| # taz.de -- Junkfood für die Hungrigen: Wie Big Food die Welt erobert | |
| > Die Nahrungsmittelindustrie macht mit ihrem Junkfood Menschen in armen | |
| > Ländern krank. Was können wir dagegen tun? | |
| Bild: Coca-Cola-Produktion in Indonesien | |
| Ursache von Übergewicht und Diabetes seien vor allem Bewegungsmangel, | |
| Veranlagung und Stress, sagen zahlreiche Studien. Das Problem: Diese | |
| Studien wurden in Auftrag gegeben und finanziert von internationalen | |
| Nahrungsmittel- und Getränkekonzernen, kurz: von Big Food. | |
| Big Food zählt zu den größten Gefahren für unser aller Gesundheit, für die | |
| Gesundheit insbesondere armer Menschen. Menschen, denen zentrale Ressourcen | |
| wie Land und Geld fehlen, um sich Grundbedürfnisse wie Essen, Wohnen, | |
| Bildung und Gesundheitsversorgung zu erfüllen. Arme Menschen leben zumeist | |
| in Schwellen- und Entwicklungsländern des Südens, die ich im Folgenden als | |
| „arme Länder“ bezeichne. | |
| Hunger und Mangelernährung in diesen Ländern gehen nur langsam zurück. Das | |
| ist skandalös. Noch skandalöser aber ist, dass Big Food einen | |
| Ernährungswandel forciert, der Menschen krank macht, lokale | |
| Ernährungssysteme verdrängt und internationale Entwicklungshilfe in | |
| grotesker Weise konterkariert. | |
| Big Food verkauft in armen Ländern fast nur Junkfood: hochverarbeitete | |
| Nahrungsmittel und Getränke, die haltbar, schmackhaft und billig sein | |
| müssen. Diese Instant-Nudeln, Süßwaren, Chips, Pizzen, zuckrigen Joghurts | |
| und Softdrinks bestehen fast nur aus Zutaten wie Fett, Stärke, Zucker, | |
| Salz, Geschmacks-, Konservierungs- und Farbstoffen – aus leeren Kalorien | |
| also. Dieses Junkfood erzeugt zudem vielfach jene Mischung aus Appetit, | |
| Gier und Sucht, die man im Englischen craving nennt. Der Konsum solcher | |
| Produkte heizt sich selbst an; er führt zu Übergewicht und dessen | |
| Folgeerkrankungen. | |
| Junkfood ist Kerngeschäft und Existenzgrundlage für Big Food. Und weil der | |
| Absatz in Industrieländern stockt, vermarkten die Konzerne ihr Junkfood | |
| jetzt besonders aggressiv in Schwellen- und Entwicklungsländern. Zielgruppe | |
| dort sind vor allem Kinder und Mütter mit geringem Wissen über | |
| Ernährungsfragen. | |
| Sie sind betörend attraktiven Verpackungen, Träume weckenden Fernsehspots | |
| und Elterngefühle missbrauchenden Gesundheitsversprechen wehrlos | |
| ausgesetzt. Die Folgen für die öffentliche Gesundheit in armen Ländern sind | |
| dramatisch: Die Zahl der Übergewichtigen, insbesondere auch Kinder, hat die | |
| zwei Milliarden überschritten. | |
| Die Zahl steigt weiter – im Gleichschritt mit der Expansion von Big Food. | |
| Der Anteil der Diabetiker an der Bevölkerung liegt in China und Indien | |
| inzwischen weit höher als hierzulande. Die Gesundheitssysteme armer Länder | |
| sind schon heute mit der Diabetes-Pandemie völlig überfordert. | |
| Dessen ungeachtet spannt Big Food auch internationale Hilfsorganisationen | |
| vor seinen Karren: Unter dem Einfluss von Schaufenster-Organisationen der | |
| Industrie, die ihre wahren Ziele verbergen, bekämpfen viele Träger von | |
| Entwicklungshilfe immer seltener Ursachen von Mangelernährung. Stattdessen | |
| verteilen sie Kalorienträger, angereichert mit synthetischen Mineralstoffen | |
| und Vitaminen. | |
| Entwicklungshilfe degeneriert so zum Türöffner für Big Food: Die Konzerne | |
| verkaufen jetzt angereichertes Junkfood als „gesund“. Dabei machen Nestlé | |
| und Danone auch vor den Kleinsten nicht halt: Sie verunsichern stillende | |
| Mütter und unterlaufen den Internationalen Kodex für die Vermarktung von | |
| Muttermilch-Ersatzprodukten der Weltgesundheitsorganisation WHO. Sie | |
| drücken brachial stark gezuckertes Milchpulver für Kleinkinder in die | |
| Märkte armer Länder. Normale Milch vertrügen kleine Kinder nicht, machen | |
| TV-Spots den Müttern weis. | |
| ## Gezuckerte Aquadrinks | |
| Natürlich gibt es Widerstand gegen das de facto kriminelle Verhalten von | |
| Big Food. Der Widerstand allerdings beschränkt sich bis heute auf | |
| interessierte Kreise in Industrie- und wenigen Schwellenländern. Dies auch | |
| deshalb, weil die Konzerne jeder Kritik mit Täuschungsmanövern begegnen: Da | |
| verspricht zum Beispiel Danone, seine Joghurts etwas weniger zu zuckern. | |
| Zugleich aber stellt der Konzern seine Wassermarken wie Volvic und Bonafont | |
| auf gezuckerte und aromatisierte „Aquadrinks“ um. | |
| In den USA korrumpiert die Getränkeindustrie derweil Kommunen, die | |
| Sondersteuern auf zuckrige Softdrinks erheben wollen, mit Millionenspenden | |
| für Kinderkrankenhäuser. Und wenn das nicht hilft, wird prozessiert. Auch | |
| gegenüber nationalen Regierungen, UN-Institutionen und Organisationen | |
| der Zivilgesellschaft pflegt Big Food eine finanzintensive | |
| Umarmungsstrategie: Zahlreiche Konzerne unterhalten Partnerschaften mit dem | |
| Welternährungsprogramm WFP und dem Kinderhilfswerk Unicef. Systematisch | |
| erobert Big Food Sitze in Gremien der WHO und der | |
| Welternährungsorganisation FAO. Das verschafft den Konzernen Einfluss auf | |
| globale Gesundheits- und Ernährungspolitik. | |
| Zu den Aufgaben internationaler Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zählt | |
| es eigentlich, als watchdogs Missstände anzuprangern. Tatsächlich kassieren | |
| viele NGOs Millionen von der Nahrungsmittelindustrie. Konzerne kooperieren | |
| mit NGOs der Entwicklungszusammenarbeit, um von deren Reputation und | |
| Glaubwürdigkeit zu profitieren. Denn die NGOs genießen in der Regel hohes | |
| Ansehen – und sie brauchen Geld für Projekte. Viele Organisationen sind | |
| deshalb zur Kooperation mit Big Food bereit, auch wenn sie dessen | |
| Geschäftsmodell oft kritisch gegenüberstehen. | |
| ## Zahme Kritiker | |
| Zwei Beispiele: Die Organisation Oxfam, mit Filialen in 17 Ländern weltweit | |
| und einem Budget von einer Milliarde Euro pro Jahr, gilt als vehementer | |
| Kämpfer für die Armen dieser Welt. Oxfam publiziert mäßig kritische | |
| Berichte über das soziale Gebaren von Unilever, Coca-Cola und dem | |
| Bierkonzern SABMiller – mit Vorworten der Konzernchefs. Das Kerngeschäft | |
| von Big Food, den Vertrieb krank machenden Junkfoods, kritisiert Oxfam | |
| überhaupt nicht. | |
| Das Kinderhilfswerk Save the Children engagierte sich eine Zeitlang für | |
| Sondersteuern auf gezuckerte Softdrinks. Das aber hörte schlagartig auf, | |
| als die Organisation eine Millionenspende von PepsiCo erhielt und über eine | |
| ähnlich hohe Spende mit Coca-Cola verhandelte. Offensichtliche | |
| Interessenskonflikte ignorieren nicht zuletzt viele öffentliche | |
| Hochschulinstitute, Berufsverbände von Ernährungsexperten und | |
| Gesundheitsorganisationen weltweit. | |
| Die Existenzgrundlage von Big Food ist, wie erwähnt, Junkfood. Gesunde | |
| Nahrungsmittel wären nicht nur in Produktion und Vertrieb zu teuer. Nein, | |
| es gibt schlicht und einfach keine gesunden Industrienahrungsmittel, die | |
| die Konzerne unter den Bedingungen in Entwicklungs- und Schwellenländern in | |
| größerem Stil vermarkten könnten. | |
| Die Konzerne müssten, um ihr Portfolio auf vorwiegend gesunde | |
| Nahrungsmittel umzustellen, ihre Identität ändern; sie müssten zu drastisch | |
| verkleinerten und dezentral operierenden Unternehmen mutieren. Sie müssten | |
| auf gewaltige Märkte verzichten und Milliarden an Shareholder-Kapital | |
| vernichten. Das aber werden die Unternehmen niemals freiwillig tun. | |
| Die logische Konsequenz: Um Milliarden Menschen vor krank machendem | |
| Junkfood zu schützen, hilft es wenig, mit Big Food partnerschaftlich zu | |
| verhandeln. Im Gegenteil: Die internationale Gemeinschaft, also wir alle, | |
| muss kategorisch gegen die schädlichen und ethisch verwerflichen Geschäfte | |
| der Konzerne vorgehen. Dagegen (und natürlich auch gegen Alkoholmissbrauch) | |
| müssen wir ähnlich konsequent arbeiten wie gegen Big Tobacco, die | |
| Tabakindustrie; viel entschlossener allerdings und viel schneller. | |
| Und wenn Big Food mal wieder scheinheilig das Blaue vom Himmel verspricht, | |
| wenn die Konzerne lautstark gegen „Pauschalisierung“ und | |
| „Verschwörungstheorien“ protestieren oder die krank machende Wirkung von | |
| Junkfood scheinwissenschaftlich relativieren, wenn sie einmal mehr von | |
| mündigen Konsumenten in freien Ländern schwadronieren, denen der Staat | |
| nicht auf den Teller zu schauen habe – dann sollte das erst recht zu kühler | |
| Analyse und entschlossenem Handeln motivieren. | |
| Die Bedeutung einer gesunden Ernährung für den Einzelnen, für die | |
| öffentliche Gesundheit und Volkswirtschaft armer Länder ist kaum zu | |
| überschätzen. Dies sollte Grund genug sein, im Rahmen einer weltweiten | |
| Bewegung für das Recht auf gesunde Ernährung zu kämpfen. Nur der vereinte | |
| und effizient gestaltete Widerstand von Konsumenten, Zivilgesellschaft, | |
| Regierungen, UN-Institutionen, Gesundheits- und Bildungseinrichtungen sowie | |
| der Wissenschaft kann krank machendes Junkfood allmählich zurückdrängen. | |
| 24 Jun 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Thomas Kruchem | |
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