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# taz.de -- Europas Grenzen in Afrika: Über den Zaun hinaus
> Die EU baut Frontex zu einer Full-Service-Agentur um. Dabei arbeitet sie
> mit zwielichtigen Regierungen zusammen.
Bild: Gerettet. Das norwegische Frontex-Schiff Siem Pilot hat Flüchtlinge aus …
CATANIA taz | Es gibt fast alles auf dem Schiff von Pal Erik Teigen: einen
Gefriercontainer für Leichen, ein Spielzimmer mit Kinoleinwand und ein
gigantisches Deck mit Sonnenschutz, auf dem über 1.100 Menschen hocken
können, wenn Teigens Leute sie aus dem Wasser ziehen. Heute aber regnet es,
es ist ein düsterer Nachmittag, Mitte November, im Hafen von Catania in
Sizilien, und die „Siem Pilot“, das riesige signalrote Flaggschiff der
EU-Grenzschutzagentur Frontex, liegt am Kai und nimmt seine neuen
Crewmitglieder an Bord.
Eigentlich ist die „Siem Pilot“ als Versorger für Ölbohrinseln in der
Nordsee unterwegs. Seit Juni 2015 ist sie Norwegens wichtigster Beitrag zur
Bewältigung der Flüchtlingskrise. Die Regierung in Oslo charterte das
Schiff und bezahlt die 15-köpfige Crew sowie elf norwegische Polizisten,
zehn Soldaten und sechs Küstenwächter.
Zum vierten Mal ist Teigen hier, als Kommandant. „Das war heftiger als die
ganzen Jahre bei der Polizei davor zusammen“, sagt er. „Manchmal kommen
2.000, dann 7.000, dazwischen ist es ruhig für einige Wochen.“ 28.598
Lebende und 91 Tote hat die „Siem Pilot“ im Frontex-Einsatz an Bord
genommen und nach Italien gebracht. Die meisten hat sie von privaten NGOs
übernommen, die vor der libyschen Küste kreuzen. Frontex tut das nicht.
Die „Siem Pilot“ rettet Menschen. Aber das ist nicht der Grund, weshalb sie
hier ist. Es kommt nicht von ungefähr, dass das Schiff von einem Polizisten
befehligt wird. Flüchtlingsboote sind für sie Tatorte. Tatorte von
Menschenschmuggel. Teigens eigentlicher Auftrag ist der Kampf gegen
Schlepper. Polizeiarbeit.
Frontex geht den Flüchtlingen entgegen
Teigens Männer und Frauen sind auf der „Siem Pilot“, um unter Tausenden
Flüchtlingen und Migranten jene zu finden, die die Überfahrten als
kriminelles Geschäft betreiben. Auf den Fahrten Richtung Festland, zum
sicheren Hafen, beobachten sie die Geretteten, fotografieren und befragen
sie, werten Handys aus, untersuchen Leichen in einer abgetrennten
forensischen Abteilung, nehmen DNA-Proben. 300 „Persons of Interest“,
Verdächtige, haben sie bislang der italienischen Polizei übergeben.
Die Menschen an Bord sind der erste Punkt, an dem Teigens Leute ansetzen
können. Jenseits des Meeres, dort, wo die Schlepper ihre Geschäfte
einfädeln, haben sie keinen Zugriff, nicht einmal verlässlichen Kontakt zur
Küstenwache. „Da funktioniert nichts. Wenn wir an Libyen rankommen, müssen
wir mit Ferngläsern nach Gefahren Ausschau halten.“
Das entspricht nur zum Teil der Wahrheit. Tatsächlich hat die im September
als Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache neu konstituierte
Behörde längst ihre Fühler nach Afrika ausgestreckt. Schon jetzt ist sie
nicht auf den Blick durch das Fernglas angewiesen, um zu erfahren, was dort
vor sich geht.
Grenzschutz hat heute weniger damit zu tun, einen Zaun auf eigenem
Territorium zu bewachen, dafür immer mehr damit, in weit entfernten Ländern
aktiv zu sein. Frontex geht den Flüchtlingen entgegen.
Mit 18 Staaten auf der ganzen Welt hat Frontex Working Arrangements.
Darunter Länder in Osteuropa, USA, Kanada, Kap Verde und Nigeria. Doch es
laufen Verhandlungen für weitere Abkommen: mit Libyen, Marokko, dem
Senegal, Mauretanien, Ägypten und Tunesien. „Nordafrika ist für neue
Kooperationen unser wichtigster Schwerpunkt“, teilt Frontex mit.
Am Tisch mit afrikanischen Geheimdienstchefs
Auch auf informeller Ebene arbeitet Frontex längst mit einigen dieser
Staaten zusammen, unter anderem mit Marokko, dem Senegal und Libyen. Ein
Verbindungsbeamter soll bald nach Niger entsandt werden. Vor allem aber
betreibt die Agentur vier sogenannte Risikoanalyse-Netzwerke mit Ländern
außerhalb der EU. Zwei umfassen Staaten Osteuropas, eines den Balkan und
die Türkei. Das größte aber ist der Geheimdienstbund Afrika-Frontex
Intelligence Community (Afic).
Seit dessen Gründung 2010 lud Frontex bereits 20-mal die Geheimdienstchefs
aus Afrika nach Warschau ein. Bei Afic sind 21 Staaten, von Marokko über
Dschibuti bis nach Angola, dabei. Sieben Staaten, darunter die
Hardcore-Diktaturen Eritrea und Sudan, haben „Beobachter“-Status, auch
Äthiopien, Somalia und Tunesien sind „eingeladen“, mitzumachen. „Ein Rah…
für Intelligence Sharing im Bereich der Grenzsicherung“ sei das, heißt es
bei Frontex. Und holt dafür jene an den Tisch, die für einen Teil der
Fluchtursachen verantwortlich sind.
Inzwischen gibt es nicht nur Treffen, sondern auch eine Onlineplattform zum
Datenaustausch. Seit Mai entstehen daraus monatliche Analysen. Das Ziel:
Ein möglichst vollständiges Bild der Migration in ganz Afrika zu zeichnen.
Der Linken-Abgeordnete Andrej Hunko glaubt, dass die Zusammenarbeit durch
die neuen Hilfsangebote der EU an Afrika erzwungen wird: „Die
Zusammenarbeit mit zwielichtigen Regierungen und Diktaturen dient einzig
und allein dem Zweck, diese als Türsteher für die Festung Europa
aufzubauen.“
44 „Agenturen“ für bestimmte Politikbereiche hat die EU. Keine ist so
schnell gewachsen und üppig ausgestattet wie Frontex. Bei ihrer Gründung
2005 in Warschau verfügte sie gerade einmal über 45 Mitarbeiter und einen
Jahresetat von 6,5 Millionen Euro. In diesem Jahr kann Frontex 254
Millionen Euro ausgeben, 2020 sollen es 320 Millionen sein.
Full-Service: Abschiebungen im Komplettpaket
Sicher ist, dass die EU Frontex noch weiter ausbauen will – am liebsten zu
einer vollständigen Grenzpolizei. Erst im September bekam sie neue
Kompetenzen: für Abschiebungen. Bislang organisierte Frontex
Abschiebe-Charterflüge nur auf Bitten und Kosten der Mitgliedsländer. 2015
waren es sieben, in diesem Jahr bislang 13, es ging nach Georgien, Serbien
und Albanien.
Künftig kann Frontex auf eigene Initiative und eigene Kosten
Sammelabschiebungen durchführen. Sie hat nun ein eigenes Budget, aus dem
sie Flugzeuge, Unterkunft von Begleitpersonen, Verpflegung, medizinisches
Personal und Dolmetscher bezahlen kann. Sie beschafft Pässe für
Abschiebungen und „freiwillige Ausreise“, alles Aufgaben, die bislang in
der Hand der Mitgliedstaaten lagen. Frontex wird so zur Serviceagentur für
Ausländerbehörden. 66,5 Millionen Euro stehen für „Return Support“ seit
diesem Jahr im Haushalt.
Dafür wird auch ein Pool von sogenannten Escortoffizieren, das heißt
Rückkehrbegleitern, in den jeweiligen Mitgliedstaaten aufgebaut. Parallel
wird ein Pool von „Rückführungsspezialisten“ geschaffen, die flexibel in
die Mitgliedstaaten entsandt werden können, um dort Abschiebungen zu
organisieren.
Doch Frontex soll auch verhindern, dass überhaupt irreguläre Migranten
Europa erreichen. Mitarbeiter der Agentur trainieren Grenzschützer von
Nicht-EU-Staaten, etwa in der Erkennung gefälschter Pässe. Fast 500 solcher
Trainings hat Frontex seit 2010 durchgeführt, die meisten in Osteuropa,
einige in Marokko. In dieser Woche startet Frontex Trainings der libyschen
Küstenwache – ihr Beitrag zu einer EU-Ausbildungsmission.
Mit den Aufgaben wächst die Zahl der Mitarbeiter. Zuletzt hatte Frontex
mehr als 360 Beamte. Neuerdings kommt eine rund 1.200 Personen starke
Soforteinsatztruppe für Krisensituationen hinzu, die beim Schutz der
EU-Außengrenzen helfen soll, also in Bulgarien beispielsweise. Dort
überwachen 163 Mitarbeiter die Grenzen zur Türkei und zu Serbien.
Kein Ansprechpartner für Widerspruch
Nur an einem wird gespart: an Überwachungs- und Beschwerdemechanismen. Wer
von EU-Grenzschützern widerrechtlich zurückgewiesen oder abgeschoben wird,
hat kaum Möglichkeiten, dagegen vorzugehen. Das wird nicht nur von
Flüchtlingsorganisationen und Menschenrechtlern beklagt, sondern auch vom
Europaparlament: Frontex müsse mehr Personal und mehr Geld für den Schutz
der Grundfreiheiten und für Beschwerden von Asylbewerbern bereitstellen,
mahnt der Ausschuss für Bürgerliche Freiheiten an.
Mehr Ressourcen und mehr Personal sind keine Lösung, das zeigt Frontex
selbst: In diesem Jahr, in dem der Agentur mehr Personal und mehr Geld als
je zuvor zur Verfügung stand, ertranken vor Libyen über 4.700 Menschen –
mehr als je zuvor. Menschen zu retten ist nicht der eigentliche Grund,
weshalb Menschen wie der Polizist Pal Erik Teigen auf dem Mittelmeer
unterwegs sind.
15 Dec 2016
## AUTOREN
Christian Jakob
Eric Bonse
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