# taz.de -- Obdachlosenunterkünfte im Norden: Zwei Jahrzehnte ohne Dusche | |
> Seit Jahren sind die Bedingungen in einer Schleswiger | |
> Obdachlosenunterkunft miserabel – nun plant die Stadt eventuell einen | |
> Neubau. Der Diakonie ist das zu wenig. | |
Bild: Diese Pappteller-Notiz haben Bewohner*innen in der Unterkunft an die Wand… | |
SCHLESWIG taz | Mark hat sich eingerichtet, so erträglich wie es eben geht. | |
Auf den ersten Blick wirkt sein Zimmer wie ein gemachtes Nest. Aus | |
gesammeltem Holz hat er sich Tische, Regale und eine Küchenzeile gebaut. | |
Schnell räumt er noch seinen Schreibtisch auf. „Zu viel Plastik“, murmelt | |
er. Hier und da hängen Pflanzen und kleine Basteleien aus Holz. Es könnte | |
auch das Zimmer eines Kunststudenten sein. Doch Mark ist keiner. Er war | |
lange obdachlos. Und wohnt jetzt seit drei Monaten in der Schleswiger | |
Obdachlosenunterkunft. | |
Damit ist er einer von vielen von Wohnungsnot betroffenen im nördlichsten | |
Bundesland Deutschlands – und es werden immer mehr (siehe Kasten). Erst | |
vergangenen Woche stellte die Diakonie Schleswig-Holstein die neuesten | |
Zahlen vor. Besonders Frauen und mittelbar auch Kinder seien vermehrt | |
betroffen. Diakonie-Vorstand Heiko Naß sagt: „Seit Jahren beobachten wir in | |
Schleswig-Holstein, dass immer mehr Menschen ihre Miete nicht mehr bezahlen | |
können oder keine Wohnung finden.“ | |
Für die Sozialpädagogin Karola Bergk ist das nichts Neues. Von ihrem Büro | |
in Schleswig aus betreibt sie seit fast 20 Jahren Wohnungslosenhilfe im | |
gesamten Kreis Schleswig-Flensburg, dem drittgrößten des Landes – mit einer | |
halben Stelle. „Dass die Not der Menschen größer wird und fast jeden | |
treffen kann liegt vor allem an den steigenden Mietpreisen“, sagt sie, „Der | |
Hartz-IV-Regelsatz von 346 Euro für eine Kaltmiete reicht oft nicht mehr | |
aus.“ | |
Alle Obdachlosenunterkünfte zu besuchen, ist in ihrer Arbeitszeit fast | |
unmöglich, trotzdem fährt sie auch regelmäßig in die Einrichtung in | |
Schleswig. Vor Kurzem hat sie dort einen Gemeinschaftsraum hergerichtet. | |
Das Blubbern der Kaffeemaschine und der Duft frischen Kaffees lockt einige | |
der 18 Bewohner, 16 Männer und zwei Frauen, dorthin. Doch die meisten | |
bleiben für sich. | |
Im Gegensatz zu Mark. Er erzählt gern von sich und davon, wie er die Welt | |
sieht. Nach einem Unfall, der ihm beinahe das Leben kostete und bei dem er | |
sich schwere Kopfverletzungen zuzog, hört er Stimmen. „Da sieht man mal, | |
was in unserem Kopf alles drin steckt“, sagt er und tippt auf seine Stirn, | |
„die meisten haben davor Angst.“ Er, der Lebenskünstler, musste die Welt | |
neu kennenlernen. Nach mehreren Klinikaufenthalten landete er auf der | |
Straße und zog umher. Jetzt ist er froh, überhaupt an einem Ort bleiben zu | |
können. | |
„Die Gespräche sind enorm wichtig“, erklärt Bergk, „denn Einsamkeit | |
verringert das Selbstwertgefühl.“ Einsam ist es im Ansgarweg in Schleswig. | |
Die beiden, zweigeschossigen Backsteinhäuser liegen versteckt in einer | |
Senke hinter dem Bahnhof der Stadt. Zwischen den vielen Einfamilienhäusern | |
im Stadtteil Friedrichsberg fallen sie nicht weiter auf. Kürzlich änderte | |
sich das, als viele Journalisten vor der Tür standen, um über die | |
miserablen Zustände zu berichten. | |
Die seien für die Stadt zwar nichts Neues, sagt Bergk, „nur hat sich dafür | |
bisher niemand interessiert“. Seit 20 Jahren nicht. Die Toiletten, sofern | |
sie funktionieren, sind zu dreckig, um sie zu benutzen. Ein Bewohner hat | |
sich extra ein Vorhängeschloss gekauft, um wenigstens eine Toilette zu | |
schützen. Schon im Flur riecht es säuerlich nach Urin. Es gibt keine | |
Duschen und kein warmes Wasser. Geheizt wird Strom oder mit einem Ofen. | |
Kohle oder Holz müssen sich die BewohnerInnen selbst besorgen, die | |
Rechnungen können sie beim Jobcenter einreichen. Schleppen müssen sie aber | |
selbst. Auch um Möbel mussten sie sich lange Zeit selbst kümmern. „Das | |
alles kostet Kraft, die eigentlich für die Wohnungssuche gebraucht wird“, | |
sagt Karola Bergk. | |
Im historischen Rathaus am anderen Ende der Stadt ist es angenehm warm. Bei | |
Kaffee und Süßigkeiten zeigt sich Bürgermeister Arthur Christiansen | |
einsichtig. Die Zustände seien „beschämend“, findet er. „Wir haben lange | |
Zeit zu wenig getan.“ Im Sozialausschuss wurde vor zwei Jahren angeregt, | |
einen Duschcontainer zu finanzieren. Doch nach langer Diskussion verlief | |
der Vorschlag der SPD wieder im Sande. Auch der Bürgermeister ist | |
skeptisch. Das nütze nichts, wenn dieser nach kurzer Zeit wieder verdreckt | |
sei, so Christiansen. | |
Erst seit diesem Jahr stellt die Stadt den Neuankömmlingen das Nötigste an | |
Mobiliar: ein Tisch, ein Sofa, ein Bett und eine Kochplatte. „Darüber | |
hinaus müssen wir den Bewohnern der Unterkunft helfen, wieder in die | |
Sesshaftigkeit zu kommen“, sagt Christiansen, „denn eigentlich soll sie nur | |
eine Übergangslösung sein.“ Doch wohnen manche schon seit drei, manche | |
sogar 20 Jahren dort. | |
Fragt man in Schleswig nach einem Vermittlungsangebot für Wohnungen, wird | |
man an den Landkreis verwiesen – dieser wiederum verweist auf die örtlichen | |
Ordnungsämter. Die Betroffenen sind weitestgehend auf sich allein gestellt. | |
Mit der halben Stelle kann auch Karola Bergk sie nicht ausreichend | |
betreuen. Manchmal fährt sie jemanden in die Stadt oder sagt Termine ab, um | |
sich einem Fall länger zu widmen. | |
In Kiel funktioniert die Wohnungsvermittlung besser. Die dortige | |
Stadtmission bekommt Spenden und ehrenamtliche Unterstützung. „Langfristig | |
brauchen wir aber finanzielle Hilfen durch Mietsicherungsfonds, um der | |
Obdachlosigkeit vorzubeugen“, so Karin Helm von der Stadtmission Kiel, | |
„denn je länger Menschen ohne Obdach sind, umso schlimmer werden auch | |
Sucht- und psychische Erkrankungen.“ | |
Vor allem die wachsende Zahl der von Obdachlosigkeit betroffenen Frauen sei | |
ein Problem, sagt Helm, allein in Kiel sind es 254. Die Dunkelziffer sei | |
bei Frauen besonders hoch und einige gäben sich der versteckten | |
Prostitution hin, um einen Schlafplatz zu bekommen, erklärt Helm. Die | |
Diakonie Schleswig Holstein fordert deshalb Präventivmaßnahmen wie besseren | |
Schutz vor Kündigungen sowie Unterstützung bei Mietschulden, um vor allem | |
betroffenen Familien zu helfen. | |
## Enteignungen lehnt die Diakonie ab | |
Enteignungen von Wohnungsgesellschaften lehnt die Diakonie hingegen ab. | |
Stattdessen sollten brach liegende Flächen zur Verfügung gestellt, und zu | |
mindestens 30 Prozent dem sozialen Wohnungsbau überlassen werden. | |
Nach der aktuellen Berichterstattung der vergangenen Wochen ist die Politik | |
im Zugzwang. Der Landkreis Schleswig-Flensburg hat eine weitere halbe | |
Stelle für die Betreuung bewilligt. Darüber hinaus hat man sich in | |
Schleswig darauf verständigt, einen Neubau der Unterkunft anzuregen. Dieser | |
könne von einem „pädagogischen Hausmeister“ fachlich begleitet werden. | |
Beschlossene Sache ist das noch nicht. Bürgermeister Christiansen gibt sich | |
dennoch optimistisch: „Ich bin mir zu hundert Prozent sicher, dass das in | |
der kommenden Ratssitzung entschieden wird“, beteuert er. Das wäre am 24. | |
Juni. „Bis der Neubau dann steht, dauert es aber mindestens noch zwei | |
Jahre.“ | |
Für die Bewohner des Ansgarwegs heißt das: zwei weitere Winter ohne | |
Heizung. Darüber macht sich Mark noch keine Gedanken, er ist froh, | |
überhaupt eine Bleibe zu haben. Ihn ärgert nur, dass er Karola Bergk schon | |
wieder verpasst hat. Er hält ein Päckchen Blumensamen hoch: „Ich wollte ihr | |
das noch für ihren Garten mitgeben, als Dankeschön.“ | |
23 Apr 2019 | |
## AUTOREN | |
Till Wimmer | |
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