# taz.de -- Serie „Squid Game“ als Kulturexport: Pop und Power | |
> Dass die Netflix-Serie „Squid Game“ aus Südkorea kommt, hat | |
> gesellschaftliche Gründe. Kulturexporte haben für das Land | |
> globalpolitische Bedeutung. | |
Bild: An Halloween ein beliebtes Motiv: Kostüme aus der Serie „Squid Game“ | |
PEKING taz |Als am Samstagabend die Dunkelheit über Itaewon einbrach, dem | |
Ausgehviertel der südkoreanischen Hauptstadt, zeigte sich das exzessive | |
Nachtleben der Metropole erstmals wie vor der Pandemie. Zehntausende junge | |
Menschen bevölkerten die engen Gassen, um in Pubs und Nachtklubs | |
„Halloween“ zu feiern. | |
Dominierten in den letzten Jahren noch Krankenschwesterkostüme und | |
Vampirmasken das Straßenbild, schienen diesmal die meisten Partygänger | |
direkt aus dem [1][Filmset von „Squid Game“] zu entstammen: die Männer als | |
rote Gefängniswärter mit schwarzen Masken und umgehängten | |
Maschinenpistolen, die Frauen als gelb-orange gekleidete Gruselpuppen. | |
Kein Wunder, dass sich die Serie auch im Alltag der koreanischen Hauptstadt | |
niederschlägt: Die Serie ist mit rund 150 Millionen Zuschauern längst der | |
größte Erfolg des Streaming-Giganten Netflix, [2][fast 5 Millionen neue | |
Zuschauer] soll „Squid Game“ dem US-Unternehmen gebracht haben. Produziert | |
wurde die dystopische Gesellschaftssatire nicht zufällig in Südkorea – dem | |
vielleicht einzigen Land, das die kulturelle Hegemonie des Westens | |
nachhaltig durchbrochen hat. | |
[3][Der Plot von „Squid Game“] ist schnell erzählt: Die Serie handelt von | |
knapp 500 Menschen, die zwar aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen | |
Hintergründen stammen, sich aber allesamt hoch verschuldet haben. Sie | |
treten in neun Folgen bei scheinbar harmlosen Kinderspielen gegeneinander | |
an, um dort Preisgelder in Millionenhöhe zu gewinnen – und von ihren | |
finanziellen Nöten erlöst zu werden. Doch der makabre Wettbewerb duldet | |
keine zweite Chance: Wer es nicht in die nächste Runde schafft, wird | |
umgehend getötet. | |
## Boom von Koreanischkursen | |
Wie sehr die Allegorie auf Sozialdarwinismus und Ellbogengesellschaft den | |
universalen Zeitgeist trifft, lässt sich an den internationalen Reaktionen | |
ablesen. In den Vereinigten Staaten und Großbritannien meldet der | |
Online-Sprachdienst „Duolingo“ einen plötzlichen Boom an Koreanischkursen. | |
Von Belgien bis Deutschland imitieren Schüler auf Pausenhöfen die Spiele | |
aus der Serie. | |
In China, dessen Internetzensur „Squid Game“ bisher gesperrt hat, wurde die | |
Internetpiraterie auf illegalen Streaming-Seiten zu einem derart großen | |
Problem, dass sich zuletzt sogar Südkoreas Botschafter in Peking zu Wort | |
gemeldet hat. Und selbst Nordkorea konnte angesichts des weltweiten Erfolgs | |
nicht länger schweigen: Die Serie würde beweisen, dass Südkoreas | |
Gesellschaft „infiziert“ sei von „Korruption, Sittenlosigkeit und dem | |
Überleben des Stärkeren“, schreibt das Propagandamedium Arirang Meari. | |
Die Handlung ist [4][im Falle Südkoreas] ganz besonders als Metapher auf | |
den sozialen Überlebenskampf zu verstehen. Denn in der Tat wird dieser in | |
diesem Land deutlich härter ausgetragen als etwa in Wohlfahrtsstaaten | |
Europas. Der ostasiatische Tigerstaat war nach dem Koreakrieg von 1950 bis | |
1953 eines der ärmsten Länder der Welt, das Bruttoinlandsprodukt war | |
vergleichbar mit dem Ghanas. | |
In nur einer Generation schuftete sich die Bevölkerung dann unter | |
unglaublicher Aufopferung zu Wohlstand und nationalem Selbstbewusstsein: | |
Südkorea hat mittlerweile das zehntgrößte Bruttoinlandsprodukt aller | |
Staaten der Welt. | |
## Wachsende soziale Ungleichheit | |
Doch der vielleicht rasanteste Wirtschaftsaufstieg des 21. Jahrhunderts hat | |
viele gesellschaftliche Narben hinterlassen: Wachsende Ungleichheit, | |
fehlende soziale Absicherung, hohe Haushaltsschulden, Konformitätszwang und | |
ein ungemeiner Leistungsdruck sind nach wie vor verantwortlich dafür, dass | |
das Land am Han-Fluss seit der Jahrtausendwende fast durchgängig die | |
höchste Suizidrate aller OECD-Länder aufweist. | |
Zudem ist es keine Gesellschaft, die zweite Chancen zulässt: Wer sich im | |
Wettkampf um die begehrten Universitätsplätze durchsetzen kann, dem winkt | |
ein gut bezahlter Arbeitsplatz bei den großen Mischkonzernen à la Samsung | |
und Hyundai. Der große Rest hingegen profitiert kaum vom neugewonnenen | |
Wohlstand des Landes. | |
Lange Jahre versuchte die Unterhaltungsindustrie die sozialen Übel in | |
kitschigen Romanzen und albernen Komödien unter den Teppich zu kehren. Doch | |
längst stellt sich die konfuzianisch geprägte Gesellschaft immer mehr den | |
eigenen Problemen, wie sie allesamt auch in „Squid Game“ reflektiert | |
werden. | |
„Ein Grund, warum das rekordverdächtige Hit-Drama von Netflix bei so vielen | |
Menschen Anklang fand, ist, dass es auch ein sozialer Kommentar zu realen | |
Vorfällen in Korea ist“, schreibt etwa die Tageszeitung Korea Herald. In | |
einem Interview sagte der 50-jährige Regisseur Hwang Dong-hyuk, dass er das | |
„Überlebensspiel als eine Metapher, eine Parabel für die moderne | |
kapitalistische Gesellschaft“ zeigen wollte. | |
## Größte nationale Imagekampagne | |
Dass Netflix’ erfolgreichste Serie ausgerechnet aus Südkorea kommt, ist | |
dabei kein Zufall. Die Regierung in Seoul fördert schließlich seit Ende der | |
90er Jahre gezielt den Kulturexport als wirtschaftliche Wachstumsbranche. | |
Dabei wurzelt der Erfolg von K-Pop und K-Dramas in einer handfesten | |
Niederlage: Während der Finanzkrise Ende der 90er wurde das Land am | |
Han-Fluss von Massenarbeitslosigkeit und stagnierenden Exporten tief | |
getroffen. „Hätte es keine Krise gegeben, wäre es wohl nie zur koreanischen | |
Welle gekommen“, schreibt die Autorin Euny Hong in ihrem viel beachteten | |
Buch „The Birth Of Korean Cool“. | |
Als Lösung stieß der 1998 gewählte Präsident Kim Dae-jung einen Prozess an, | |
den Autorin Hong als „wohl größte nationale Imagekampagne in der | |
Weltgeschichte“ beschreibt. Das immer noch recht abgeschottete Land der | |
Morgenstille solle künftig der globalen Gemeinschaft beitreten – und die | |
Popkultur würde diese Botschaft in die Welt hinaustragen. | |
Rückblickend war es ein Geniestreich, in den Kulturexport einzusteigen. | |
Südkorea verfügt schließlich über kaum nennenswerte natürliche Ressourcen, | |
dafür aber über eine extrem gebildete, krisenerfahrene und wandlungsfähige | |
Bevölkerung. Doch gleichzeitig hatte man mit einem ernsthaften Imageproblem | |
zu kämpfen. Im Ausland verbanden die Leute Korea mit emsigen | |
Samsung-Angestellten, aber keinesfalls mit hippen Popikonen. | |
## Nicht nur Plastikpop | |
Erstmals sorgten schließlich koreanische Arthouse-Regisseure wie Park | |
Chan-wook („Old Boy“), Bong Joon-ho („The Host“, „Parasite“) und Ki… | |
(„Seom – die Insel“) beim europäischen Publikum für Respekt. In Asien | |
hingegen kamen vor allem der zuckersüße Pop der „Girls Generation“ gut an, | |
auch die kitschigen Seifenopern liefen schon bald im Hauptabendprogramm. | |
Den tatsächlichen Durchbruch der koreanischen Welle schafften spätestens | |
BTS: Die Boyband gilt weltweit als erfolgreichste ihrer Art. | |
Die neu gewonnene Soft Power hat auch das Stadtbild von Seoul verändert: | |
Das Hongik-Universitätsviertel und die Ausgehmeile Itaewon sind längst voll | |
von europäischen Austauschstudentinnen und jungen Kreativen, die es | |
aufgrund der Faszination für koreanische Popmusik, Modedesign und | |
Fernsehserien nach Ostasien gezogen hat. | |
„Squid Game“ reitet ebenfalls auf der koreanischen Welle, fügt jedoch dem | |
Kulturexport aus Seoul noch einen weiteren Aspekt hinzu: Die Serie beweist, | |
dass das Land nicht nur mit Plastikpop und seichter Unterhaltung | |
erfolgreich ist – sondern auch mit einer beißenden und vor allem | |
selbstkritischen Gesellschaftssatire. | |
1 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Kritik-an-Netflix-Serie-Squid-Game/!5806233 | |
[2] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/netflix-squid-game-erfolgr… | |
[3] /Die-Wahrheit/!5807483 | |
[4] /Gespraeche-zwischen-Nord--und-Suedkorea/!5801474 | |
## AUTOREN | |
Fabian Kretschmer | |
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