# taz.de -- ABC der Armut: Arm gegen arm | |
> Die Zahl der Wohnungslosen ist seit 2008 um fast das Vierfache gestiegen. | |
> Doch Armut ist kein Naturzustand, sie wird gemacht. | |
Bild: Obdachlosigkeit kann jeden treffen | |
Armut nimmt in Deutschland seit Jahren zu. Das ist neben der verfehlten | |
Wohnungspolitik der Hauptgrund für den Anstieg der Wohnungslosigkeit – | |
Probleme also, die unabhängig von den Zuwanderern existieren. Doch die | |
Verteilungskämpfe zwischen Arm und Reich werden durch das Konkurrenzdenken | |
unter Armen und Ausgegrenzten verdeckt. | |
Betroffene: Doch wer konkurriert da eigentlich? Gibt es reale Konkurrenz | |
zwischen Wohnungslosen und Flüchtlingen, Obdachlosen und osteuropäischen | |
Zuwanderern – oder sind dies eher Narrative, die von Rechten geschürt | |
werden? Wichtig ist zunächst, genau zu unterscheiden: Nur rund sechs | |
Prozent der Wohnungslosen leben als Obdachlose auf der Straße, der Rest | |
wohnt in Notunterkünften, bei Freunden oder in Wohnheimen. Eine unzulässige | |
Vermischung dieser Gruppen (siehe [1][Medien]) führt nicht nur zu einer | |
falschen Verallgemeinerung ohnehin fragwürdiger Klischees über Obdachlose | |
(siehe [2][Vorurteile]), sondern auch dazu, dass eine genaue Analyse der | |
Situation unmöglich wird – und die Mythen die Oberhand gewinnen. | |
CSU: Immer gern bedient wurden rassistische Narrative von der CSU – indem | |
Ressentiments gegen Zugewanderte und Ängste vor „Armutsmigranten“ aus | |
Osteuropa geschürt wurden, die angeblich nach Deutschland kommen, um | |
Sozialleistungen zu kassieren. Entgegen der Hetze finden aber die meisten | |
Zuwanderer aus osteuropäischen EU-Staaten Arbeit: Zählt man etwa die | |
Beschäftigungsquote samt geringfügig Beschäftigter, so waren im Juli 2017 | |
mehr Rumänen (68,6%) und fast genauso viele Menschen aus den elf | |
osteuropäischen EU-Ländern (60,2%) in einem Job wie Deutsche (67,4%). | |
Deutungshoheit: Die CSU setzte sich dennoch mit ihren Ressentiments durch. | |
Im Oktober 2016 wurden EU-Migranten per Gesetz weitgehend von | |
Sozialleistungen ausgeschlossen (siehe [3][Nahles]) – und damit auch vom | |
Anspruch auf längerfristige Unterbringung für Wohnungslose. Weil etliche | |
Kommunen ihnen inzwischen sogar die Nothilfe verweigern, landen | |
wohnungslose EU-Migranten meist direkt auf der Straße. So erklärt sich, | |
warum zwar nur rund sechs Prozent der Wohnungslosen EU-Migranten sind, aber | |
vor allem in Großstädten bis zu 50 Prozent der Obdachlosen aus der EU | |
zugewandert sind. | |
EU-MigrantInnen und einheimische Obdachlose konkurrieren also um | |
Schlafplätze in Parks oder unter Brücken, aber auch um die wenigen, oft | |
kirchlichen Angebote, die ihre Türen noch unabhängig von Sozialansprüchen | |
für alle öffnen: Suppenküchen, medizinische Ambulanzen, Tagestreffs. Das | |
knappe Angebot erhöht hier also die Konkurrenz. | |
Flüchtlinge haben damit bisher wenig zu tun. Außer in Ausnahmefällen wie im | |
Berliner Tiergarten dürften bisher kaum Geflüchtete auf der Straße landen. | |
Etwa 440.000 Flüchtlinge hätten zwar ein Recht auf eine Wohnung, müssen | |
aber als „Fehlbeleger“ weiter in Massenunterkünften leben – weil sie kei… | |
eigene Bleibe finden oder weil Kommunen laufende Mietverträge mit den | |
Unterkünften haben. Doch das erschwert die Integration. Eine exemplarische | |
Fallstudie des Bundesinstituts für Bauforschung zeigt, dass in den | |
Gemeinschaftsunterkünften fast die Hälfte der Menschen „Fehlbeleger“ sind. | |
Sie alle brauchen irgendwann auch eine Wohnung. | |
Geringverdiener wie Alleinerziehende, Hartz IV-Bezieherinnen, Studierende | |
und verarmte Rentnerinnen konkurrieren in deutschen Großstädten aber schon | |
lange um günstigen Wohnraum – nun kommen noch immer mehr Geflüchtete und | |
EU-Migranten dazu. Dabei ließe sich der künstliche Mangel durch eine andere | |
Politik aber weitgehend beheben. | |
Historie: Ein Blick in die Geschichtsbücher zeigt das. 1987 gab es in | |
Westdeutschland über vier Millionen Sozialwohnungen, heute sind es | |
bundesweit rund 1,3 Millionen. Ein entscheidender Schritt dahin: 1989 wurde | |
die Wohngemeinnützigkeit abgeschafft, also die Förderung von | |
Sozialwohnungen durch Steuererleichterungen. Diese Neoliberalisierung hat | |
in Kombination mit dem mancherorts starken Zuzug und steigenden Mieten zur | |
aktuellen Wohnungsnot geführt – und damit nicht nur zum Anstieg der | |
Wohnungslosigkeit, sondern auch zu mehr Konkurrenz um eine eigene Bleibe. | |
Identitätspolitik: Eigentlich ein (umstrittenes) Steckenpferd der Linken, | |
doch nun bieten Rechte auch ihre nationalistische Version an. Ob im | |
Internet oder in Ausnahmefällen auf der Straße – in den letzten Jahren ist | |
der angebliche Einsatz für „deutsche Obdachlose“ beliebt geworden, um so | |
gegen Flüchtlinge und EU-Migranten zu hetzen und Sozialneid zu schüren. Ob | |
das dieselben Nazis sind, die jahrelang Obdachlose verprügelt und sogar | |
umgebracht haben? | |
Jahreszeiten: Seit der Wiedervereinigung haben in Deutschland laut | |
[4][Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW)] etwa 300 | |
Obdachlose den Winter nicht überlebt. Aber auch (rechte) Gewalt und | |
fehlende medizinische Versorgung sind für sie lebensgefährlich. | |
Kapitalismus: Gibt es Obdachlosigkeit, Armut und Konkurrenz aufgrund von | |
Fehlern im System – oder ist das System der Fehler? | |
Linke: Selbst unter Linken ist man uneinig: Deutsche zuerst oder doch die | |
Internationale? Immer wieder stehen Vorwürfe etwa gegen Sahra Wagenknecht | |
und Oskar Lafontaine im Raum, sie bedienten rassistische Ressentiments – | |
und schürten so die Konkurrenz. Wahlen gewinnt die Linkspartei trotzdem | |
nicht. Oder gerade deswegen. | |
Medien: Die mediale Inszenierung trägt zu einer unzulässigen Gleichsetzung | |
von Wohnungslosen mit Menschen, die auf der Straße leben, bei. Außerdem | |
werden oft Klischees über Obdachlose (siehe [5][Vorurteile]) erzeugt, vor | |
allem im Winter, wenn sich Reportagen in die Schicksalen der Gescheiterten | |
einfühlen – und dabei Stereotype reproduzieren, ohne auf politische | |
Ursachen zu verweisen. | |
Nahles: 2015 entschied das Bundessozialgericht, dass EU-Migranten in | |
Deutschland nach einem halben Jahr Aufenthalt Anspruch auf Sozialhilfe | |
haben. Doch SPD-Frau Andrea Nahles wollte diese angeblichen „Fehlanreize“ | |
ganz im Sinne der CSU vermeiden (siehe [6][CSU], [7][Deutungshoheit]). In | |
einem neuen Gesetz wurden EU-Migranten weitgehend entrechtet: Nur wer hier | |
fünf Jahre lebt oder ein Jahr sozialversicherungspflichtig arbeitet, | |
bekommt Sozialleistungen – sonst gibt es nicht mal mehr ein Dach über dem | |
Kopf. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe hält das für | |
rechtswidrig (siehe [8][Unterbringung]). | |
Obdachlose: In Deutschland gibt es laut Schätzungen der BAGW rund 52.000 | |
Obdachlose. Sie leben im Gegensatz zu den meisten Wohnungslosen auf der | |
Straße. Oft kommen zu den politischen Gründen (siehe [9][Armut]) | |
persönliche Schicksalsschläge – das kann jeden treffen. Mit Freiheit oder | |
Romantik hat das Leben ohne Dach über dem Kopf hingegen nichts zu tun. Im | |
Gegenteil: Auf Dauer zermürbt es viele. | |
Politik: Man könnte meinen, die Konkurrenz unter Armen komme einer | |
herrschenden Politik zugute, die Armut und Wohnungsnot unzureichend | |
bekämpft. Denn so ist nicht mehr die Politik der Sündenbock, sondern die | |
Zuwanderer. Aber, Vorsicht: Die gesellschaftlichen Sprengkräfte sind enorm, | |
rechtsextreme Parteien erhalten Aufwind. Die Narrative der Konkurrenz | |
dienen nicht mehr nur den Reichen, sondern auch den Rechten. | |
Qualitätsstandards werden im Sozialstaat gern abgesenkt, indem dies an | |
schwachen Randgruppen getestet wird – wie die Streichung der Nothilfe für | |
EU-Migranten und die Massenunterbringung auf engstem Raum für Geflüchtete. | |
Doch durch das Konkurrenzdenken gerät auch das in den Hintergrund – da alle | |
froh sind, wenn es die anderen härter trifft als einen selbst. | |
Russlanddeutsche und andere „Spätaussiedler“ aus Osteuropa kamen | |
millionenfach in die Bundesrepublik, alleine 1990 waren es rund 400.000. In | |
dieser Zeit stieg die Zahl der Wohnungslosen auf über 800.000, mehr als | |
jeder dritte von ihnen war Spätaussiedler. Am Ende haben doch fast alle | |
eine Wohnung gefunden – in den 1990ern gab es schlicht noch genug günstigen | |
Wohnraum (siehe [10][Historie]). | |
Sozialneid wird gerne von Rechten geschürt, auch die AfD macht kräftig mit | |
– mit gewissem Erfolg, wie das Wahlergebnis der Partei vermuten lässt. Doch | |
die wahren Probleme der Wohnungslosen wie die zunehmende Armut oder der | |
dramatisch sinkende Bestand an Sozialwohnungen werden so unsichtbar. | |
Träume: Wohnungslose aller Länder, vereinigt euch! Ob das ein Wunschtraum | |
bleibt? | |
Unterbringung: Die Kommunen müssen Obdach- und Wohnungslose unterbringen – | |
das Recht auf ein Dach über dem Kopf ist nicht nur ein Menschenrecht, | |
sondern laut den Polizei- und Ordnungsgesetze der Bundesländer geboten. | |
Durch die steigende Zahl der Wohnungslosen wird dies aber schwieriger. | |
Zudem verweigern Kommunen häufig die Notunterbringung von EU-Migranten. | |
Vorurteile: Obdachlose sind psychisch krank, alkoholabhängig und an ihrer | |
Situation irgendwie selbst schuld. Solche Klischees tragen meist dazu bei, | |
dass die politischen Gründe für den Wohnungsverlust hinter dem | |
bedauernswerten und zugleich abgewerteten Einzelschicksal verschwinden. | |
Wohnungslose: In Deutschland verfügten 2016 rund 860.000 Menschen über | |
keinen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum. Die meisten Wohnungslosen | |
leben in Notunterkünften, Wohnheimen, Frauenhäusern, bei Freunden – manche | |
aber auch auf der Straße (siehe [11][Obdachlose]). | |
Xenophobie bedeutet, allem Fremden gegenüber negativ eingestellt zu sein. | |
Oft heißt das: Rassismus. Solche Einstellungen finden sich wie in allen | |
Gruppen auch unter Obdachlosen – obwohl sie selbst von Hetze, Ausgrenzung | |
und rechter Gewalt betroffen sind. | |
Y-Cromosom: Ist es womöglich schuld an der Konkurrenz? | |
Zahlen: Egal ob durch Nutztierpraxen betreute landwirtschaftliche Betriebe | |
oder die Preise für Schädlingsbekämpfungsmittel – in Deutschland gibt es | |
für fast alles eine amtliche Statistik, nur nicht zu den Wohnungslosen. | |
Dazu existieren bloß Schätzungen der BAGW. Fehlen die offiziellen Zahlen, | |
weil sich durch sie der Druck auf die Politik erhöhen würde? | |
14 Nov 2017 | |
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## AUTOREN | |
Timo Reuter | |
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