# taz.de -- Behindertenpolitik: Wenig Fortschritte | |
> Der scheidende Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderung zieht | |
> Bilanz: Barrierefreiheit sei noch keine Selbstverständlichkeit. | |
Bild: Die rund 250 öffentlichen Citytoiletten sind barrierefrei. Doch der Sena… | |
Der Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderung, Jürgen Schneider, hat | |
zum Ende seiner Laufbahn mit deutlichen Worten Defizite in der Berliner | |
Behindertenpolitik benannt. So sei bis heute „Barrierefreiheit nicht einmal | |
bei kompletten Neubauen selbstverständlich“, kritisierte er am Freitag | |
anlässlich der Vorstellung seiner Nachfolgerin, Christine | |
Braunert-Rümenapf. | |
Als Beispiel nannte Schneider das Grimm-Zentrum. Die baulichen | |
Nachbesserungen der 2010 eröffneten Zentralbibliothek der | |
Humboldt-Universität hätten über eine Million Euro gekostet. | |
„Barrierefreiheit vorher zu berücksichtigen ist wesentlich günstiger.“ | |
Dennoch sei auch beim geplanten Einheitsdenkmal noch offen, ob es | |
barrierefrei werde. „Bei der Staatsoper wurde es immerhin zugesagt – mal | |
sehen“, zeigte er sich skeptisch. | |
Der 68-jährige Schneider geht am 1. September nach 34 Jahren Tätigkeit in | |
der Sozialverwaltung, davon fast die ganze Zeit zuständig für | |
Behindertenpolitik, in den Ruhestand. Seine Nachfolgerin ist studierte | |
Sozialpädagogin und kommt ursprünglich aus der Arbeit mit behinderten | |
Kindern und deren Familien. Seit fast fünf Jahren arbeitet sie im Büro des | |
Landesbeauftragten, hatte dessen Aufgaben bereits teilweise übernommen. | |
Grundsätzlich beklagte Schneider, dass „Behindertenpolitik immer wieder | |
gegen andere Themen hochgebracht werden muss“. Deswegen müsse bisweilen | |
auch bereits Erreichtes gegen harte Widerstände verteidigt werden. „Die | |
90er waren unsere goldenen Jahre. Damals konnten wir wegen der | |
Olympia-Bewerbungen und den dazugehörenden Paralympics große Schritte | |
machen.“ | |
Ein großer Erfolg sei etwa die Einführung der Niederflurbusse mit | |
„Kneeling“ – dem automatischen seitlichen Absenken an Haltestellen – | |
gewesen. Diese Technik ist für mobilitätseingeschränkte Menschen sehr | |
hilfreich. Doch 2013 habe dies die BVG wieder abschaffen wollen, erinnerte | |
Schneider. Nur mit viel Lobbyarbeit bei den Parteien habe dieser | |
Rückschritt verhindert werden können. Das Abgeordnetenhaus hatte am Ende | |
die Beibehaltung des Kneeling verlangt. | |
Noch nicht ausgestanden ist laut Schneider der Konflikt um die | |
City-Toiletten. Die inzwischen rund 250 öffentlichen, barrierefreien und | |
sich selbst reinigenden Unisex-Toiletten hatte die Verwaltung in den 90ern | |
zusammen mit der Außenwerbefirma Wall AG entwickelt, finanziert werden sie | |
über die Vermietung der Werbeflächen. „Das war damals eine Weltneuheit!“, | |
schwärmte Schneider am Freitag. Dennoch habe 2013 der Vorgängersenat den | |
Vertrag mit Wall gekündigt. „Das wird demnächst Probleme geben“, | |
prophezeite er, auch in der neuen Koalition gebe es für das Problem noch | |
keine Lösung. | |
Dem widersprach die anwesende Sozialsenatorin Elke Breitenbach | |
(Linkspartei), die ansonsten die Arbeit von Schneider in hohen Tönen lobte. | |
Die Koalition habe kürzlich festgelegt, dass der hohe Standard der | |
Toiletten in punkto Hygiene beibehalten werden soll und Betrieb und | |
Werbeflächen nun getrennt von der Umweltverwaltung ausgeschrieben werden. | |
Ob das funktionieren werde wie geplant, sei zwar offen, „aber der | |
Senatsbeschluss geht in die richtige Richtung“. | |
Schneider und seine Nachfolgerin Braunert-Rümenapf beharrten dennoch | |
darauf, dass der Haushaltsansatz für die City-Toiletten viel zu gering sei. | |
Nach Informationen des RBB will der Senat dafür 130 Millionen Euro | |
bereitstellen – verteilt über 15 Jahre. Jährlich wären das rund 9 Millionen | |
Euro. „Das ist weniger als das, was die BSR in den 90er Jahren für weniger | |
Toiletten bekam“, kritisierte Braunert-Rümenapf. | |
Als „kleinen Rückschritt“ bewertete Schneider im Rückblick auch die Novel… | |
der Bauordnung in der vorigen Legislatur. Damals habe er die Festlegung | |
gefordert, dass in Neubauten mit mehr als vier Stockwerken, in denen also | |
ein Aufzug ohnehin Vorschrift ist, 100 Prozent der Wohnungen barrierefrei | |
gebaut werden sollen. Erreicht habe man, dass 30 Prozent der Wohnungen in | |
diesen Fällen barrierefrei werden müssen, ab 2020 immerhin 50 Prozent. | |
Die Kontrolle, ob sich an diese Verordnung bei den zahlreichen | |
Neubauprojekten in der Stadt auch gehalten wird, bezeichnete | |
Braunert-Rümenapf als eine ihrer zentralen Aufgaben für die Zukunft – | |
ebenso wie die Suche nach einer Lösung für die City-Toiletten-Frage. Das | |
dritte Thema, dem sie sich schwerpunktmäßig widmen will, ist die inklusive | |
Schule. Es werde ja in naher Zukunft viel investiert in neue Schulbauten, | |
auch wegen der wachsenden Stadt und dem Umbau zur Ganztagseinrichtung, | |
erklärte sie. „Aber es gibt spezielle bauliche Anforderungen wegen der | |
inklusiven Schule“, etwa sogenannte Teilungsräume, wenn der Unterricht in | |
kleineren Gruppen stattfinde, spezielle Toiletten, Ruheräume. Dies müsse | |
bei Neubauplanungen berücksichtigt werden, forderte sie. | |
Als einen Punkt, an dem er „gescheitert“ ist, bezeichnete der scheidende | |
Landesbeauftragte die Frage der Entlohnung in den Behindertenwerkstätten. | |
Denn trotz Mindestlohn für „normale“ Arbeitnehmer gingen die Menschen in | |
Werkstätten „weiterhin mit einem Taschengeld nach Hause.“ Zwar sei klar, | |
dass hier eine Änderung „nicht von heute auf morgen“ möglich sei, da die | |
Werkstätten sonst pleitegingen. Schneider: „Aber da gibt es überhaupt | |
keinen Fortschritt.“ | |
27 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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