# taz.de -- Die neue Wohnungslosigkeit: „Wer obdachlos wird, ist kein Penner�… | |
> Die Zahl der Wohnungslosen steigt. Und diese Gruppe ist vielfältiger | |
> geworden. Manchmal reicht ein Schufa-Eintrag für die Misere. | |
Bild: Nicht jede/r Obdachlose/r schafft es überhaupt, eine Notunterkunft aufzu… | |
BERLIN/MÜNCHEN taz | „Ich hab noch Glück gehabt“, sagt Sonja N., „aber … | |
bin jetzt auch im Karussell. Vielleicht komm ich nie mehr hier raus“. Die | |
51-jährige gelernte Einzelhandelskauffrau wohnt im Einzelzimmer im | |
Erstaufnahmeheim in der Forckenbeckstraße in Berlin-Wilmersdorf. Mit Hund, | |
Kühlschrank, einem Sonnenfenster. „Erstaufnahme“: Das klingt nach ein paar | |
Tagen Aufenthalt für Notfälle. Aber N. lebt schon über ein Jahr hier. Und | |
manche ihrer Mitbewohner sind hier sogar schon mehr als ein Jahrzehnt. | |
„Unsere Bewohnerschaft ist sehr heterogen“, sagt Heimleiter Clemens | |
Ostermann über die Einrichtung mit 108 Plätzen, „da sind auch bürgerliche | |
Leute dabei, sogar Akademiker.“ Das Heim wirkt wie eine Arche Noah voller | |
Menschen, die eigentlich nur eint, dass sie kaum eine Chance haben auf dem | |
normalen Wohnungsmarkt. Hier leben deutsche Verschuldete mit | |
Schufa-Eintrag, Alkoholiker und psychisch Kranke, Altersarme, anerkannte | |
syrische Flüchtlinge mit Universitätsabschluss, EU-Osteuropäer mit | |
Minijobs, die aufstockende Hartz-IV-Leistungen beziehen, Menschen mit | |
Behinderungen. | |
Die Gruppe der Wohnungslosen ist vielfältiger geworden, das zeigt sich | |
nicht nur in der Forckenbeckstraße. Es war auch Thema der Bundestagung der | |
Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG) in Berlin, die noch bis | |
Freitag läuft. 860.000 Wohnungslose gibt es laut BAG in Deutschland. Etwa | |
die Hälfte davon sind anerkannte Flüchtlinge. 52.000 der Wohnungslosen | |
leben auf der Straße, rund die Hälfte von ihnen sind EU-BürgerInnen. | |
„Man sollte nicht alle in einen Topf werfen“, sagt Sonja N. Sie selbst hat | |
eine Scheidung hinter sich, dann kamen die Depressionen, sie verlor ihren | |
Job, dann die Wohnung, die nur befristet war, dann eine vorübergehende | |
Bleibe. „Wer obdachlos wird, ist kein Penner“, betont die Blondine mit dem | |
freundlichen Gesicht, „das sind Leute, die oft schwere Schicksale hinter | |
sich haben.“ Ein Problem von N. ist der Schufa-Eintrag. Nach einem Einkauf | |
mit einer ungedeckten Kreditkarte erreichten die Bankbriefe sie nicht wegen | |
einer Adressenänderung. Großes Pech. „Mit Schufa-Eintrag kannst du die | |
Wohnungssuche vergessen“, sagt N., „ich habe mich schon hunderte Male | |
beworben.“ Wenn man die gewohnte Bonitätssicherheit nicht bringen kann, | |
schalten die Vermieter auf stur. | |
## Der Wohnungsmarkt der Metropolen | |
N. ist ein Beispiel dafür, was sich verändert hat auf dem Wohnungsmarkt der | |
Metropolen: Es gibt sie kaum noch, die Sozialwohnungen für Fälle wie sie. | |
Wohnungen für Leute, die eine Krise haben und keine Arbeit. Die aber | |
deswegen noch lange nicht auf Dauer in eine Obdachlosenunterkunft gehören. | |
Der Deutsche Städtetag hatte vor 30 Jahren eigentlich beschlossen, dass | |
Schluss sein soll mit den Obdachlosenheimen. Aber die Zahl der | |
Sozialwohnungen sinkt in den Metropolen, die Häuser fallen aus der | |
Sozialbindung und zu wenige werden neu gebaut. | |
Auch der Bedarf hat sich geändert: Vor allem fehlen bezahlbare | |
Kleinwohnungen und Wohnungen für kinderreiche Familien. Hartz-IV-Empfänger, | |
die aus dem Obdachlosenheim kommen, dürfen etwa in Berlin eine Wohnung mit | |
einer Bruttokaltmiete von 437 Euro anmieten. Doch um preiswerte | |
Appartements konkurrieren nicht nur in der Hauptstadt Tausende. Es ist eher | |
unwahrscheinlich, dass sich das unter einer Jamaika-Regierung ändert. | |
Sozialer Wohnungsbau stand bisher bei der Union nicht oben auf der Agenda. | |
Heime wie das in der Forckenbeckstraße werden daher wieder gebraucht. „Es | |
gibt viel mehr Interessenten, als wir Plätze hier haben“, sagt Ostermann. | |
Im Heim kann man so lange bleiben wie nötig, braucht dazu aber einen | |
Anspruch auf Sozialleistungen, also Hartz IV, Sozialhilfe oder | |
Grundsicherung im Alter. Wer als Wohnungsloser keinen Platz im Heim | |
bekommt, wird vom Sozialamt an die Notübernachtungen verwiesen – und hier | |
geht es noch weniger komfortabel zu. | |
Die Obdachlosen müssen jeden Morgen wieder gehen und können erst am Abend | |
wieder vorsprechen. Im Winter werden im Rahmen der Kältehilfe zusätzliche | |
Plätze eingerichtet. In einigen Einrichtungen darf man nur ein paar Nächte | |
hintereinander wiederkommen und muss sich dann für eine Weile woanders | |
umsehen. In den meisten Notquartieren dürfen zumindest im Winter auch | |
EU-Migranten oder Ausländer ohne Aufenthaltserlaubnis übernachten. | |
## Unfreiwillig obdachlos | |
Gregor, 44, aus Posen in Polen, hat einschlägige Erfahrungen mit | |
Notquartieren gemacht. Seit Anfang 2016 überlebt er in München auf der | |
Straße, ohne Anspruch auf Sozialleistungen oder ein Recht auf eine | |
längerfristige Unterbringung im Heim. Nur die Suppenküchen bleiben. Und es | |
gibt die Teestube „komm“ des Evangelischen Hilfswerks in der Zenettistraße, | |
wo der große Kaffee nur 40 Cent kostet und sich schon vor der Öffnung um 14 | |
Uhr eine Menschentraube bildet. Gregor übernachtete im vergangenen Jahr | |
fünfmal im Kältenotquartier in der Bayernkaserne. Der Ort ist berüchtigt | |
für Diebstähle. Auch Gregor wurde beklaut, sagt er. Den Rest des Winters | |
verbrachte er auf der Straße. | |
Vor zehn Jahren habe er seine Heimat verlassen, erzählt er in der | |
„komm“-Teestube. In Italien auf einer Apfelplantage arbeitete er als | |
Pflücker für 7 Euro die Stunde. Irgendwann war Schluss mit dem Job. Aber | |
zurück? „Die Mutter war tot, die Schwester weggezogen. Ich hatte da | |
niemanden mehr“, sagt er. Immerhin: Seit Anfang des Monats hat er ein Bett | |
im Kloster St. Anna, die Kirche erlaubt auch EU-Migranten einen | |
längerfristigen Aufenthalt. Bis März darf Gregor hier bleiben. Er habe | |
Aussicht auf einen Job, erzählt er. Sogar ein Job in seinem erlernten Beruf | |
als Tischler. | |
Einige der Obdachlosen aus den osteuropäischen EU-Ländern arbeiten in | |
Deutschland. In Hamburg ging das Gerücht um, die Notübernachtungen würden | |
als eine Art kostenlose Monteursunterkunft von EU-Arbeitsmigranten oder | |
Jobsuchenden genutzt. In den Notübernachtungen machen Sozialarbeiter eine | |
Art „Perspektivberatung“. | |
„Manche Menschen zeigen beim Check-In ihre Ausweise“, sagt Susanne | |
Schwendtke, Sprecherin des Hamburger Unterkunftsbetreibers „Fördern & | |
Wohnen“. „Zeigt jemand dann beispielsweise einen rumänischen Pass mit | |
Heimatadresse, wird in der Perspektivberatung geklärt, ob er seine | |
Obdachlosigkeit im Sinne des Sicherheits- und Ordnungsgesetzes dadurch | |
beenden kann, dass er seine Heimatwohnung aufsucht.“ | |
## Obdachlose aus EU-Ländern | |
Wer nicht unfreiwillig obdachlos ist, hat keinen Anspruch auf den | |
Aufenthalt in einer Notübernachtung. In Hamburg werden die Leute dann zu | |
einer Wärmestube geschickt, die nachts geöffnet hat, aber keine | |
Schlafgelegenheit bereithält. In manchen Städten bietet man den | |
EU-Migranten für vier Wochen eine Überbrückungsleistung und die Fahrkarte | |
in die Heimat an – wenn sie sich verpflichten, auszureisen und nicht mehr | |
wiederzukommen. Auf der Bundestagung der BAG wurde diese Praxis kritisiert. | |
Auch Obdachlose aus EU-Ländern hätten ein Recht auf eine Unterkunft in | |
Deutschland, erklärt dort der Rechtsanwalt und ehemalige | |
Stadtrechtsdirektor Karl-Heinz Ruder. Grundlage dieses Anspruchs sind die | |
Ländergesetze zum Schutze der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, also | |
Polizeigesetze, keine Sozialgesetze. Die Ordnungsmacht sei in deren Rahmen | |
zur „Gefahrenabwehr“ verpflichtet, also auch zum Schutz von Leib und Leben, | |
sagte Ruder. | |
Er zitierte verschiedene Rechtsprechungen, nach denen bei „unfreiwilliger | |
Obdachlosigkeit“ zur Gefahrenabwehr auch eine „ganztägige Unterbringung“ | |
gehört. „Das muss sich aber nicht um die gleiche Unterkunft für Tag und | |
Nacht handeln“, so Ruder mit Verweis auf das Oberverwaltungsgericht | |
Baden-Württemberg. Danach ist es erlaubt, die Leute nachts in einem | |
Notquartier unterzubringen und sie für den Tag an eine Wärmestube zu | |
verweisen. Ruder hält die Trennung in Nacht- und Tagquartier für | |
problematisch. Asylbewerber müssten schließlich auch nicht morgens wieder | |
aus dem Heim weg. „Da ist doch von vorneherein klar, dass sie ganztägig | |
untergebracht sind.“ Flüchtlinge und Obdachlose, auch solche aus der EU, | |
„die müssen gleichbehandelt werden.“ | |
## Geflüchtete Wohnungslose | |
Flüchtlinge werden, wenn sie das Asylverfahren durchlaufen haben und | |
anerkannt sind, rein statistisch oftmals zu „Wohnungslosen“. Sie bekommen | |
meist Hartz-IV-Leistungen. Wenn sie keine bezahlbare Wohnung finden, was | |
zum Beispiel in Berlin häufig der Fall ist, bleiben sie statistisch als | |
„Wohnungslose“ weiter im Heim. Laut BAG sind 440.000 der Wohnungslosen | |
anerkannte Flüchtlinge. In manchen Regionen spricht man dabei von | |
„Fehlbelegern“, weil anerkannte Flüchtlinge mit Aufenthaltserlaubnis | |
eigentlich nicht ins Wohnungslosenheim gehören. Genauso wenig wie Sonja N. | |
Auch bei N. im Haus leben anerkannte Flüchtlinge, eine syrische Familie. | |
„Reizend, die Jungs“, sagt N., „die sind nett und sprechen richtig gut | |
deutsch.“ | |
Lesen Sie auch: [1][ABC der Armut – Arm gegen arm] und den [2][Kommentar: | |
Wohnungsbau statt Steuern senken] | |
16 Nov 2017 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
Dominik Baur | |
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