# taz.de -- Teilhabe von Menschen mit Behinderung: Mindestlohn für alle | |
> Die Bundesregierung feiert sich für die baldige Einführung des | |
> 12-Euro-Mindestlohns. Der gilt aber nicht für alle. | |
Bild: Bekommen keinen Mindestlohn: die Beschäftigten in Behindertenwerkstätten | |
Vor mir steht eine Tasse Kakao. Fancy Kakao aka | |
Fair-Trade-Bio-Trinkschokolade, die ich geschenkt bekommen habe. Selbst | |
gekauft hätte ich sie mir nicht. Wie viele andere Menschen muss auch ich | |
nachrechnen, was bei mir in den Einkaufswagen kommt. Nach den Entlastungs-, | |
besser Almosenpaketen wird die Koalition sich nächste Woche mit der | |
Einführung des 12-Euro-Mindestlohns brüsten. Doch der wird angesichts der | |
Inflation für Millionen Menschen kaum etwas ändern im Portemonnaie. Viele | |
erhalten gar keinen Mindestlohn, weil sie durchs Raster fallen. | |
Schlupflöcher – zum Beispiel Saisonarbeitenden und Pflegekräften den | |
Mindestlohn nicht voll auszahlen zu müssen – wurden nicht gestopft. | |
Wer auch keinen Mindestlohn erhält und wo es seitens der Politik so gar | |
keine Bewegung gibt, sind die [1][Beschäftigten in Behindertenwerkstätten]. | |
Bei einem Stundenlohn von [2][etwa 80 Cent bis 2 Euro] werden sie von | |
Unternehmen und Vereinen wie IKEA, Daimler, Volkswagen und dem | |
Goethe-Institut [3][ausgebeutet]. Behindertenwerkstätten konkurrieren mit | |
Billiglohnanbietern aus dem Ausland. Über 320.000 Menschen mit Behinderung | |
erwirtschaften jährlich einen Umsatz von 8 Milliarden Euro. Ein lukratives | |
Business, außer für die Beschäftigten in den Werkstätten. | |
Ich staune nicht schlecht, als sich bei meinen Recherchen herausstellt, | |
dass auch das Unternehmen, das meinen Feel-Good-Kakao verkauft, in | |
Behindertenwerkstätten für sich arbeiten lässt. Teilhabe nennen sie das auf | |
ihrer Website. Social Washing nenne ich das, Schönfärberei. Auf der | |
Verpackung meines Kakaos wirbt GEPA, der „größte europäische Importeur fair | |
gehandelter Lebensmittel“ aus Ländern des globalen Südens, mit einer | |
Schwarzen Frau und der Aufschrift „Vom Kleinbauern aus Afrika“. White | |
Charity. | |
## Abschaffung des „Systems Werkstatt“ | |
Auf die Entlohnungspraktik in Werkstätten angesprochen, teilt GEPA auf | |
Nachfrage des enorm-Magazins mit, man gehe nicht davon aus, dass Menschen | |
ausgebeutet werden. Man kann nur mutmaßen, ob GEPA sich unwissend gibt, | |
weil sie davon profitieren. Stillschweigen, leere Versprechen oder | |
Ausreden, weshalb ein Mindestlohn hier nicht umsetzbar sei seitens der | |
Politik. Kein Wunder, dass Behindertenrechtsaktivist_innen eine Reform und | |
gar Abschaffung des „Systems Werkstatt“ fordern, wie auch die UN. | |
Mit einer ehemaligen Beschäftigten habe ich mich vor Kurzem unterhalten. | |
Sie hat jahrelang in einer Werkstatt gearbeitet in der Hoffnung, auf den | |
ersten Arbeitsmarkt zu kommen, wie die Werkstätten und das Gesetz es | |
versprechen. Doch der Arbeitsmarktwechsel passiert bei weniger als einem | |
Prozent. Auch bei ihr hat es als ältere Frau im Rollstuhl bislang nicht | |
geklappt. Deutschland hat kein Interesse an der Umsetzung echter Teilhabe. | |
Das haben die vergangenen Jahre, Monate und Wochen gezeigt. Ein | |
solidarischer heißer Herbst kann diese schwierigen Zeiten versüßen. | |
21 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Amina Aziz | |
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