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# taz.de -- Ursache für Zivilisationskrankheiten: Dick sein ist okay, arm sein…
> Arme Menschen sind häufiger übergewichtig und sterben früher. Das liegt
> nicht an ihrem Verhalten, sondern an den sozialen Verhältnissen.
Bild: Nicht die Rundungen sind das Problem, sondern die Verhältnisse
Zur Jahrtausendwende veröffentlichten Regierungen und
Gesundheitsorganisationen in aller Welt Berichte und Prognosen über den
Gesundheitszustand der Bevölkerung im 21. Jahrhundert. Darin wurde Düsteres
prophezeit: Der Gesundheitszustand der Bevölkerung auch und gerade in
entwickelten Ländern verschlechtere sich rapide. Problematische
Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten und in ihrer Folge
Zivilisationskrankheiten verbreiteten sich virengleich über den ganzen
Erdball. Das Gesundheitssystem werde unter den finanziellen Belastungen
zusammenbrechen und die Lebenserwartung der Bevölkerung erstmals seit
Jahrhunderten sinken.
Die Berichte und die sie begleitenden Aktionspläne hatten die
„Adipositas-Epidemie“ zum Thema. Also den Anstieg des Körpergewichts der
Bevölkerung zwischen 1980 und 2000, der durch die
Weltgesundheitsorganisation (WHO) Ende der 1990er zur Epidemie erklärt
worden war. Prognostiziert wurde aber auch die Zunahme verschiedener
chronischer Erkrankungen. Allen voran Diabetes Typ 2. Denn keine Krankheit
korreliert stärker mit einem hohen Körpergewicht.
Phänomene wie die Diabetes- oder die Adipositas-Epidemie, von denen
zumindest in entwickelten Ländern überdurchschnittlich oft ärmere Menschen
betroffen sind, werden meist als Krise der Verhaltenssteuerung
interpretiert. Arme Menschen seien nicht informiert über die Gefahren ihrer
Konsummuster. Sie wüssten nicht, dass Fitnessflakes vor allem aus Zucker
bestehen und Kinderschokolade gar nicht gut für Kinder ist. Dass Sitzen das
neue Rauchen ist, ignorierten sie einfach, wenn sie bei der Arbeit acht
Stunden gestanden haben.
Was sie aber sehr wohl wissen und nicht ignorieren, ist, dass all diese
Verhaltenstipps von Menschen formuliert werden, die einer anderen sozialen
Schicht als sie angehören und deren Lebensrealität mit ihrer nichts zu tun
hat.
## Dicke sterben nicht früher
Man kann darüber streiten, woran es liegt, dass arme Menschen statistisch
gesehen früher sterben. Daran, dass arme Menschen häufiger dick sind als
Wohlhabende, liegt es wohl eher nicht. Denn erstens steigt der Anteil
dicker Menschen in wohlhabenden Ländern entgegen allen Prognosen seit der
Jahrtausendwende gar nicht. Und auch der Anstieg von neuen
Diabeteserkrankungen ist zu einem nicht unerheblichen Teil auf die Senkung
der Grenzwerte und vermehrte Screenings zurückzuführen.
Zweitens gilt ein hohes Körpergewicht längst nicht mehr als Superkiller. Im
Gegenteil, ein moderates „Übergewicht“ verlängert die Lebenserwartung nach
neuen Erkenntnissen sogar.
Die Lebenserwartung entwickelt sich in allen Gesellschaften nicht etwa
parallel zum Körpergewicht, sondern zum gesellschaftlichen Wohlstand. In
Deutschland beträgt der Abstand in der Lebenserwartung bei den Männern
zwischen Arm und Reich elf Jahre.
In Großbritannien, wo die soziale Spaltung noch größer ist, trennen die
Londoner U-Bahn-Stationen Oxford Circus und Holborn ein Stopp und 17 Jahre
Lebenserwartung. Gesundheitskampagnen, wie sie jüngst auch wieder in
Deutschland gefordert werden, dürften daran wenig ändern. Mehr soziale
Sicherheit und weniger materielle Ungleichheit hingegen schon. Schließlich
weisen Länder mit vergleichsweise geringerer sozialer Ungleichheit auch
geringe Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen den Sozial-schichten
auf, wie Kate Pickett und Richard Wilkinson in ihrem Buch „Gleichheit ist
Glück“ gezeigt haben.
## Krank macht arm
Zur Erklärung, warum soziale Unterschiede auch in reichen Ländern zu
gesundheitlichen Unterschieden führen, wird zwischen Selektions- und
Verursachungsprozessen unterschieden. Soziale Selektionsprozesse bedeuten,
dass Menschen mit chronischen gesundheitlichen Problemen mit großer
Wahrscheinlichkeit arm werden. Sie können ihren Beruf nicht länger oder nur
noch eingeschränkt ausüben, Ausbildung und Studium verzögern sich oder
müssen abgebrochen werden. Wer aufgrund chronischer Krankheiten oder
Behinderung von der Erwerbsarbeit ausgeschlossen wird, ist auf
Transferzahlungen angewiesen und hat auch weniger Rentenansprüche.
Soziale Verursachungsprozesse bedeuten hingegen, dass Armut krank machen
kann, z. B. durch Haltungsschäden oder durch hohe Verantwortung bei
geringer Autonomie am Arbeitsplatz. Aber auch durch Feinstaub und
Lärmbelastung und räumliche Enge in der Wohnung, durch Stress und
Schlafmangel.
In den Gesundheitswissenschaften hat sich in den letzten Jahren wieder das
Bewusstsein dafür geschärft, dass soziale Ungleichheit immer auch
gesundheitliche Ungleichheit bedingt. David Stuckler und Sanjay Basu haben
in ihrer Studie „Sparprogramme töten“ eindrücklich nachgewiesen, dass
Kürzungen im sozialen Bereich unmittelbar Auswirkungen auf den
Gesundheitszustand der Betroffenen haben. Sensibilität dafür, dass das
Denken in Risikofaktoren und medizinischen Kategorien auch zu sozialem
Ausschluss beitragen und in der Konsequenz krank machen kann, fehlt dagegen
noch.
## Zurückweisung führt zu Depressionen
Gabrielle Deydier hat keinen Diabetes, und sie kommt auch nicht aus armen
Verhältnissen. Ihre Familie gehört zum Mittelstand, ist bildungsaffin,
gesundheitsbewusst. Deydier hat zwei Studiengänge mit Bestleistungen
abgeschlossen. In ihrer Biografie spielen Krankheiten keine Rolle, wohl
aber schlechte Erfahrungen mit Ärzten, die einem Teenager, der nicht ganz
den Idealmaßen entsprach, eine Hormontherapie mit fatalen Nebenwirkungen
verpassten.
Später will sie ein Gynäkologe nicht untersuchen, weil er „vor lauter Fett
nichts sehen kann“. Ein anderer Arzt empfiehlt ihr, zum Veterinär zu gehen.
Ihr Körpergewicht vereitelte ihr den Einstieg ins Berufsleben. Die
allgegenwärtige Zurückweisung führte zu Depressionen und beinahe zur
Obdachlosigkeit.
Deydier lebt heute in einer Jugendherberge in Paris. Nicht die
gesundheitlichen Folgen ihres hohen Körpergewichts, sondern die Tatsache,
dass Dicksein in Frankreich als „groteske, selbst verschuldete Behinderung“
empfunden wird, lässt sie psychisch krank werden. Mit dem Leben in der
Jugendherberge zumindest dürfte es bald vorbei sein. Deydier hat vor Kurzem
ihre Memoiren veröffentlicht. „On ne naît pas grosse“ – Man wird nicht …
geboren, heißt das Buch. Es ist in Frankreich auf Anhieb ein Bestseller
geworden. Die Pariser Bürgermeisterin hat Deydier gebeten, den ersten
Anti-Grossophobie-Tag zu organisieren.
Damit ist Dank Deydiers Memoiren die Fat-Acceptance-Bewegung, die vor
fünfzig Jahren in den USA ihren Anfang genommen hat, auch in Frankreich
sichtbar geworden. Jüngst hat sich mit den Fat Studies auch eine
akademische Auseinandersetzung mit den Folgen der grassierenden
Körperfettphobie etabliert. Am 18. November findet in München zum ersten
Mal in Deutschland dazu ein internationales Symposium statt. Vier Tage nach
dem internationalen Diabetestag stehen dann zur Abwechslung nicht die
medizinischen Gefahren eines hohen Körpergewichts, sondern die Gefahren
durch Medizin und Gesellschaft für Menschen mit hohem Körpergewicht im
Mittelpunkt.
14 Nov 2017
## AUTOREN
Friedrich Schorb
Dr. Friedrich Schorb
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Diabetes
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