo, „geht für mich ganz klar von der Körpermitte, von | |
| meinem Zentrum aus.“ Sie, eine Tänzerin mit Sehbeeinträchtigung, performt | |
| die Choreografie gemeinsam mit Soi Antifantis-Scherb. | |
| Aber tatsächlich macht „Chorosom“, übrigens Hamburgs erste professionelle | |
| mixed-abled Tanzcompany, keine Unterscheidungen zwischen sehend und nicht | |
| sehend und kreiert ihren Tanz weg von einem primär visuellen zu einem | |
| sinnlichen, auf mehreren Wahrnehmungsebenen erfahrbarem Erlebnis. | |
| „Dafür fordern wir die Zuschauer*innen auch auf, mal die Augen zu | |
| schließen“, erläutert Sahra Bazyar-Planke. „Natürlich sprechen sie dann | |
| immer erst mal davon, dass ihnen etwas genommen wird. Aber wir wollen mit | |
| unserer Arbeit darauf abzielen, dass sie bemerken, dass ihnen durch diesen | |
| Vorgang etwas geschenkt wird. Dass sie viel intensiver alle anderen Sinne | |
| schärfen und die Fühler ausstrecken. Und dass sie feststellen, dass eine | |
| Beeinträchtigung nicht ein Defizit darstellt.“ | |
| Für ihre Arbeit geht „Chorosom“ von der Gleichberechtigung aller | |
| Perspektiven aus, der „aesthetics of access“. Dieser Begriff bezeichnet die | |
| Praxis, [3][Barrierefreiheit] in der Kunstproduktion von Anfang an und mit | |
| einem künstlerischen Anspruch zu integrieren und eben nicht nachträglich | |
| hinzuzufügen. | |
| Eine Prämisse dabei ist, dass behinderte Künstler*innen mit ihrer | |
| Expertise von Anfang an am Prozess beteiligt sind. „Die Gleichberechtigung | |
| der Perspektiven bedeutet eben auch, dass es nicht nur die normative | |
| Perspektive gibt“: So fasst es Soi Anifantis-Scherb zusammen. | |
| Folglich ist die Person, die in der Tanzszene oft als korrektives „Outside | |
| Eye“ hinzugezogen wird, bei dieser Produktion ein „Outside Ear“. Für | |
| „BarriereArm“ hat die erblindete diplomierte Sprachgestalterin und | |
| Schauspielerin Pernille Sonne diese Aufgabe inne. | |
| Die Uraufführung findet am 25. Mai im Studio des „theater itzehoe“ statt, | |
| es folgen Gastspiele in Eidelstedt und Bad Oldesloe, denn [4][„BarriereArm“ | |
| entsteht im Rahmen von tanz.nord]. Die Initiative engagiert sich seit 2020 | |
| – gemeinsam mit vier Projektpartnern aus Hamburg und Schleswig-Holstein – | |
| dafür, eine Struktur für die Kooperation von Tanzschaffenden aus beiden | |
| Bundesländern zu schaffen. | |
| Da wird mal in Mehrzweckhallen gespielt und Scheunen, in Kirchen, | |
| Ladenlokalen, Schulen und auch mal in einem leer stehenden Edeka. Neue | |
| Spielstätten, neue Netzwerke, neues Publikum. „Ja, das ist Arbeit“, gibt | |
| Kirsten Burow, Projektkoordinatorin von tanz.nord offen zu. „Aber es ist | |
| eben auch der Auftrag von tanz.nord, die Szene im strukturschwachen, nicht | |
| gerade vom zeitgenössischen Tanz verwöhnten Schleswig-Holstein zu stärken | |
| und überhaupt zu erweitern.“ | |
| Und genau das sei auch „das Reizvolle und die Herausforderung daran“. Um | |
| anschließend bestenfalls festzustellen, dass auch diese Art von, man kann | |
| es vielleicht „strukturelle Beeinträchtigung“ nennen, kein Defizit | |
| darstellt. | |
| 29 May 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Von-der-Rueckkehr-der-Naehe/!5872103 | |
| [2] /Regisseurin-ueber-vielgestaltige-Koerper/!5814824 | |
| [3] /Ausstellung-Barrierefreiheit/!5784714 | |
| [4] https://tanznord.de/ | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Ullmann | |
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