| # taz.de -- Kampf gegen Corona: Was wir von Südkorea lernen können | |
| > In Seoul gab es weder einen Lockdown noch Ausgangssperren. Dennoch blieb | |
| > die 10-Millionen-Stadt von Covid-19 weitgehend verschont. | |
| Bild: Desinfektion einer U-Bahn-Station in Seoul | |
| SEOUL taz | Als ich am 24. Dezember 2019 in Seoul ankam – meine Frau war | |
| beruflich hierhin versetzt worden –, war die Welt noch in Ordnung; oder | |
| zumindest in dem Zustand der Unordnung, den wir bis dahin kannten. Einen | |
| Monat später, an meinem Geburtstag, wurde Wuhan in China abgeriegelt, und | |
| ich fing an, die zunächst launisch-informativen, dann immer | |
| eindringlicheren Posts des einsamen Mahners aus Peking, Christian Y. | |
| Schmidt, nicht nur zu lesen, sondern auch ernst zu nehmen. Denn jetzt | |
| wohnte ich direkt in der Nachbarschaft, und es war nur eine Frage der Zeit, | |
| bis Covid-19 auch nach Südkorea überspringen würde. Es dauerte dann auch | |
| nur etwa zwei Wochen, bis es in Daegu, im Süden Südkoreas, einen großen | |
| Cluster-Ausbruch gab, ausgelöst durch die Versammlung einer christlichen | |
| Sekte. | |
| Gefühlt verging eine Viertelstunde, bis die südkoreanische Regierung | |
| konsequente Maßnahmen ergriff – allerdings ohne Daegu komplett zu | |
| schließen. [1][Stattdessen wurde sofort begonnen, lokal zu isolieren, | |
| massiv zu testen und Ansteckungswege akribisch zurückzuverfolgen]. Das | |
| sogenannte Blaue Haus, der südkoreanische Regierungssitz, hätte vielleicht | |
| noch schneller handeln können, aber im Vergleich zu allen westlichen | |
| Regierungen hat es rasant reagiert. | |
| Die Zehn-Millionen-Einwohner-Metropole Seoul ist auf diese Weise bis heute | |
| weitgehend verschont geblieben; weder fand ein Lockdown statt noch wurden | |
| Ausgangssperren verhängt. Bis jetzt geht das Leben weiter, sehr gedämpft | |
| zwar und sehr nervös, aber stets ruhig und zivilisiert, keine Panik, | |
| nirgendwo. | |
| Dazu trugen allgegenwärtige Informationskampagnen der Regierung bei: | |
| Plötzlich begann mein Smartphone mehrmals täglich schrille Alarmsignale von | |
| sich zu geben, mit offiziellen Notfallhinweisen auf Städte, Gegenden, | |
| selbst Viertel, in denen es zu neuen Fällen gekommen war und die man | |
| deshalb meiden sollte. Die ständige Erinnerung an die reale Präsenz von | |
| Corona und das unweigerliche Näherrücken der Bedrohung war zwar sehr | |
| ungemütlich, gleichzeitig schärfte sie aber auch den Sinn für den Ernst der | |
| Lage. In U-Bahn-Stationen hingen überall Plakate mit Informationen zu den | |
| bekannten Verhaltensregeln: Mundschutz, Hände waschen, in die Ellenbeuge | |
| niesen. Es gab ständige Durchsagen. In jedem Bus waren am Einstieg und | |
| Ausstieg Desinfektionsflaschen befestigt. An großen Kreuzungen wurden | |
| Transparente mit Mahnungen und Adressen von Anlaufstellen angebracht. | |
| Masken wurden in Seoul schon immer von vielen Menschen getragen, als Schutz | |
| gegen Luftverschmutzung, aus kosmetischen Gründen, oder weil sie im Winter | |
| den Atem angenehm vorwärmen; es gab stets eine breite Auswahl auch an | |
| modischen Modellen. Jetzt läuft schon seit vielen Wochen niemand mehr ohne | |
| Maske herum. Auch ich gewöhnte mir das Maskentragen im öffentlichen Raum | |
| schnell an, schon aus Höflichkeit, aber auch aus Bammel. Mit der Maske | |
| hatte ich zunächst gewisse Probleme, allerdings nicht wegen meiner ach so | |
| anderen kulturellen Prägung, sondern wegen meiner relativ langen Nase; | |
| dadurch beschlug die Brille. | |
| Inzwischen klappt das aber ganz gut. Für mein Empfinden hat das allgemeine | |
| Maskentragen neben einem gewissen physischen Schutzfaktor auch einen | |
| stärkenden, psychologischen Effekt für das Gemeinschaftsgefühl innerhalb | |
| dieser Krise. Man signalisiert sich damit auch gegenseitige Rücksichtnahme, | |
| und dass man die kollektive Aufgabe des „Fighting“ – hier „hwaiting“ | |
| geschrieben –, wie man es hier schon seit Jahrzehnten nennt, individuell | |
| verstanden hat. All diese Praktiken haben dazu beigetragen, dass das Land | |
| nicht komplett heruntergefahren werden musste. | |
| ## Ausgeprägter Gemeinsinn | |
| Schulen und Universitäten wurden zwar früh geschlossen, aber Restaurants, | |
| Cafés, sogar Malls blieben geöffnet, wenngleich mit bedrückend wenig | |
| Kundschaft in diesem shoppingverrückten Land; dennoch brach nicht gleich | |
| alles völlig zusammen. Ein ausgeprägter Gemeinsinn hat dazu geführt, dass | |
| es hier zu keinem Zeitpunkt Hamsterkäufe und damit auch nirgendwo Engpässe | |
| gab – außer bei Masken, die jetzt rationiert sind, weil hier der | |
| Pro-Kopf-Verbrauch tatsächlich massiv gestiegen ist. Immer donnerstags in | |
| der Apotheke darf ich zwei neue holen, weil mein Geburtsjahr auf 4 endet. | |
| Eigentlich finde ich ja, dass in der modernen Welt die Bedeutung | |
| kultureller Unterschiede oft als übertrieben groß und im Dienste niedriger | |
| Beweggründe überzeichnet dargestellt wird. So groß sind sie schon lange | |
| nicht mehr, und E-Scooter werden in Korea genauso blöd geparkt wie überall | |
| sonst. Den gesellschaftlichen Umgang mit der Krise erlebe ich hier doch als | |
| sehr unterschiedlich im Vergleich zum westlichen Ansatz. | |
| Und hätte man in der ja so aufgeklärten westlichen Welt früher hingeschaut, | |
| wie in Ostasien über politische Systeme hinweg ähnlich agiert wurde, hätte | |
| man nicht immer nur mit dem Finger auf China gezeigt mit dem Argument, dass | |
| solche Maßnahmen in Demokratien nicht möglich wären, sondern stattdessen | |
| auch mal nach Südkorea geschaut, das zweifellos eine funktionierende | |
| Demokratie ist, dann hätte man sich vermutlich auch im Westen besser | |
| aufstellen können. | |
| Stattdessen hat der Westen tatenlos gewartet, aber auf was eigentlich? Ob | |
| Corona auch für Nichtasiaten ansteckend ist? Haben die Nudeln statt Gehirn | |
| im Kopf? So sagt man hier gerne scherzhaft – in diesen Tagen ein besonders | |
| bitterer Witz. | |
| Ich jedenfalls hätte mir niemals träumen lassen, dass ich mich jetzt, nach | |
| drei Monaten in Südkorea und nach zwei Monaten Alltag mit Covid-19, | |
| ausgerechnet hier besser aufgehoben fühlen würde als in Deutschland. | |
| 22 Mar 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Hans Nieswandt | |
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