# taz.de -- Elektronik-Musikerin Park Hye Jin: Sharp bis zur Besessenheit | |
> In Südkorea sind deutlich mehr Frauen auf dem Dancefloor aktiv als | |
> hierzulande. Ein Beispiel ist das formidable Debüt „Before I Die“ von | |
> Park Hye Jin. | |
Bild: Läuft bei ihr: Park Hye Jin reckt den Daumen nach oben | |
Im Vergleich zu Deutschland und den meisten anderen Ländern gibt es in | |
Südkorea ungewöhnlich viele weibliche DJs. Das fiel mir unter anderem auf, | |
als ich vor Kurzem für die Videoplattform „MixMixTV“ aus Seoul zu einem | |
DJ-Set eingeladen wurde. Beim Scrollen durch die Liste der dort bisher | |
hochgeladenen DJ-Mixe wirkte es, als ob fast nur Frauen auflegen. | |
Ganz so verhält es sich natürlich nicht, aber DJ Better, eine der | |
Macher:innen von MixMixTV, bestätigte dennoch: „Vor zehn Jahren war das | |
Verhältnis noch 90 männlich zu 10 Prozent weiblich. Inzwischen ist es eher | |
60 zu 40.“ DJs wie Blumin, Pingpong, Nanamilk, Keikee, Dana, Roxy, Runxia | |
und unzählige weitere Künstlerinnen bespielen das gesamte stilistische | |
Spektrum der diversen DJ-Sounds, von Downbeat über HipHop und House, bis zu | |
bretthartem Techno. | |
Manche Frauen arbeiten mit Vinyl, die meisten benutzen USB-Sticks, im | |
allgemeinen sehr seriös, einige eher Influencer*innen-mäßig, nicht anders | |
als bei den Typen. Auf den hohen Stellenwert, den das DJ-Dasein als | |
identitätsstiftende Kulturtechnik auch und gerade unter jungen Frauen in | |
Südkorea hat, war ich aber auch schon ein paar Monate vorher aufmerksam | |
geworden, als ich aus heiterem Himmel gefragt worden war, ob ich vielleicht | |
eine kleine Rolle in einem Film spielen könnte, einer neuen | |
Independent-Produktion, dem Langfilmdebüt von Regisseurin Wonhee Jung. | |
## Den Traum leben | |
Der Plot handelt von einer jungen Frau, die gegen alle Widerstände und | |
obwohl schwanger, ihren Traum leben und DJ werden will. Bei einem großen | |
Wettbewerb winkt als ultimativer Hauptgewinn ein Gig in Berlin. Der Kopf | |
der Jury ist ein „berühmter Berliner DJ“. Tja, und diesen spiele ich – | |
streng, aber fair. Ohne zu viel zu verraten: Der Protagonistin wird von der | |
männlichen Konkurrenz einiges zugemutet und an Übel angetan– alles sehr | |
dramatisch, bisweilen traurig, es bewegt das Gemüt, aber es ist ja auch | |
eine koreanische Produktion, da geht nichts ohne Riesendrama. | |
Es scheint, dass eine Existenz als DJ, neben der selbstredend wundervollen | |
Aussicht, sein Leben vollumfänglich der Musik widmen zu können, nicht | |
zuletzt auch als [1][Feld weitreichender weiblicher Selbstbestimmung] in | |
einem nach wie vor recht konservativen Land identifiziert worden ist und | |
interpretiert werden kann. Nachfragen bezüglich einer potenziell | |
feministischen DJ-Agenda wurden allerdings stets ausweichend beantwortet. | |
Es gibt in Südkorea eine ziemlich harte, antifeministische Fraktion, | |
offenbar gerade unter jungen Männern, vor allem natürlich in den sozialen | |
Medien, wegen der das „F-Wort“ nicht allzu begeistert benutzt wird. | |
## Shitstorm wegen Kurzhaarschnitt | |
Schon ein Kurzhaarschnitt kann erhebliche Shitstorms auslösen, wie zuletzt | |
etwa die Bogenschützin An San erfahren musste, trotz dreier Goldmedaillen | |
bei der Olympiade in Tokio. Vielleicht auch aus diesem Grund ist die | |
Aussicht, über eine internationale DJ-Karriere Zugang zu liberaleren | |
Lebenswelten zu finden, sehr verlockend und hat schon so manche junge | |
DJ-Künstlerin, wie zum Beispiel Yaeji und Peggy Gou den Weg in den Westen | |
wählen lassen. | |
So auch Park Hye Jin. Wobei es natürlich auch sein kann, dass es nicht nur | |
das Patriarchat war, das sie zum Umzug nach Los Angeles bewogen hat. Auf | |
vorsichtiges Nachfragen in der Seouler Szene höre ich in höflichste Worte | |
gekleidete Formulierungen über gewisse Akzeptanzschwierigkeiten, die sie in | |
ihrem Heimatland offenbar gelegentlich hatte, so richtig erklärt mir das | |
niemand, aber man kann es sich schon so ein bisschen vorstellen. Und es | |
wird in Korea anscheinend auch nicht besonders geschätzt, Technotracks auf | |
Koreanisch zu singen, was Park Hye Jin recht häufig macht, meistens | |
gemischt mit Englisch. | |
Allzu viele Worte verliert sie zwar nicht in ihren Texten, gleichzeitig | |
legt sie aber dennoch Wert darauf, in praktisch jedem ihrer 15 Tracks des | |
Debütalbums ihre eigene Stimme einzubauen. Das ist der sicherste und | |
vielleicht auch einfachste Weg, um in der elektronischen Musikproduktion so | |
etwas wie eine unverwechselbare, individuelle Persönlichkeit zu erzeugen | |
und darzustellen. | |
## Sound und Gesicht zur richtigen Zeit | |
Über Akzeptanzschwierigkeiten kann sie sich jetzt jedenfalls nicht mehr | |
beklagen. Gerade wurde beim legendären Londoner Label Ninja Tune „Before I | |
Die“ veröffentlicht, das natürlich koreanisch-dramatisch betitelte | |
Debütalbum der 27-Jährigen. In Zeiten hoher Aufmerksamkeit und großen | |
Interesses für alles Kulturelle aus Korea, für K-Pop und K-Dramen, für | |
K-Kosmetik und natürlich K-Food, erscheint sie nun als Stimme, Sound und | |
Gesicht von K-Underground genau zur richtigen Zeit, in einem äußerst | |
freundlich gesinnten internationalen Medienumfeld. | |
Die junge koreanische Generation von heute ist nicht nur im Allgemeinen | |
sehr gut ausgebildet und schlau, sondern auch bis zur Besessenheit sharp | |
und hip. Die jeweils letzten Schreie, sei es im Pop, sei es in der | |
Gastronomie, seien es irgendwelche anderen Trends und Gadgets, werden in | |
rasanter Geschwindigkeit registriert, adaptiert und möglichst auf die | |
Spitze getrieben. Pausenloses Posten dieser jeweils aktuellen Adaptionen | |
und auch Neuerfindungen per Instagram, als Künstlerin oder Konsument, sorgt | |
für einen permanenten Präsentationsdruck, der die Kultur zwar auf Trab | |
hält, der aber auch auslaugt, belastend ist und für eine gewisse | |
Genervtheit sorgen kann. | |
Praktisch niemand in Südkorea ist faul, aber das englische Wort „lazy“ | |
findet sich auf vielen T-Shirts und in den Namen von Cafés. Es steht für | |
den stets unerfüllbaren Traum, den hier alle träumen, wenn sie sich nicht | |
gerade in ihrem dreitägigen Jahresurlaub befinden: mal die Seele baumeln | |
lassen. Auch vor diesem Hintergrund ist „Before I Die“ ein hypermodernes | |
K-Album, das so nur genau jetzt entstehen konnte. | |
## Mächtig übersteuert | |
Die Musik darauf besteht teils aus coolen House- und Technotracks im satt | |
erhöhten Geschwindigkeitsbereich, eher 130 als 120 bpm, mit mächtig | |
übersteuerten Kickdrums, und teils aus abgebremster, HipHop-artiger Musik. | |
Einige Stücke werden vom Piano getragen, was auf gehobenen Geschmack und | |
gute musikalische Ausbildung verweist; in anderen tauchen shoegazige | |
Indie-Gitarren auf, was auf subkulturelle Affinität hindeutet. | |
Was ihre Stile verbindet, ist die total angesagte LoFi-Produktion, die mit | |
Kollegen wie dem US-Produzenten [2][Galcher Lustwerk] (der auch einen Remix | |
für Parks erste Maxi beisteuerte), dem Schweden DJ Seinfeld und Ross from | |
Friends aus Großbritannien eine Konjunktur erlebt hat. | |
Vor allem von europäischen Tracks vorheriger Generationen, die zwar oft | |
durch unglaubliche Produktionsqualität glänzten, dabei jedoch keine tollen | |
musikalischen oder gar inhaltlichen Ideen hatten, setzt sich diese | |
undogmatische Szene bewusst ab. Park Hye Jin posiert und positioniert sich | |
mit dem neuen LoFi-Sound als Rolemodel ihrer persönlichen Attitüden und der | |
ihrer Generation – eher schlecht gelaunt, eher angeödet, als würde sie | |
stets eine Flappe ziehen. | |
Die erste Singleauskoppelung heißt „Let’s Sing, Let’s Dance“, und ich | |
möchte behaupten, dass ich noch nie so müde und abgenervt zu diesen | |
eigentlich heiteren Tätigkeiten aufgefordert worden bin. Park Hye Jin | |
greift auf das vernachlässigte Schnodderigkeitspotenzial auf dem Dancefloor | |
als Fortsetzung von DIY-Punk mit anderen Mitteln zurück. So, wie es in den | |
heroischen Tagen Ende der 80er Jahre offenbar wurde und wie es in der | |
langen Ära der kristallklaren Hi-Tech-Produktionen oft verloren gegangen | |
war. | |
## Nur noch kurze Passagen | |
Und noch etwas anderes an diesem Album klingt äußerst gegenwärtig: Wie der | |
junge US-Autor Kieran Press-Reynolds vergangenes Jahr in einem | |
[3][lesenswerten Text über TikTok] und dessen Rolle in der aktuellen | |
Musikrezeption analysierte, müssen Pop-Hits von heute nur noch 15 Sekunden | |
lang sein, dafür brauchen sie auch kein Intro mehr, keine Melodie, keine | |
Strophen, keine Refrains, sondern einfach nur noch „gute Passagen“. Auch | |
Spotify wertet einen Song bereits ab 30 Sekunden als „gespielt“ und damit | |
vergütungsfähig. | |
Alles, was über diese Zeitspanne hinausgeht, ist also im Grunde genommen | |
unnötige, gepflegter Faulheit im Weg stehende Zusatzarbeit. Ob das | |
Bescheidwissen über die Spielregeln von heute aber echte ökonomische | |
Vorteile bringt, sei mal dahingestellt. Ernsthaft profitieren bis dato nur | |
Popsuperstars. | |
Zwar sind die 15 Tracks auf „Before I Die“ graduell länger als diese | |
Minimalanforderungen – weit darüber hinaus dauern sie in den meisten Fällen | |
aber nicht, nach knapp zwei Minuten ist oft Schluss. So bleibt dann | |
natürlich auch kein Platz für sturzbachartige Wortfluten, wie sie | |
eigentlich für HipHop typisch sind. Park Hye Jins Rap-Reime beschränken | |
sich oft auf einen einzigen, seitlich aus dem Mundwinkel gedrückten Satz. | |
Die Musik besteht meistens aus genau einer guten Idee oder „guten Passage“, | |
ein Umstand, den ich, gerade auch als DJ, durchaus zu schätzen weiß. | |
Ob sich allerdings viele DJs, weiblich wie männlich, auf „Before I Die“ | |
stürzen werden? In gewisser Weise ist dies Singer/Songwriter-Musik, wenn | |
man so will, geht es im Sound von Park Hye Jin eher um (Anti-)Haltung, um | |
Persönlichkeit, um die Pose – nichts daran ist falsch, das war schon beim | |
frühen Dylan so. Nur dass die 27-jährige Künstlerin dafür heute wesentlich | |
weniger Worte gebrauchen muss. | |
16 Sep 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Feministischer-Bestseller-aus-Korea/!5757962 | |
[2] /US-Produzent-Galcher-Lustwerk/!5643239 | |
[3] https://www.highsnobiety.com/p/tik-tok-renegade-no-melody-rap/ | |
## AUTOREN | |
Hans Nieswandt | |
## TAGS | |
Debütalbum | |
Südkorea | |
DJ | |
Dancefloor | |
Feminismus | |
Südkorea | |
Neues Album | |
wochentaz | |
Südkorea | |
Südkorea | |
Dubstep | |
K-Pop | |
Album | |
Popmusik | |
Literatur | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
House | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Debütalbum von US-Koreanerin Yaeji: Süßes böses Werkzeug | |
„With a Hammer“, das Debüt der US-koreanischen Künstlerin Yaeji ist ein | |
formidables Popalbum, das wütende Texte musikalisch einfallsreich | |
darreicht. | |
Leipziger Sängerin Karo Lynn: Runter von der Couch | |
Zweifel gegen Düsternis: Die Leipziger Musikerin Karo Lynn präsentiert die | |
Popsongs ihres neuen Albums „A Line in My Skin“ bei einer Tour. | |
Die andere koreanische Popkultur: Immer am Klöppeln | |
Das Duo Salamanda aus Seoul erobert die elektronische Musikwelt mit | |
gewiefter Niedlichkeit. Bildet es eine Alternative zum omnipräsenten K-Pop? | |
Unglück bei Halloween-Party in Südkorea: Erdrückt in engen Gassen | |
Was die Party des Jahres werden sollte, wurde zur Tragödie: 150 Menschen | |
starben bei einer Massenpanik im Ausgehviertel Itaewon von Seoul. | |
Südkoreanische Popband BTS: Boygroup geht zum Militärdienst | |
Südkoreas erfolgreichste Popgruppe BTS pausiert für ihren Wehrdienst. Zuvor | |
war über eine Ausnahmeregelung für sie jahrelang debattiert worden. | |
Lebenszeichen von Londoner Burial: Gegen die Dämmerung | |
Der mysteriöse Londoner Dubstep-Produzent Burial ist wieder aufgetaucht und | |
veröffentlicht mit „Antidawn“ eine fantastische neue EP. | |
Hinrichtung wegen Popkultur: Straftat K-Pop | |
Nordkorea sieht die südkoreanische Pop-Industrie als eine Bedrohung. Das | |
Schauen von K-Pop-Videos bestraft das Regime zum Teil mit dem Tod. | |
Künstler:innen LUMP über ihr neues Album: „Bis mich die Muse küsst“ | |
Die britischen Künstler:innen Laura Marling und Mike Lindsay reden bei | |
der Arbeit nicht viel. Im Interview sprechen sie über Drone-Sounds und die | |
Lust zu tanzen. | |
Alben von Moor Mother und Loraine James: Tanzen und Stolpern gegen die Uhr | |
Moor Mother macht Protestmusik, ohne Slogans wiederzukäuen. Die Musik von | |
Loraine James verspricht eine bessere Gegenwart. | |
Feministischer Bestseller aus Korea: Ein ganz normales Frauenleben | |
Cho Nam-joo erzählt in dem ungewönlich sachlichen Roman „Kim Jiyoung, | |
geboren 1982“ von einer jungen Frau, die immer wieder ausgebremst wird. | |
Kampf gegen Corona: Was wir von Südkorea lernen können | |
In Seoul gab es weder einen Lockdown noch Ausgangssperren. Dennoch blieb | |
die 10-Millionen-Stadt von Covid-19 weitgehend verschont. | |
US-Produzent Galcher Lustwerk: Engel in Arbeitskluft | |
Rappen auf dem Dancefloor: Beim US-Houseproduzenten Galcher Lustwerk gehen | |
neue Pforten auf. Das beweist sein Album „Information“. |