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# taz.de -- Pandemie-Handling in Südkorea: Die unguten Gefühle bleiben
> Auch in Südkorea war 2020 frustrierend. Die Eindämmung von Corona gelingt
> aber besser, denn die Menschen begegnen der Gefahr als Kollektiv.
Bild: Auch Teddybären halten Abstand: Achtsamkeitsaktion in Seoul am 20. Novem…
„Es ist … so irrational!“, entfährt es Jin Ah vom Café „Woolf“ in S…
als ich ihr vom neuen, [1][deutschen Glühweinproblem] erzähle: der
Unfähigkeit zum Verzicht und der Unmöglichkeit, ihn im Gehen zu genießen,
falls man bei diesem Getränk überhaupt von Genuss sprechen kann. „Was ist
los mit euch Deutschen? Wir pflegten zu euch aufzuschauen!“ Tja, das
scheint sich gerade zu ändern.
Das nach der britischen Autorin Virginia Woolf benannte Café ist ein
Hotspot, allerdings nicht für Corona-Cluster-Infektionen, sondern für
feinen Jazz und feministisches Gedankengut. Damit gehört es in einer zu
weiten Teilen immer noch ziemlich konservativen koreanischen Gesellschaft
zwar klar zur Avantgarde – was aber den Umgang mit dem Virus und die
Einschätzung der diesbezüglichen westlichen Bemühungen betrifft, ist man
hier fest im kollektiven Konsens verankert: Gegenseitige Rücksichtnahme ist
der Schlüssel, über deutsche Maskenpanik kann man, egal ob progressiv oder
reaktionär, nur den Kopf schütteln.
Es war, coronatechnisch betrachtet, ein relativ gutes Jahr für Südkorea.
Allerdings nur im Vergleich zu fast allen anderen Ländern der Welt,
insbesondere den westlichen. Trotz der ziemlich erfolgreichen und vom
Westen mehr oder weniger ignorierten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie
war und ist es aber auch hier ein nervöses, angespanntes und frustrierendes
Jahr, das zu Ende geht, ohne dass damit auch die unguten Gefühle
verschwinden würden.
## Entschlossene Rücknahme
Im Gegenteil: Anfang Dezember stiegen die Neuansteckungen zuletzt auf über
600 täglich, den höchsten [2][Wert seit März]; die Todesfälle beziffern
sich derzeit auf insgesamt gut 550. In vielen anderen Ländern würde man
diese Zahlen vielleicht als erfreulich empfinden und sogleich
Lockerungsübungen machen. Im Großraum Seoul wurden dagegen alle Lockerungen
wieder entschlossen zurückgenommen, stattdessen gilt für die nächsten
Wochen nun die zweithöchste Sicherheitsstufe.
Für meinen Alltag hier bedeutet das zwar kaum spürbare Einschränkungen –
Restaurants müssen um 21 Uhr schließen, da habe ich meist schon gegessen;
Karaokeräume bleiben geschlossen, aber das mache ich sowieso lieber zu
Hause, wegen der besseren Musikauswahl; Cafés dürfen nur noch außer Haus
verkaufen, ich trinke den köstlichen koreanischen Kaffee sowieso lieber
unterwegs.
Für viele Seoulites, gerade junge Leute, stellt sich das alles aber
deutlich unangenehmer dar: Wegen oft beengter Wohnverhältnisse, meist mit
mehreren Generationen unter einem Dach, sind die omnipräsenten Coffeeshops
unverzichtbare Rückzugsräume, um konzentriert zu lernen, sich mit
Gleichaltrigen zu treffen oder einfach nur Ruhe zu haben. Zwar kostet hier
der Kaffee ein Drittel bis doppelt so viel wie in Deutschland; dafür sitzt
man auch gerne viermal so lang an einer Tasse, während man büffelt und über
seinen Büchern brütet.
## Bildung genießt höchste Priorität
Bildung hat in Südkorea höchste Priorität, und so war der 3. Dezember
wieder das entscheidende Datum des Jahres, der Tag der
Uni-Aufnahmeprüfungen. Große Teile der Gesellschaft sind dann im
Ausnahmezustand, Büros und Betriebe öffnen später, damit der reibungslose
Transport der Schüler zu den Prüfungsorten gewährleistet bleibt, Flugzeuge
bleiben am Boden, um die Konzentration nicht zu gefährden. Existenzen
hängen an diesem einen Tag, der in wenigen Stunden über die ganze weitere
Zukunft entscheiden kann. Dieses Jahr war es aber auch ein Stichtag, bis zu
welchem unbedingt durchgehalten werden musste; erst unmittelbar danach
wurden die Sicherheitsschrauben wieder fester angezogen.
Die Musikclubs hatten das schon früher zu spüren bekommen und mussten ihre
im Frühherbst zaghaft ausgestreckten Fühler bald wieder einziehen. Noch
Mitte November war es mir vergönnt gewesen, endlich mal wieder in einem
echten Club für echte Menschen Platten aufzulegen – wie ein Regenbogen am
Ende des Tunnels.
Doch das kann täuschen – tatsächlich erscheint in den langen
südkoreanischen Autobahntunneln bisweilen auf halber Länge ein künstlicher
Regenbogen, er dient lediglich dazu, die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten,
damit die Person am Steuer nicht einschläft. Eine von vielen in diesem Land
beliebten Maßnahmen staatlicher Fürsorge zur Erhöhung der allgemeinen
Achtsamkeit und damit Sicherheit. Diese erstrecken sich bisweilen weit in
die Privatsphäre der allgegenwärtigen Smartphones.
5-G-Internet sogar in der U-Bahn hat seine Nebeneffekte. Unaufgefordert
schieben sich Sicherheitshinweise mehrmals täglich in jedes
Telefongespräch, das daraufhin kurz unterbrochen wird; zur zweiten Natur
geworden ist mittlerweile das Fiebermessen und Einchecken in Cafés, Läden
und Restaurants per QR-Code. Für mich okay, aber für so manche Liebesaffäre
bedeutete dies schon die ungewollte Aufdeckung, ebenso für so manche bis
dahin diskret verschwiegene sexuelle Orientierung.
## Am virtuellen Pranger
Dr. Dong-Seon Chang, in Heidelberg geborener und in Tübingen promovierter
Neurowisenschaftler und Buchautor („Tanzen ist die beste Medizin“), der
seit einigen Jahren wieder in Seoul lebt, beschreibt das Problem der im
technikbegeisterten Südkorea notorischen virtuellen Pranger: „Kaum wird
einer abgestellt, macht der nächste unter einem anderen Namen und an
anderer Stelle wieder auf. Es ist in diesem Land einfach sehr beliebt, sich
dort umzusehen, aber es finden sich natürlich viele unbewiesene, oft auch
erfundene harte Anschuldigungen und Urteile. Südkorea hat übrigens eine der
höchsten Selbstmordraten der Welt.“
Eine Clusterinfektion in einem Schwulenclub im internationalen
Ausgehviertel Itaewon hatte die ohnehin unter moralischen Vorbehalten
stehende Clubszene im Frühling nachhaltig diskreditiert und unter Druck
gesetzt. Verschiedene Läden für elektronische Musik wie „Faust“, „Cakes…
und einige andere haben inzwischen eine Assoziation ähnlich der Berliner
Club Commission gegründet, um den Status der Clubs endlich auf ein
vernünftiges Level zu heben, um Anerkennung als kulturelle Institution zu
erreichen.
## Vom Club zur Tapasbar
„Die Nachtleben-Gesetze in Südkorea gehen teilweise noch auf die japanische
Besatzung zurück. Ein Nightclub mit der entsprechenden Lizenz und
Steuerklasse wird bis heute als Ort definiert, an dem man tanzen, rauchen
und trinken darf. Die Getränke werden dabei möglicherweise von jungen Damen
serviert. Das hängt noch mit der Geisha-Kultur zusammen. Eine solche Lizenz
ist steuerlich unerschwinglich für kleine Läden und es ist natürlich auch
nicht die Art Kultur, um die es uns geht. Stattdessen haben kleine Clubs
oft eine Restaurantlizenz und müssen daher Essen anbieten.
In einem Restaurant darf man nicht rauchen, okay, das wäre zu verschmerzen.
Man darf aber natürlich vor allem auch nicht tanzen, weswegen es anhaltende
Diskussionen darüber gibt, was genau Tanzen eigentlich bedeutet, ab wann
man von Tanzen sprechen kann“, erklärt mir Ed, einer der Macher des „Moor�…
wo ich auflegen durfte – eigentlich als Technoclub geplant, jetzt bis auf
Weiteres als Tapasbar definiert.
Trotz aller Einschränkungen der persönlichen und auch der wirtschaftlichen
Freiheit in diesem und in vielen anderen Sektoren kam es aber in Südkorea
praktisch zu keinen querdenkerischen oder einfach nur hedonistischen
Umtrieben, die Ausnahme waren evangelikale Gottesdienste, bei denen die
Hygieneregeln missachtet wurden. Das im Westen nach wie vor weit
verbreitete Streben zur Lücke, das zielstrebige Aufspüren von individuellen
Freiräumen, und sei es einfach durch das Ignorieren oder Diskreditieren von
Maßnahmenkatalogen, wird hier mit großer Verwunderung wahrgenommen.
Rationalität und gegenseitige Rücksichtnahme sind in Südkorea hohe Güter,
und zumindest Ersteres wurde bisher auch stets für eine typische
Eigenschaft der deutschen Kultur gehalten, deren hiesige Beliebtheit sich
nicht zuletzt in einer irritierenden Vielfalt von deutschen Wörtern im
öffentlichen Raum zeigt: Moor, Faust, Kammer, Liebe, Glück, Schwarzwald –
so heißen hier Clubs, Plattenläden, Häuser und Geschäfte.
Auf einer herbstlichen Rundreise durch die vom Virus weitgehend verschonten
Provinzen entdeckte ich an der Südküste sogar ein ganz deutsches Dorf:
Dogil Maeul, einst gegründet von heimgekehrten koreanischen Bergarbeitern
und Krankenschwestern, die jahrzehntelang in Deutschland gearbeitet hatten
und es sich nun in einer Art Schwäbische-Alb-Fantasie-Kaff mit Meerblick
gemütlich machen.
Hier sind die Fallzahlen verschwindend gering, anders als in den
Ballungsräumen; hier gibt es allerdings auch so gut wie keine
lebenshungrigen jungen Leute mehr. Außer denen, die in den
Gastronomiebetrieben dieses inzwischen zur Touristenattraktion avancierten
Ortes arbeiten, in Gasthöfen, die das einst so makellose Bild von
Deutschland immer noch im Namen tragen: „Danke Schnitzel“.
14 Dec 2020
## LINKS
[1] /Suendenboecke-in-Coronapandemie/!5730772
[2] /Kampf-gegen-Corona/!5672405
## AUTOREN
Hans Nieswandt
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