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# taz.de -- Ein Urinal für Frauen: Pinkeln gegen das Patriarchat
> Männer erleichtern sich in Pissoirs oder an Bäumen, Frauen müssen fast
> immer lange vor Kabinen warten. Deshalb gibt es jetzt das „Missoir“.
Bild: In der „Missoirsstellung“: Lena Olvedi (Mitte) beim Probesitzen auf i…
Es hocken da drei Frauen und unterhalten sich, während sie vor sich hin
urinieren, Großmutter, Mutter und Tochter. Sie sitzen mitten in
Berlin-Wedding auf dem Nettelbeckplatz. Im Hintergrund läuft ein Vortrag
über Gleichberechtigung für Frauen – [1][es ist der 8. März], im Wedding
findet eine Kundgebung zum Frauenkampftag statt. An diesem Feiertag in
Berlin riecht es nach Frühling, die Sonne scheint.
Als die drei Frauen nach einer Toilette suchten, entdeckten sie die
Kabinen, deren Außenwände mit Vulven in knalligen Farben dekoriert sind.
„Peequality for you and me“ und ähnliche Slogans stehen auf Pappschildern,
die an die Kabinen gepinnt sind. In den Kabinen befinden sich „Missoirs“,
also wasserlose Hockurinale, konzipiert für Flinta* (Frauen, Lesben,
Inter-, nonbinäre, Trans- und Agender-Personen).
Nebeneinander sind mehrere rechteckige Löcher in den Boden eingelassen,
darüber ein Gittersieb, das als Spritzschutz dient und dafür sorgt, dass
kein Müll in den Abfluss kommt. Unter dem Gitter ist ein Sammelbehälter für
den Urin. Das Missior ist ganz ohne Plastik gebaut, mit nachhaltigen
Materialien. An den Seiten befinden sich Klopapier und Haltegriffe. Wer
ohne diese auskommt, für die ist die Nutzung des Missoirs sogar kontaktlos.
Dazu Mülleimer, Desinfektionsspender, an der Wand Kleiderhaken und ein
Spiegel, an dem ein Sticker klebt: „Du bist schön“.
Lena Olvedi kommt in die Kabine und überprüft, ob alles sauber ist. In
ihrem leuchtenden grün-schwarzen Anzug mit Umhang sieht sie aus wie eine
Superheldin. Die 41-Jährige ist die Erfinderin des Missoirs. Sie erzählt
den Nutzer*innen, wie es funktioniert, lächelt alle an, fragt, wie es war.
Die älteste der Frauen, die ein [2][„Omas gegen Rechts“]-Shirt trägt,
antwortet: „Das ging vor allem ganz schnell. Wie früher als Kind: einfach
Rock hoch, Unterhose runter und fertig.“ Ihre Enkelin nickt zustimmend.
Das Missoir-Kapitel begann für Lena Olvedi 2017 in einem Berliner Club, als
sie mal wieder in einer viel zu langen Schlange vor der Frauentoilette
stand. Sie fand es unfair, dass Frauen so lange aushalten müssen und Männer
gleich zwei Möglichkeiten haben, sich zu erleichtern – Toiletten und
Pissoirs.
Olvedi begann sich Gedanken darüber zu machen, wie es besser gehen könnte.
Zu diesem Zeitpunkt arbeitete die Berlinerin seit 15 Jahren als
Requisiteurin und Locationscout fürs Fernsehen. Sie ahnte noch nicht, dass
sich die Schnapsidee, wie sie sie nennt, zu ihrem Lebensprojekt auswachsen
würde.
Dass es bei Frauen länger auf dem Klo dauert als bei Männern, sei Teil
eines strukturellen Problems, erklärt Olvedi. Denn bisher ist die Welt so
gebaut, dass Männer beim schnellen Urinieren Vorteile haben: Sie können
sich an lange Pissrinnen oder Pissoirs stellen. Hose auf, pinkeln, fertig.
Nicht mal berühren müssen sie die sanitären Anlagen dafür. Für Frauen
hingegen gibt es nur Einzelkabinen, die mehr Platz brauchen und bei denen
es zu längeren Wartezeiten kommt.
## Tampons und Bonbons
In den Kabinen sind Kloschüsseln, auf die sich viele aus hygienischen
Gründen nicht setzen möchten, ohne diese beispielsweise mit Klopapier zu
belegen oder sie sauberzumachen. Die Alternative ist, sich festzuhalten und
in komplizierteste Stellungen zu begeben, um nichts zu berühren. All das
braucht Zeit.
Zunächst hat Lena Olvedi jede freie Minute und ihren Jahresurlaub auf die
Recherche verwendet. „Von Materialkunde bis zu den Sanitärfachverbänden,
alles war mir neu. Aber ich hatte Feuer gefangen“, erzählt sie, während sie
zusammen mit den Pipilottas – wie sie ihr Team nennt – Tampons und Bonbons
an ihrem Stand neben den mobilen Kabinen verteilt.
2018 probierte Olvedi die ersten Missoirs auf einem von Freund*innen
organisierten Festival aus – mit positivem Feedback. Der erste Prototyp
stand 2019. Kurz danach kündigte sie ihre Festanstellung, und 2020 war via
Crowdfunding genug Geld zusammengekommen, um das erste mobile Missoir zu
bauen. Doch nun brach die Coronapandemie aus, fast alle Events wurden
abgesagt.
Das war nicht die einzige Schwierigkeit, die Olvedi meistern musste. Die
größte Herausforderung war es für sie, sich in einer männerdominierten
Branche zu behaupten. Als sie anfangs dezidiert nach Investorinnen,
Installateurinnen oder Herstellerinnen suchte, wurde sie oft ausgelacht.
Sie hatte auch selbst das Gefühl, als Frau im Business belächelt zu werden,
bei Anfragen ließ sie deshalb schließlich ihren Vornamen weg.
Überhaupt, ihr Vorname: Eigentlich heißt sie Ilona Habibi Laila Maria
Olvedi, doch weil sie von den vier Namen, den ihre ungarisch-deutschen
Eltern ihr gaben, nicht überzeugt war, gab sie sich selbst einen fünften:
Lena. Aufgewachsen ist sie auf La Palma, mit ihrer Familie lebte sie dort,
bis sie 21 war.
Schon als Schulkind sah sie es nicht ein, warum für sie anderes gelten
sollte als für die Jungs – und pinkelte neben den Schulweg. Aufgrund dieser
Kindheitsgewohnheit sei es für sie „kein Thema“, in der Öffentlichkeit zu
pinkeln.
Dabei ist Scham für viele ein Thema beim Urinieren. „Das Missoir ist
super“, sagt eine 40-Jährige, die die Pinkelvorrichtung zum ersten Mal
probiert, „aber bei mir dauert es lange, bis etwas rauskommt. Ich bin es
nicht gewohnt, neben Fremden zu pinkeln.“ Aus diesem Grund gibt es auch
Missoirs mit Trennwänden, doch Olvedi mag es lieber ohne: „Männer
unterhalten sich, während sie pinkeln, für uns ist es unangenehm.“
Auf Festivals habe sie jedoch die Erfahrung gemacht, dass das Missoir zum
Treffpunkt wurde. „Wenn wir dann doch anfangen zu quatschen, hören wir nie
auf“, sagt Olvedi und lacht. Im Einsatz war das Missoir schon auf [3][dem
Berliner Christopher Street Day], dem Hamburger Reeperbahnfestival oder auf
Technofestivals wie der Nation of Gondwana in Brandenburg. Beim Festival
der Selbstgebauten Musik in Berlin präsentierte Olvedi eine Installation
namens „Die singende Pinkelrinne“.
Das Missoir ist eine weitere Alternative zu den auf Festivals schon länger
populären Urinellas – einer Art Trichter aus Materialien wie Silikon,
Kunststoff oder Pappe, der anatomisch zum Frauenkörper passt, und es ihnen
ermöglicht im Stehen zu urinieren. Doch nicht für alle Flinta* sind
Urinellas eine Option. „Mit meinem Bauch kann ich keine Urinella benutzen“,
sagt eine Schwangere, die neben den Kabinen steht. Eine andere Frau meint:
„Es kann danebenlaufen, und außerdem möchte ich mir keinen künstlichen
Penis ansetzen – warum?“
Auch wenn Lena Olvedi anfangs keine feministischen Ansätze hatte („Ich
wollte nur schneller pullern können“), wurde ihr bald bewusst, dass sie
etwas zur Gleichberechtigung in Bezug auf ein Grundbedürfnis beitragen
könnte. Seitdem engagierte sie sich für Geschlechtergerechtigkeit in
öffentlichen Toiletten. „Das Problem fängt aber schon bei der Erziehung an:
Jungen wird vermittelt, es sei okay, gegen den Baum zu pinkeln, während
Mädels sich verstecken müssen.
Und so machen sie es auch als Erwachsene, zwischen zwei Autos, zum
Beispiel“, so Olvedi. Dass Frauen in Cafés fragen oder in öffentlichen
Toiletten 50 Cent bezahlen müssen, [4][während öffentliche Pissoirs für
Männer kostenlos sind], findet sie im Jahr 2022 in Deutschland unmöglich.
Das Berliner Buschfunk Bündnis, das auf der Kundgebung Unterschriften für
[5][seine Petition „Pee for Free“] sammelt, sieht es genauso. Es fordert
die zuständige Berliner Senatsverwaltung dazu auf, die bestehende
Benutzungsgebühr der öffentlichen Toiletten abzuschaffen und mehr für
Flinta* und Senior*innen nutzbare Toiletten in Parks und an öffentlichen
Plätzen zu schaffen.
In der Hasenheide, einem Park in Berlin-Neukölln, war von Juli 2021 bis zum
Januar 2022 ein Missoir als feste Toilette installiert. Doch nach Auslaufen
des Mietvertrags musste es abgebaut werden. „Im aktuellen Haushaltsjahr
sind keine Mittel zur Verfügung“, heißt es beim Bezirksamt [6][auf
Nachfrage der taz].
Dass schon 1906 in München ein öffentliches Frauenurinal existierte, sich
aber – wie alle weiteren Prototypen bis heute – nicht dauerhaft
durchsetzte, überrascht Olvedi nicht. „Die Entscheidungsträger sind
männlich und halten es für unnötig“, sagt sie. Dabei spart das Missoir
sogar Wasser, denn gespült werden muss nicht.
„Das Thema Pinkeln begrenzt sogar mein politisches Engagement“, erklärt
eine Frau auf der Kundgebung am 8. März. Oft gehe sie deshalb nicht
demonstrieren, weil es sie nervt „um eine Toilette kämpfen zu müssen“. Da…
sie am Frauenkampftag mit den Missoirs dabei sein darf, nennt Olvedi „eine
große Ehre“. Doch damit sei es nicht getan. Das Ziel sei, wieder einmal,
Gleichberechtigung – „für alle und überall“.
24 Apr 2022
## LINKS
[1] /Philosophin-ueber-Care-Arbeit/!5834052
[2] /Protest-gegen-Rechts-in-Berlin/!5606771
[3] /CSD-in-Berlin/!5789014
[4] /Oeffentliche-Toiletten-in-Berlin/!5752804
[5] https://www.change.org/p/pee-for-free-faire-toiletten-f%C3%BCr-die-stadt?re…
[6] /Es-gibt-zu-wenige-oeffentliche-Toiletten/!5837682
## AUTOREN
Luciana Ferrando
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