# taz.de -- Feministischer Bestseller aus Korea: Ein ganz normales Frauenleben | |
> Cho Nam-joo erzählt in dem ungewönlich sachlichen Roman „Kim Jiyoung, | |
> geboren 1982“ von einer jungen Frau, die immer wieder ausgebremst wird. | |
Bild: Cho Nam-joo hat mit ihrem Roman den Nerv der Zeit getroffenn | |
Einer hat geschrieben: „Diese Bitch, sie ist doch hübsch, warum muss sie da | |
Feministin sein?“ Andere männliche Fans des K-Pop-Stars Irene, Mitglied von | |
Red Velvet, haben im Internet Bilder zerschnittener Fotos von ihr gepostet. | |
Irene ist durch bei diesen Jungs, seit die junge Frau bei einem Fantreffen | |
erwähnt hatte, dass sie gerade „Kim Jiyoung, geboren 1982“ gelesen habe. | |
Der Roman, im Original 2016 erschienen, wurde zum Millionenbestseller in | |
Korea, und das will etwas heißen. Den letzten Bestseller dieser | |
Größenordnung habe es, schreibt Wikipedia, im Jahr 2009 gegeben. Auch die | |
Verfilmung, die 2019 in die Kinos kam, verzeichnete Zuschauerrekorde. | |
Ja, „Kim Jiyoung, geboren 1982“ ist ein feministischer Roman. Und zwar | |
einer, in dem – und das macht sicher einen Großteil seiner Sprengkraft aus | |
– das Fiktionale im Grunde eine untergeordnete Rolle spielt. Die handelnden | |
Figuren mögen erfunden sein, aber das Leben, das sie führen, und die | |
Gesellschaft, in der sie das tun müssen, sind dasselbe Leben und dieselbe | |
Gesellschaft, die koreanische Frauen aus eigener Erfahrung kennen. | |
Die Autorin Nam-joo Cho (in koreanischer Schreibweise Cho Nam-joo) hat in | |
ihrem dritten Roman das Leben einer koreanischen Durchschnittsfrau | |
geschildert, gebettet in ein schlichtes, aber wirkungsvolles Konzept. Das | |
Ganze ist im sachlichen Stil eines unbeteiligten Berichts gehalten. | |
Statistische Daten, die in regelmäßigen Abständen einfließen, stellen einen | |
direkten Bezug der Ereignisse zur außerfiktionalen Realität her, die | |
Quellenangaben stehen in Fußnoten darunter. | |
Das Leben ihrer Protagonistin unterscheide sich nicht sehr von demjenigen, | |
das sie selbst geführt habe, hat Cho Nam-joo bekannt. Auch deshalb habe sie | |
den Roman so schnell schreiben können. Sie hat nur zwei Monate dafür | |
gebraucht. | |
## Ihre Mutter spricht aus ihrem Mund | |
Jiyoung, ihre Protagonistin, ist eine junge Mutter, Ehe- und Hausfrau, | |
Mitte dreißig, die plötzlich beginnt, sich seltsam zu verhalten. | |
Phasenweise scheint sie aus ihrem eigenen Leben auszusteigen, um eine | |
andere Person zu werden. | |
Mal ist es ihre Mutter, die aus ihrem Mund spricht, mal eine gute Freundin, | |
die einige Jahre zuvor verstorben ist. Immer sind es Frauen. Als fiktiver | |
Autor des Romans, der auf der Suche nach den Ursachen von Jiyoungs | |
Verhaltensauffälligkeiten ihr bisheriges Leben sachlich rekapituliert hat, | |
wird sich am Ende des Buchs ihr Psychiater erweisen. | |
Diese im Wortsinne musterhafte Kim Jiyoung, die 1982 als zweites von drei | |
Kindern in Seoul geboren wird, wächst in einer Welt auf, in der es normal | |
ist, dass der Jüngste in der Familie, der Bruder, seinen beiden Schwestern | |
gegenüber von Beginn an Privilegien hat, zum Beispiel bei Tisch gleich nach | |
dem Vater sein Essen serviert bekommt. | |
## Söhne bevorzugt | |
Was die Kinder nicht wissen, ist, dass die Mutter ursprünglich mit einem | |
Mädchen schwanger gewesen war, das als drittes Kind der Familie geboren | |
worden wäre, hätte sie es nicht abtreiben lassen. (Dazu die Statistik: Zu | |
Beginn der neunziger Jahre sind in Korea „bei den Drittgeborenen doppelt so | |
viele Jungen wie Mädchen“ zur Welt gekommen.) In der Schule, in die die | |
Schwestern gehen, gelten für Mädchen viel striktere Kleidungsvorschriften | |
als für Jungen. Mädchen, die sich gegen solche Ungerechtigkeiten auflehnen, | |
werden betraft. | |
Als Heranwachsende fühlt Jiyong sich im öffentlichen Raum oft von | |
Zudringlichkeiten fremder Männer unangenehm berührt oder gar bedroht. Über | |
Jiyoungs Studienzeit hat der Roman eher wenig zu berichten, oder fast nur | |
Gutes, scheint sie doch während ihrer Zeit an der Uni erstmals ein | |
nennenswertes Sozialleben zu haben. Jiyoung geht erste Liebesbeziehungen zu | |
Männern ein. | |
Schwierig wird alles wieder nach dem Studium, als sie lange vergeblich nach | |
einem Job sucht, da auch in der Arbeitswelt männlichen Bewerbern meist der | |
Vorzug gegeben wird und weibliche Angestellte viel geringere | |
Aufstiegschancen und niedrigere Gehälter haben. Dazu heißt es: „Laut einer | |
Statistik aus dem Jahr 2014 verdienen Frauen OECD-weit umgerechnet 844 | |
Dollar auf 1.000 Dollar Einkommen der Männer, in Korea sind es lediglich | |
653 Dollar.“ (Tatsächlich liegt Korea auch in aktuelleren Erhebungen mit | |
weitem Abstand ganz hinten; aber auch die deutsche Wirtschaft darf sich | |
schämen mit ihrem achtletzten Platz im OECD-Vergleich.) | |
Als Jiyoung nach der Heirat mit einem netten, verständnisvollen Mann ein | |
Kind bekommt, ist beiden klar, dass sie es sein muss, die ihre Arbeit | |
aufgibt, um das Baby zu versorgen, da doch ihr Mann wesentlich mehr | |
verdient. | |
## Bittere Enttäuschungen | |
Es geht aus dem Roman zwar auch klar hervor, dass sich im Vergleich zur | |
Generation von Kim Jiyoungs Mutter, die auf eine Ausbildung hatte | |
verzichten müssen, damit ihre Brüder studieren konnten, schon viel | |
zugunsten der koreanischen Frauen verbessert hat. Dennoch entsteht der | |
bittere Eindruck einer Gesellschaft, in der die jungen Frauen inzwischen | |
oft hochqualifiziert, aber gleichzeitig die traditionellen patriarchalen | |
Vorstellungen noch so tief verankert sind, dass sie gegen ihren Willen in | |
alte Rollenmuster zurückgedrängt werden. | |
Chos Verfahren, den Roman gleichsam im Gestus eines neutralen Arztberichts | |
zu verfassen, ist in doppelter Hinsicht raffiniert. Der minimalistische | |
Berichtsstil unterstreicht die exemplarische Allgemeingültigkeit des | |
Erzählten. Zugleich wird die Ausweglosigkeit von Jiyoungs Situation durch | |
diese Form noch deutlicher. | |
Denn so wohlmeinend der Psychiater sein mag: Auch er ist ein Mann, der als | |
personifizierter Stellvertreter für die männliche Mehrheit der Gesellschaft | |
steht. Zwar erkennt er die Ursachen der existenziellen Verstörung seiner | |
Patientin, kann ihr aber nicht helfen. Und offenbar versteht er nicht | |
einmal, dass er als Ehemann, dessen Frau des gemeinsamen Kindes wegen ihre | |
eigene Karriere aufgegeben hat, und als Arbeitgeber, der keine | |
verheirateten Frauen einstellt, selbst ein Teil des Problems ist. | |
17 Mar 2021 | |
## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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