# taz.de -- Kolonialismus-Forscher über Genozide: „Es gibt nicht einmal Grä… | |
> Hamburgs Kolonialismus-Forscher Jürgen Zimmerer hat ein Fotoprojekt zur | |
> künstlerischen Aufarbeitung des Genozids an den Herero und Nama | |
> aufgelegt. | |
Bild: Kolonisator mit „Trophäen“: Foto aus der Sammlung Theodor Wroblewsky | |
taz: Herr Zimmerer, Sie haben in Hamburg ein deutsch-namibisches | |
Fotoprojekt über den Herero-Genozid initiiert. Kann das eine Entschuldigung | |
der Bundesregierung ersetzen? | |
Jürgen Zimmerer: Nein. Aber es kann nicht sein, dass die Aufarbeitung der | |
deutsch-namibischen Kolonialgeschichte allein aufs Juristische, auf die | |
schleppenden Verhandlungen um die Anerkennung des Genozids reduziert wird. | |
Eine Aufarbeitung muss auch aus den Zivilgesellschaften heraus passieren: | |
aus der deutschen, die über das Ausmaß des Genozids informiert werden und | |
die Aussöhnung mittragen muss – und aus der namibischen, die die Bedeutung | |
des Genozids für ihre Geschichte herausarbeiten und darüber Kontakt zu | |
einem weitgehend verdrängten und unterdrückten Kapitel der eigenen | |
Geschichte finden möchte. | |
Weswegen auch drei namibische KünstlerInnen am Projekt beteiligt sind. | |
Ja, wir wollen die Beteiligung der NamibierInnen ermöglichen, und wir sind | |
in der Bringschuld. Das Ungleichgewicht in der Kultur- und | |
Wissenschaftslandschaft zwischen Nord und Süd ist auch ein Resultat des | |
Kolonialismus und wirkt weiter. ForscherInnen und KünstlerInnen aus Namibia | |
etwa haben nur schwer Zugang zur Kunst- und Wissenschaftsszene im Globalen | |
Norden und zu deutschen Fördergeldern und Stipendien. | |
Wie soll das Fotoprojekt konkret aussehen? | |
Wir versuchen, gemeinsam mit dem Völkerkundemuseum Hamburg, den riesigen | |
Fundus an Kolonialfotografien aufzuarbeiten. Und wir beginnen mit den über | |
1.000 Fotografien aus dem Umkreis des Genozids an den Herero und Nama, | |
erfreulicherweise finanziert von der Gerda-Henkel-Stiftung. | |
Konkret heißt das? | |
Eine Hamburger Historikerin arbeitet die Fotos auf, und dazu kommen drei | |
KünstlerInnen aus Namibia, die ihre eigenen Projekte und ihre eigene | |
Sprache dazu entwickeln. Zum Abschluss werden wir in einer künstlerischen | |
Präsentation – in Hamburg und Namibia – ihre Sicht zeigen. Denn wir haben | |
zu diesem Genozid sehr viele Quellen aus deutscher Sicht, aber kaum | |
Quellen, die uns die Perspektive der Kolonisierten nahe bringen. Es gibt | |
nicht einmal Gräber der Opfer des Genozids, weil die Menschen in der Wüste | |
verdursteten, ihre Spur sich häufig dort verliert. | |
Dann sind die Fotos der Kolonialherren die einzige Spur? | |
Nicht die einzige, aber eine sehr wichtige. Aber um sie zu interpretieren, | |
ist eben auch der Blick der NamibierInnen darauf notwendig. Allein schon, | |
um den „kolonialen Blick“ nicht fortzuschreiben, also dass die Verfügungs- | |
und Deutungsmacht allein bei den Kolonisierenden und ihren Nachfahren | |
liegt. Wenn wir schon die Stimmen der Fotografierten nicht haben, wollen | |
wir wenigstens die Stimmen der übernächsten Generation einbeziehen. | |
Vielleicht hilft das, die traumatische Erfahrung zu bewältigen. | |
Zeigen die Fotos Gewalt? | |
Das Namibia-Konvolut des Völkerkunde-Museums enthält keine reinen | |
Gewalt-Fotos. Es sind eher indirekte Szenen; man sieht zum Beispiel | |
Herero-Frauen vor Eisenbahnschienen sitzen. Deuten kann man es nur, wenn | |
man weiß – und deshalb ist die wissenschaftliche Aufarbeitung des Kontexts | |
so wichtig –, dass diese Frauen beim Eisenbahnbau Zwangsarbeit leisteten, | |
mit hohen Todeszahlen. In anderen Archiven gibt es aber durchaus | |
Gewaltfotos. So habe ich selbst eine Karte mit dem Foto eines Gehenkten | |
gefunden, auf dessen Rückseite „Frohe Weihnachten“ stand und eine Adresse | |
in Deutschland. | |
Wer hat die Fotos gemacht? | |
Es waren deutsche Soldaten, Kolonialbeamte und Reisende. Der Großteil der | |
Sammlung im Museum für Völkerkunde Hamburg stammt aus einem jüngst wieder | |
aufgefundenen Konvolut eines Schutztruppenoffiziers, Alexander von | |
Hirschfeld. Wir wollen zeigen: Wie funktioniert der koloniale Blick dieser | |
Fotos? Und wie kann die heutige Generation damit umgehen? | |
Kolonialer Blick meint: Das Opfer wird verdinglicht? | |
Ja. Oder das Opfer ist sprachlos, ist ein Objekt, muss sich irgendwo | |
hinstellen und fotografieren lassen. In einem anderen Projekt fiel uns auf: | |
Afrikanische Menschen werden stets fast unbekleidet gezeigt, arabische | |
Menschen immer bekleidet. | |
Wie kommen die Fotos ins Hamburger Völkerkundemuseum? | |
Teils waren es wohl Schenkungen der beteiligten Offiziere, aber das ist | |
noch nicht erforscht. | |
Auch andere Exponate kamen auf unklaren Wegen in Völkerkundemuseen. Sollte | |
Provenienzforschung verpflichtend werden? | |
Ja. Ich schlage vor, komplett umzudenken. Bislang wird immer noch so getan, | |
als sei alles rechtmäßig dort, bis das Gegenteil nachgewiesen ist. Aber im | |
Kolonialismus war das Machtgefälle so groß, dass man die Beweislast | |
umkehren muss. Die Wahrscheinlichkeit, dass etwas unrechtmäßig oder unter | |
Druck erworben wurde, ist so groß, dass wir von einem Unrechts-Erwerb | |
ausgehen müssen – bis der rechtmäßige Erwerb bewiesen ist. Und rechtmäßig | |
nicht nur nach deutschem Recht! | |
Sollte man Objekte unklarer Herkunft überhaupt ausstellen? | |
Ja, natürlich. Viele Herkunftsgesellschaften sagen sogar: Zeigt uns, was | |
ihr in den Magazinen habt. Aber wer das tut, muss kenntlich machen, dass | |
der Erwerbungskontext problematisch ist. Und er muss fragen: Gibt es | |
jemanden, der es als Raubgut erkennt und zurück haben möchte? | |
Wie stark hat Hamburg vom Kolonialismus profitiert? | |
Sehr. Es war die zentrale Hafenstadt des deutschen Kaiserreichs. Dass | |
Deutschland Kolonien hatte, geht unter anderem auf eine Petition der | |
Handelskammer von 1883 zurück, in der die Hamburger Kaufleute Bismarck | |
baten, die westafrikanischen Handelsniederlassungen unter deutschen Schutz | |
zu stellen, also Kolonien zu gründen. Hamburg war zentrales Einfuhrtor für | |
koloniale Güter. Es war Angelpunkt zwischen der kolonialen Welt und dem | |
Deutschen Reich. | |
Mit dem Hafen als Drehscheibe. | |
Ja, und nicht nur für Güter. 90 Prozent der Truppen, die den Genozid an den | |
Herero und Nama verübten, wurden etwa vom Hamburger Baakenhafen aus | |
verschifft. Die Woermann-Linie hat sogar Eintrittskarten für die | |
Abschiedspartys vor Abfahrt dieser Schiffe verteilt. Auch Lothar von | |
Trotha, der diesen Genozid befehligte, fuhr in Hamburg ab und kam in | |
Hamburg wieder an. Das ist schon sehr exponiert. | |
Ist Hamburg bei der Aufarbeitung genauso exponiert? | |
Ja, als Hamburgs Senat 2014 beschloss, dass Hamburg das koloniale Erbe | |
aufarbeiten und ein stadtweites Erinnerungskonzept entwickeln müsse, war er | |
damit allein auf weiter Flur. Zumal es keine bloße Absichtserklärung war, | |
sondern eine dreijährige Anschubfinanzierung für die „Forschungsstelle | |
Hamburgs (post)koloniales Erbe“ umfasste. Inzwischen gibt es in Berlin und | |
Bremen ähnliche Absichtserklärungen. Aber mit dem Aufbau konkreter | |
Strukturen war und ist Hamburg deutschland-, wenn nicht europaweit | |
einmalig. | |
Was genau macht Ihre Forschungsstelle, die auch das Fotoprojekt betreut? | |
Wir suchen und erforschen die kolonialen Spuren in Hamburg und erforschen | |
die Verflechtung mit dem Kolonialismus auf allen Ebenen von Politik, | |
Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft. Und wir machen erstaunliche | |
Entdeckungen, beispielsweise zur Rolle der Theater. | |
Auch sie waren beteiligt? | |
Ja. Die Frage ist hier: Welche Rolle spielten Theater im Kaiserreich bei | |
der Propagierung der kolonialen Idee? Dazu gibt es nirgendwo Forschungen. | |
Und plötzlich finden wir immer mehr Orte, an denen Stücke mit kolonialen | |
Stoffen gespielt wurden. Giacomo Meyerbeers Oper „Die Afrikanerin“ zum | |
Beispiel war sehr populär – bis sie 1933 abgesetzt wurde, weil der | |
Komponist Jude war. | |
Ein weiteres Beispiel? | |
Nehmen Sie die Hamburger „Sülze-Unruhen“ 1919 – Arbeiterunruhen wegen | |
verdorbener Lebensmittel. Die schlug General Paul Emil von Lettow-Vorbeck, | |
als „Kolonialheld“ frisch aus Afrika zurück, so brutal nieder, dass man ihm | |
sagte, er sei hier nicht in Afrika. Solche Spuren dröseln wir auf. | |
Kürzlich hat Hamburgs Senat endlich entschieden, Ihre Forschungsstelle auf | |
Dauer zu fördern. Dann ist ja alles gut. | |
Jedenfalls ist es ein gutes Signal weit über Hamburg hinaus. Schließlich | |
bedeutet die Befassung mit Kolonialgeschichte im Grunde Zukunftsforschung. | |
Wenn wir Europäer nicht verstehen, wie die außereuropäische Welt uns | |
aufgrund der Kolonialgeschichte sieht, wird Europa nicht fähig sein, die | |
richtigen Entscheidungen für die Zukunft zu treffen. | |
Sie spielen auf die modernen Migrationsgesellschaften an. | |
Ja – aber ich meine es auch generell: Man kann den Diskurs „Europa hat | |
alles aus eigener Leistung geschaffen, und jetzt kommen die Migranten und | |
wollen etwas abhaben“ nicht isoliert stehen lassen. Diese Meistererzählung | |
blendet aus, dass die Europäer über 500 Jahre lang in andere Kontinente und | |
Regionen fuhren und sie ausbeuteten. Und dass die Migration jetzt die | |
Richtungsumkehr ist. Ähnliches sehen Sie in der Verlagerung der Zentren der | |
Weltwirtschaft von Europa weg etwa nach Asien. Die Globalisierung hat eine | |
Geschichte, und diese Geschichte ist die des europäischen Kolonialismus | |
seit 1415. | |
21 Feb 2018 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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