# taz.de -- Debatte Obdachlosigkeit: Die falsche Fährte | |
> Hunderttausende Menschen in Deutschland verfügen über keinen Wohnraum. | |
> Statt Armut und Wohnungsnot sind osteuropäische Obdachlose das Thema. | |
Bild: Die Armut in Deutschland wird größer – und es gibt immer mehr Wohnung… | |
Der Berliner Tiergarten wurde zum Symbol. Von hier gingen die Bilder des | |
Elends durch die Republik: Menschen liegen auf Parkbänken, in Zelten, im | |
Gebüsch. Daneben kaputte Flaschen und Müll. Wenngleich selten in dieser | |
Schärfe, solche Bilder kennt man auch aus anderen deutschen Metropolen. Und | |
so konnte die ganze Republik nachvollziehen: Das Elend nimmt zu, nicht nur | |
in Berlin, der Hauptstadt der Obdachlosen. | |
Allein dort, so schätzen Wohlfahrtsverbände, haben bis zu 8.000 Menschen | |
kein Dach über dem Kopf – davon rund 60 Prozent aus Osteuropa. Diese Zahlen | |
liegen im Trend: Immer mehr EU-Migrant*innen landen in Deutschland auf der | |
Straße – [1][oder im Tiergarten]. Auch hier kamen die meisten Obdachlosen | |
aus Osteuropa. | |
Ist also alles halb so schlimm? | |
Zu diesem Eindruck konnte man bei einem Blick in den Tiergarten kommen. So | |
sichtbar das Elend dort auch war – es kam ja überwiegend anderswoher. Und | |
so schlug der zuständige grüne Bezirksbürgermeister nicht nur die | |
inzwischen erfolgte Räumung der Obdachlosencamps vor, sondern auch gleich | |
die Abschiebung der Osteuropäer. Dass dies wegen der Freizügigkeit in der | |
EU kaum möglich ist, sei bloß am Rande erwähnt – die Idee zählt. Doch mit | |
dieser Idee sind die Probleme eben keineswegs vom Tisch – im Gegenteil. | |
Am Dienstag präsentiert die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe | |
(BAGW) ihre neue Schätzung zur Zahl der Wohnungslosen – es ist von einem | |
massiven Anstieg auszugehen. Bereits von 2008 bis 2014, also vor der großen | |
Flüchtlingszuwanderung und der Freizügigkeit für Rumänen und Bulgaren, hat | |
die Wohnungslosigkeit in Deutschland um 50 Prozent zugenommen. | |
## Mietpreise schnellen in die Höhe | |
Im Jahr 2014 verfügten 335.000 Menschen über [2][keinen mietvertraglich | |
abgesicherten Wohnraum]. Die meisten leben in Notunterkünften, Wohnheimen | |
oder bei Freunden. 39.000 Obdachlose hatten auch gar kein Dach über dem | |
Kopf. Insofern zeigt der Tiergarten den sichtbaren, nicht unbedingt den | |
repräsentativen Teil der Betroffenen. | |
Und während dieser sichtbare Teil oft mit scheinbar fremdem Elend und | |
Scheitern und auch mit dem Kampf dagegen assoziiert wird, macht die BAGW | |
für den Anstieg der Wohnungslosigkeit soziale Entwicklungen verantwortlich: | |
Die Armut in Deutschland wird größer, während es in Ballungsgebieten kaum | |
bezahlbare Wohnungen gibt. | |
Laut dem Mikrozensus lag die Armutsquote 2006 bei 14 Prozent, sie ist | |
seither fast kontinuierlich auf 15,7 Prozent angewachsen – also um | |
anderthalb Million Menschen, die derzeit über weniger als 969 Euro pro | |
Monat verfügen. Gleichzeitig schnellen die Mietpreise in die Höhe. In | |
Frankfurt kosten 50 Quadratmeter für Neumieter im Schnitt 650 Euro – | |
Kaltmiete. In München sind es gar 820 Euro, in Hamburg 550. | |
Das trifft längst nicht nur arme Menschen, sondern auch die Mittelschicht. | |
Zu all den anderen kommen Hunderttausende Geflüchtete, die durch ihren | |
Schutzstatus Anspruch auf eine Wohnung haben, aber keine finden und | |
wohnungslos in Gemeinschaftsunterkünften ausharren. Der Staat hat die | |
Pflicht, sie unterzubringen, so wie deutsche Wohnungslose auch. | |
Hoffentlich waren die Bilder aus dem Berliner Tiergarten also keine böse | |
Vorahnung. Vereinzelt waren dort nämlich auch junge obdachlose Flüchtlinge | |
zu sehen, die sich prostituierten, harte Drogen nahmen. Ob dies die | |
Ausnahme bleibt? | |
## Sozialstandards unbemerkt abgesenkt | |
Vor 30 Jahren gab es in Westdeutschland vier Millionen Sozialwohnungen, | |
heute liegt der Bestand bundesweit bei einem Drittel. Doch statt zu bauen, | |
über die (Wieder-)Einführung der Wohngemeinnützigkeit oder eine echte | |
Mietpreisbremse nachzudenken, statt die Ungleichheit und Europas größten | |
Niedriglohnsektor einzudämmen, überlässt die Politik ihre genuinen Aufgaben | |
lieber dem Markt – und redet über Abschiebungen. | |
Ist es aber entgegen linker Romantisierung nicht zumindest gerechtfertigt, | |
Osteuropäer, die keine Arbeit finden, nach Hause zu schicken, statt sie mit | |
dem vollen Sozialpaket zu versorgen? | |
Die Frage ist legitim – und führt erneut auf eine falsche Fährte. Laut der | |
Arbeitsagentur finden die meisten Osteuropäer entgegen der Symbolik aus dem | |
Tiergarten hier eine Arbeit. Dennoch folgte SPD-Ministerin Andrea Nahles | |
vor einem Jahr mit einer Gesetzesverschärfung der Warnung der CSU vor | |
massenhafter „Zuwanderung in die Sozialsysteme“. Sozialleistungen erhält | |
seither nur, wer ein Jahr hier arbeitet oder fünf Jahre ausharrt – davor | |
gab es nach sechs Monaten Sozialhilfe. | |
Doch der Eifer geht noch weiter: Zunehmend verweigern Kommunen Osteuropäern | |
[3][die ihnen zustehende Nothilfe]. Im Gegensatz zu Berlin oder München | |
dürfen EU-Migranten ohne Sozialleistungsansprüche in Hamburg oder Frankfurt | |
nicht mehr ohne Weiteres das Winternotprogramm nutzen, also den | |
Erfrierungsschutz. So werden Sozialstandards quasi unbemerkt abgesenkt. | |
Bisher vor allem für Osteuropäer. Ob das eine Vorahnung ist? | |
EU-Migranten, die keine reguläre Arbeit finden, landen auf der Straße oder | |
in Suppenküchen und Tagesstätten, die ihre Nothilfe noch allen gewähren. | |
Und dort wird die Konkurrenz größer. Deutschlands Volkswirtschaft | |
profitiert von der EU-Migration und vom freien Handel, während | |
Abwanderungsländer durch Braindrain verlieren. Die Probleme aber sollen | |
abgeschoben werden – in die Herkunftsländer oder nach unten, zu den | |
Kommunen, die sie an die Schwächsten weiterreichen: die Obdachlosen. | |
## Die Armut lässt sich nicht abschieben | |
Die ehrliche Frage müsste also lauten: Will Deutschland die Vorteile | |
offener Grenzen genießen, die Probleme aber lieber wegschieben? | |
Doch der Diskurs verliert sich unter dem Deckmantel der Gefahrenabwehr in | |
rechter (Identitäts-)Politik: In der Debatte über Wohnungslose steht heute | |
meist die Herkunftsfrage ganz oben – um das Elend samt den Menschen am | |
besten dorthin zu verfrachten. | |
Die Obdachlosen aus dem Tiergarten sind jetzt vermutlich in anderen | |
Berliner Bezirken. Die Armut wäre auch ohne sie noch da. Sie hat sich zwar | |
internationalisiert, lässt sich aber nicht abschieben. Sie ist nämlich | |
hausgemacht. | |
14 Nov 2017 | |
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## AUTOREN | |
Timo Reuter | |
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Stephan von Dassel | |
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