# taz.de -- Historiker über koloniale Aufarbeitung: „Ein Kratzen an der Ober… | |
> Der Historiker Jürgen Zimmerer erforscht, wie Hamburg von Völkermord und | |
> Kolonialismus profitiert hat. Dabei stößt er zunehmend auf Widerstände. | |
Bild: Die Soldaten kamen vor allem aus Hamburg: Völkermord-Denkmal in Windhuk | |
taz: Herr Zimmerer, das Buch „Hamburg: Tor zur kolonialen Welt“ ist 2021 | |
erschienen. Ist es nicht ein wenig spät, es erst jetzt im Kaisersaal | |
vorzustellen? | |
Jürgen Zimmerer: Besser spät als nie! Ich begrüße sehr, dass der Band nun | |
auch im Rathaus vorgestellt wir – und das an einem historischen Datum: In | |
der Nacht vom 11. auf den 12. Januar 1904 brach der Krieg der Herero in der | |
ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika aus. Hamburg spielte bei der | |
Brechung des Widerstands, die in den [1][Genozid an Herero und Nama] | |
mündete, eine wichtige Rolle. Es war die zentrale Drehscheibe für das | |
deutsche Militär. Das ist in dem Buch klar belegt und genau deshalb ist der | |
nach Wilhelm II. benannte Kaisersaal ein symbolträchtiger Ort zur | |
Vorstellung des Buches. Der Kaiser war der Ermöglicher des ersten | |
Völkermords des 20. Jahrhunderts. | |
Koloniale Denkmäler werden weltweit kritisch hinterfragt. Gibt es in | |
Hamburg kolonialträchtige Symbole, die Sie nerven, empören, entsetzen? | |
Ja. Im Michel befindet sich eine Gedenktafel für die deutschen Gefallenen | |
für Kaiser und Reich in China und Afrika – eine Tafel ohne jeden | |
historischen Kontext. Sie erinnert allein an die gefallenen deutschen | |
Soldaten. Die Toten auf der anderen Seite, die des blutig | |
niedergeschlagenen „Boxer-Aufstandes“ und des Genozids an Herero und Nama, | |
werden nicht erwähnt. Das ist ein Skandal. Das zweite Ärgernis ist fast | |
noch gravierender. Es dreht sich um die [2][Woermann-Linie], also die | |
Hamburger Reederei, die de facto das Monopol für Militärtransporte nach | |
Deutsch-Südwestafrika hatte und sich ab dem 12. Januar 1904 dumm und | |
dusselig an diesem Krieg verdiente. Über 90 Prozent der Soldaten und des | |
Nachschubs wurden über Hamburg verschifft. Auch der General, der den | |
Völkermord quasi kommandiert hat, Lothar von Trotha, ist in Hamburg | |
abgefahren, nach Hamburg zurückgekehrt und ihm wurde im Hotel Atlantic sein | |
Orden angeheftet. Dort, wo die Schiffe der Woermann-Linie im Baakenhafen | |
starteten und heute Neubauten entstehen, erinnert nichts an diese | |
Geschichte: keine Gedenktafel, keine Plakette – nichts. | |
Warum? | |
Zum einen ist ein Teil dieser Geschichte erst im Kontext unseres | |
Buchprojekts erforscht worden. Heute kommt man nicht mehr an der Tatsache | |
vorbei, dass der Genozid an Herero und Nama ohne den Hamburger Hafen als | |
Drehscheibe kaum denkbar war. Ein Grund, weshalb Kultursenator Carsten | |
Brosda im April 2018 beim Besuch einer Herero- und Nama-Delegation | |
ausdrücklich um Vergebung für die Beteiligung Hamburgs am Genozid gebeten | |
hat. Gleichwohl ist auffällig, dass Erinnerung an die Hamburger | |
Kolonialgeschichte im öffentlichen Raum nicht gerade en vogue ist. Ich sehe | |
eine Tendenz zum Portionieren, thematischen Abgrenzen. Ein Beispiel: | |
[3][die Rückgabe der 22 Benin-Bronzen am 20. Dezember] von Außenministerin | |
Annalena Baerbock in Nigeria. Eine positive Zäsur, doch in meiner | |
Wahrnehmung geht damit einher, dass „unser“ Beitrag zur Aufarbeitung erst | |
mal geleistet sei. | |
Und danach – Pause? | |
Ja, punktuelles Aufarbeiten und [4][danach „weiter so]“ scheint mir die | |
Devise. Fakt ist jedoch, dass Kolonialismus strukturell in die DNA Europas | |
und explizit in die von Hafenstädten wie Hamburg eingeschrieben ist, so | |
dass sich diese Tendenz zur Portionierung verbieten sollte. Ich denke, man | |
muss an die Wirtschaft ran, deren Rolle analysieren, klären, inwieweit | |
Hamburgs Reichtum auf Kolonialismus, auf Ausbeutung, Zwangsarbeit und | |
Sklavenhandel basiert. Doch das wollen einige nicht. Wir merken, dass der | |
Widerstand gegen koloniale Aufarbeitung größer wird. | |
Auch in der Finanzierung der europaweit einmaligen [5][Forschungsstelle | |
„Hamburgs (post-)koloniales Erbe“]? | |
Stand heute ist die Finanzierung für die nächsten zwei Jahre gesichert, | |
allerdings auf niedrigem Niveau. Gerade für Projekte mit KollegInnen aus | |
den ehemaligen Kolonien bleiben kaum Mittel. Erfreulich ist der Wille der | |
Bürgerschaft, daraus ein bundesdeutsches Forschungszentrum zum deutschen | |
Kolonialismus zu machen. Als Kolonialmetropole ist Hamburg der ideale Ort. | |
Die Nähe zum Deutschen Hafenmuseum spricht auch dafür. | |
„Hamburg: Tor zur kolonialen Welt“ liefert einen Überblick zum aktuellen | |
Forschungsstand. Wo wollen Sie künftig ansetzen? | |
Wir haben bei den meisten Themen bisher nur an der Oberfläche gekratzt. Den | |
Bereich der kolonialen Industrialisierung und das Tabuthema Hamburg und die | |
Sklaverei würde ich gern in den kommenden Jahren in den Fokus stellen. | |
11 Jan 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Deutsche-Kolonialverbrechen-in-Namibia/!5189003 | |
[2] /Strassenumbenennung-in-Ohlsdorf/!5596509 | |
[3] /Rueckgabe-von-Beutekunst/!5900773 | |
[4] /Aufarbeitung-des-deutschen-Kolonialismus/!5767433 | |
[5] https://kolonialismus.blogs.uni-hamburg.de/ | |
## AUTOREN | |
Knut Henkel | |
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