# taz.de -- Hinrichtung wegen Popkultur: Straftat K-Pop | |
> Nordkorea sieht die südkoreanische Pop-Industrie als eine Bedrohung. Das | |
> Schauen von K-Pop-Videos bestraft das Regime zum Teil mit dem Tod. | |
Bild: Die Girl Group ITZY in Goyang, Südkorea, im November | |
PEKING taz | Wer über die Menschenrechtsverbrechen des [1][nordkoreanischen | |
Regimes] berichtet, vollführt unweigerlich einen Drahtseilakt zwischen | |
Übertreibung und Verharmlosung. Denn oftmals werden die staatlichen | |
Gräueltaten angesichts des riesigen Informationsvakuums bis ins Groteske | |
überzogen. Gleichzeitig jedoch sind nicht wenige der schier unglaublichen | |
Anschuldigungen tatsächlich belegt. Was vielleicht noch nach einer | |
grausamen Boulevardüberschrift klingt, wurde nun Mitte Dezember von einer | |
südkoreanischen NGO dokumentiert: Nordkoreaner werden nach wie vor dafür | |
hingerichtet, wenn sie „illegale“ Videos aus dem südlichen Nachbarland | |
gucken. | |
Wie keine zweite Organisation versucht die Transitional Justice Working | |
Group (TJWG) mit Sitz in Seoul, die staatliche Gewalt der nordkoreanischen | |
Regierung wissenschaftlich zu erfassen. Dabei geht ihre Arbeit weit über | |
das Sammeln einzelner Augenzeugenberichte hinaus: Stattdessen soll durch | |
eine möglichst flächendeckende Erhebung ein objektives Bild über die Gräuel | |
unter Machthaber Kim Jong Un gezeichnet werden. Das langfristige Ziel der | |
NGO ist es, gegen das Vergessen anzukämpfen: Sollte das nordkoreanische | |
Regime in Zukunft einmal zusammenbrechen, können die Berichte der TJWG dazu | |
dienen, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen und den Opfern rechtliche | |
Anerkennung zuzusichern. | |
Für ihre aktuelle Studie haben die Bürgerrechtler aus Seoul über sechs | |
Jahre lang nahezu 700 nordkoreanische Flüchtlinge methodisch interviewt: | |
Ihnen wurden zunächst gewöhnliche Satellitenfotos ihrer Heimatstädte | |
vorgelegt, um geografische Ortskenntnisse, Erinnerungsvermögen und | |
Glaubwürdigkeit festzustellen. Schlussendlich befragten die Autoren die | |
Geflüchteten zu einem Thema, zu dem erstaunlich viele Nordkoreaner im Exil | |
ihre eigenen traumatischen Erfahrungen beizutragen haben: öffentliche | |
Hinrichtungen. | |
Diese finden meist im Freien statt, etwa auf Flugplätzen oder Feldern am | |
Ortsrand. Oftmals müssen den Erschießungen nicht nur die Angehörigen der | |
Verurteilten beiwohnen, sondern die gesamte Nachbarschaft – offensichtlich | |
aus Gründen der Abschreckung. „Selbst als bereits Flüssigkeit aus dem | |
Gehirn des Verurteilten austrat, mussten die Menschen noch in Reih und | |
Glied stehen bleiben und ihm ins Gesicht schauen“, sagt einer der | |
interviewten Nordkoreaner in der Studie. | |
## Psychologische Kriegsführung von Süden | |
Allein 23 solcher öffentlichen Exekutionen kann die NGO während des letzten | |
Jahrzehnts unter Kim Jong Un nachweisen. Zwei Drittel der Todesurteile | |
wurden wegen Straftatbeständen wie Drogenkonsum, Prostitution und Mord | |
ausgesprochen. In mindestens sieben Fällen wurden Bürger wegen eines | |
scheinbar trivialen Vergehens hingerichtet: das Schauen und Verbreiten | |
südkoreanischer Videos. | |
Repräsentativ für die Gesamtbevölkerung sind solche Erkenntnisse nicht. | |
Doch die meisten Flüchtlinge, die es nach Südkorea schaffen, stammen zu | |
großen Teilen aus der nördlichen Grenzregion zu China – einer Gegend, in | |
der der Schmuggel floriert. Zwischen den zwei Staaten, die nur vom wenige | |
Meter breiten und im Winter zugefrorenen Fluss Yalu getrennt werden, hehlen | |
die Händler aber nicht nur mit Waren, sondern auch mit Informationen. | |
Als Teil der psychologischen Kriegsführung hat Südkorea jahrelang speziell | |
präparierte Heißluftballons über die Grenze fliegen lassen. Die Luftpost | |
war meist mit politischen Propagandaflyern gefüllt, etwa Karikaturen über | |
die Kim-Familie. Oftmals enthielten die Sendungen auch triviale Bildchen | |
leicht bekleideter Frauen, die angeblich in Südkorea auf nordkoreanische | |
Soldaten warten würden, wenn diese desertieren. Wirklich wirksam war diese | |
Strategie nicht. | |
Seit gut zehn Jahren jedoch hat die Popkultur aus dem Süden Einzug in das | |
abgeschirmte Land gehalten – oftmals durch chinesische Händler und | |
Geschäftsleute. Diese schmuggeln südkoreanische Seifenopern und K-Pop-Musik | |
via USB-Sticks unter die Leute. Was nach trivialer Unterhaltung klingt, | |
birgt für das nordkoreanische Regime selbst eine geradezu existenzielle | |
Bedrohung. Denn [2][die glitzernde Botschaft eines hochentwickelten und | |
wohlhabenden Landes] kommt für viele Leute einem regelrechten Schock | |
gleich. | |
## Das Regime fürchtet den Wunsch nach Wohlstand | |
Wie das südkoreanische Database Center for North Korean Human Information | |
in einer Erhebung erfasst, sind fast zwei Drittel aller nordkoreanischen | |
Migranten in ihrem Heimatland mit Informationen aus dem Ausland in | |
Berührung gekommen. Nicht selten haben sie den entscheidenden Wunsch zur | |
Flucht ausgelöst. „Es ist kein Zufall, dass Kim Jong Un hart daran | |
arbeitet, dass Nordkoreaner keinen Zugang zu ausländischen Medien bekommen | |
und wenig Information über die Außenwelt haben“, sagt Andrei Lankov, einer | |
der führenden Kenner des Landes. | |
Der gebürtige Russe, der seit Jahrzehnten in Seoul lebt, sagt: „Die | |
Sowjetunion hat letztlich nicht die Aussicht auf eine westliche Wahlkabine | |
zu Fall gebracht, sondern die Verheißung eines westlichen Supermarktes.“ | |
Was Kim Jong Un also fürchtet, sei nicht so sehr der Ruf nach Demokratie | |
und Freiheit, sondern der Wunsch nach materiellem Wohlstand, wie er in | |
Südkorea längst erreicht worden ist. | |
Doch ausgerechnet die Coronapandemie hat das ohnehin abgeschirmte Nordkorea | |
nun vollkommen isoliert. Unabhängige Informationen dringen kaum mehr an die | |
Außenwelt, auch die Anzahl an Flüchtlingen ist dramatisch eingebrochen. | |
Höchstwahrscheinlich ist auch der Zugang zu Videos und Musik aus Südkorea | |
nicht mehr vorhanden. Genau zehn Jahre, nachdem Kim Jong Un den | |
Diktatorensessel in Pjöngjang besetzt hat, ist das Land so isoliert wie | |
zuletzt vor der Jahrtausendwende. | |
Und die Zukunftsprognosen sind alles andere als rosig: Wie Nordkorea in | |
einer weiteren Dekade dastehen wird, wollte erst kürzlich das Fachmedium NK | |
News von mehr als 80 der führenden Beobachter des Landes wissen. Das | |
wahrscheinlichste Szenario ist ernüchternd: Die Bevölkerung werde eine | |
„schwere humanitäre Krise“ und „Nahrungsmittelknappheit“ erleiden, wä… | |
die politische Elite weiter ihr Nuklearprogramm vorantreibt. Dass die | |
Machthaber dem breiten Volk ein besseres Leben verweigern, werden jedoch | |
viele von ihnen aufgrund der fehlenden Vergleichsmöglichkeiten gar nicht | |
begreifen. | |
29 Dec 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Gespraeche-zwischen-Nord--und-Suedkorea/!5801474 | |
[2] /Serie-Squid-Game-als-Kulturexport/!5809061 | |
## AUTOREN | |
Fabian Kretschmer | |
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