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# taz.de -- Zwangsrückführung ohne gültige Papiere: Die Zukunft der Abschieb…
> Beliebige Papiere nach Bedarf: Immer öfter schiebt die EU
> Ausreiseverpflichtete aus Afrika in ein anderes als ihr Herkunftsland ab.
Bild: Wohin der Flug geht, entscheidet im Zweifel die Laune eines Beamten
Berlin/Freetown taz | Sie klopften um drei Uhr früh an seiner Tür, es war
ein Dienstag im Oktober 2013. Mit zwei Mannschaftswagen waren die
Polizisten zur Wohnung von Joseph Koroma in der Heilbronner Straße 2 in
Waldheim gekommen. Er werde nun nach Nigeria abgeschoben, sagte einer der
Beamten. Er möge seinen Koffer packen. Seit 2006 lebt der abgelehnte
Asylsuchende in Deutschland. In Nigeria war er noch nie.
Er geriet in Panik, „Ich war außer mir“, sagt er über den Tag. Er solle
sich beruhigen, sagen die Polizisten. Die Sachen packen, die er am
dringendsten brauche. „Ich kann nicht nach Nigeria. Ich komme aus Sierra
Leone,“ sagte Koroma. Sie hätten ihre Anweisungen, sagten die Beamten.
Koroma muss alles zurücklassen, was nicht in seinen Rucksack passt, die
Polizisten bringen ihn zur Ausländerbehörde. Drei Stunden wird er dort
festgehalten, seine deutschen Papiere beschlagnahmt. Sein Anwalt geht nicht
ans Telefon.
Koroma sieht vom Rücksitz eines Streifenwagens, wie die Sonne aufgeht. Um
neun Uhr kommt er am Frankfurter Großflughafen an. Als sein Anwalt
schließlich das Telefon abhebt, sagt er ihm, dass die Botschaft von Nigeria
für Koroma, der keinen Pass besitzt, ein Reisepapier ausgestellt hatte.
Diese Geschichte handelt von den Mitteln, zu denen Behörden bisweilen
greifen. Sie handelt von zwei Männern, bei denen sie nicht hinnehmen
wollten, dass sie sie nicht aus dem Land entfernen konnten. Sie handelt von
der Vergangenheit und von der Zukunft der Abschiebung.
## Aus dem Bürgerkrieg gekommen
Koroma war einer von 33.003 Menschen, die das Bundesinnenministerium 2012
bundesweit als „unmittelbar ausreisepflichtig“ registriert hatte. Doch nur
rund jeder Sechste von ihnen konnte in jenen Jahren tatsächlich abgeschoben
werden. Das beklagte die „AG Rück“, eine mit Abschiebungen befasste
Arbeitsgruppe von Bund und Ländern. Sie listete 25 Gründe auf, warum
Abschiebungen so schwierig waren. Auf Platz eins der Liste:
„Pass(ersatzpapier)beschaffung“. Auf Platz zwei: „Kooperationsverhalten d…
Herkunftsstaaten“. So, wie bei Joseph Koroma.
Im Mai 2006 erreicht er Deutschland, 42 Jahre ist er da alt. Von 1991 bis
2002 herrschte in Sierra Leone Bürgerkrieg. Bis zu 300.000 Menschen sollen
getötet worden sein, 2,6 Millionen vertrieben. Doch als Koroma in
Deutschland ankommt, ist der Krieg vorbei. Nach nur fünf Monaten wird sein
Asylantrag abgelehnt, 2008 wird die Entscheidung rechtskräftig. Das
Regierungspräsidium Karlsruhe, Abteilung acht – Ausländer – weist ihn aus.
Aber Joseph Koroma hat keinen Pass.
2006 wurde bekannt, dass Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) sich
wütend bei mehreren Diplomaten beklagt hatte, weil 29 Botschaften, die
Steinmeiers Ministerium auf einer geheimen „Problemstaatenliste“ führte,
bei Abschiebungen Schwierigkeiten machten. Auf dieser Liste: Sierra Leone.
## Integriert
Joseph Koromas Leidenschaft ist Tischtennis. Als kleiner Junge fing er
damit an, als junger Mann war er ein „Star“, sagt Koroma, der heute im
erste Stock eines Hauses in Freetown, der Hauptstadt von Sierra Leone lebt.
Wände und Boden sind unverputzt, staubig, das Dach mit Hölzern abgestützt,
das Zimmer dunkel, auf dem Boden steht ein großer Topf auf glimmenden
Holzscheiten.
In Sierra Leones aufstrebender Tischtennis-Szene, später wurde er gar
Nationaltrainer. In Kornwestheim suchte Koroma im Internet nach einem Club
und fand den „SV Salamander Kornwestheim 1894 e.V.“ . Das habe „sein Leben
stärker verändert, als ich auszudrücken vermag“, sagt Koroma. Er ist ein
hochgewachsener Mann mit Glatze, ruhige Stimme, sein Englisch stark
westafrikanisch gefärbt.
Die Stuttgarter Zeitung schreibt Artikel darüber, wie er seine Mannschaft
gegen Spieler aus Steinheim, Kleinsachsenheim und Bietigheim-Bissingen in
Führung brachte. „Sie waren meine besten Freunde, es war mir eine Ehre,
dass ich mich mit ihnen messen durfte.“ Koroma holt ein gerahmtes Foto
seiner Mannschaft, er zeigt es, betrachtet es selbst, legt es in seinen
Schoß, bevor er weiterspricht. „Wenn du Asyl suchst, erlauben sie dir
nicht, zu arbeiten, aber der Sponsor dieses Clubs“, die
Salamander-Schuhfabrik, „ging sogar zur Ausländerbehörde, um zu fragen, ob
er mich beschäftigen dürfte.“ Die Behörde lehnte allerdings ab. Der Club
bezahlte die Schulgebühren für Koromas Sohn in Freetown. „Wenn ich ein
Problem hatte, halfen sie mir ohne jedes Zögern.“ Sechs Saisons lang
spielte Josef für den Verein.
## Bockige Botschaften
Das Regierungspräsidium Karlsruhe lässt ihn 2011 bei der Botschaft von
Sierra Leone vorführen. Einen Pass wollte er nicht und er bekam ihn auch
nicht. Die AG Rück hat eine Liste gemacht, warum Abschiebungen so oft an
den Botschaften scheitern. Manche geben die Pässe nur her, wenn der
Betreffende einwilligt. Koromo wollte nicht. Sie würden ihre Bürger vor den
deutschen Behörde schützen, schreibt die AG Rück, dazu komme Korruption,
Willkür, ein fehlendes „politisches Interesse an Rückführungen“, manche
Länder wollten Deutschland gar Zugeständnisse oder Geld abpressen.
Um die bockigen Botschaften zu umgehen, war die Bundespolizei in den Jahren
zuvor mehrfach auf die Idee gekommen, Beamte aus westafrikanischen Staaten
extra einfliegen zu lassen. 2008 etwa kamen solche Beamte aus Freetown nach
Hamburg. Die Süddeutsche Zeitung fand später heraus, dass diese 250 Euro
pro Abschiebepapier, eine „Tagespauschale“ von 200 Euro plus Spesen
bekamen; die Bundespolizei lud sie zum HSV-Spiel ein und ließ sogar für
63,50 Euro bei einem Schlüsseldienst den sierra-leonischen Dienststempel
der Beamten anfertigen, die ohne das Hoheitszeichen angereist waren.
Anders als die Botschaft stellte diese „Delegation“ zwei Dritteln aller
abgelehnten Asylbewerber, die die Bundespolizei ihnen vorführte, ein
Abschiebepapier aus. Für Ausländerbehörde und Bundespolizei ein
Bombenerfolg, auf einen Schlag konnten sie dutzende Altfälle abschieben. In
den Medien und vor Gericht machte sich die Sache hingegen gar nicht gut. Es
roch zu sehr nach Korruption. Nach einer Weile stellte die Bundespolizei
die Praxis ein.
## Afrika ist groß
Auch das Regierungspräsidium in Karlsruhe konnte den „unmittelbar
ausreisepflichtigen“ Joseph Koroma nicht abschieben, weil es keinen Pass
für ihn hatte. Aber die Beamten lassen sich nicht entmutigen. Koroma kommt
aus Afrika. Und das ist schließlich groß. Es besteht nicht nur aus Sierra
Leone.
Am Morgen des 10. April 2012 holen sie Joseph Koroma in seiner Wohnung ab
und bringen ihn nach Karlsruhe. Dort wartet eine so genannte Delegation der
nigerianischen Botschaft in Berlin. Sie soll prüfen, ob es nicht möglich
sei, dass Joseph Koroma aus Nigeria stamme. Koroma sagte, er werde klagen,
wenn er zum Nigerianer gemacht würde. Die Botschaftsleute schickte ihn und
die Beamten weg. Die Ausländerbehörde aber ließ sich nicht beirren. Am 25.
Juni 2013 holte sie Koroma erneut in seiner Wohnung ab, brachte ihn wieder
nach Karlsruhe. Dieselbe „Delegation“ der Botschaft aus Berlin war da.
Dieses Mal befanden sie: Koroma sei Nigerianer.
So sitzt er fünf Monate später bei der Bundespolizei am Flughafen
Frankfurt/Main und wartet auf den Einstieg ins Abschiebeflugzeug. Sein
Telefon darf er behalten. „Mein Anwalt sagte, er würde jetzt Briefe an das
Gericht und die Ausländerbehörde schreiben“, sagt Koroma. „Das war das
letzte Mal, dass wir sprachen.“ Um 11:10 Uhr startete der Lufthansa Flug LH
568 nach Lagos/Nigeria. An Bord: Joseph Koroma.
## Reisegeld von Freunden in Deutschland
In Lagos bringen Polizisten ihn zu Beamten der Einwanderungsbehörde NIS.
Koroma sagt ihnen, dass er kein Nigerianer sei, niemanden im Land kannte
und nicht wisse, wohin. Bald darauf meldet sich bei den Beamten ein Mann
aus Togo, der in einem Vorort von Lagos lebt. Er wolle Koroma abholen. Es
ist der Bruder eines Freundes von Koroma aus Kornwestheim. Dort hatte sich
im Laufe des Tages herumgesprochen, was geschehen war. Der Freund hatte
seinen Bruder gebeten, Koroma bei sich aufzunehmen.
Einen Monat bleibt Koroma bei dem Mann, die Wohnung verlässt er kaum. Die
meiste Zeit sitzt er vor dem Computer, schreibt Mails, telefoniert, mit
seiner Familie in Sierra Leone, mit seinen Tischtennis-Kumpeln in
Kornwestheim. Nach Freetown sind es von Lagos 2.500 Kilometer, der Bus
fährt durch das Gebiet von Rebellenarmeen. Der Flug aber kostet mehrere
hundert Euro und Koroma hat nichts. Einen Monat später kommt für ihn Geld
bei Western Union an. Seine Freunde in Kornwestheim hatten es gesammelt.
„Joseph ist kein nigerianischer Mann oder ein böser Mann. Aber wir haben
uns sehr geschämt, was mit ihm geschehen ist“, sagte Mariama, seine Frau.
Als Koroma im November 2013 in Freetown aus dem Flugzeug steigt, ist er
seinen Freunden in Deutschland dankbar, dass sie ihn zu seiner Familie
kommen ließen. Aber es war nicht mehr das Land, das er sieben Jahre zuvor
verlassen hatte. Damals arbeitete Joseph in einem kleinen Bergwerk im Osten
des Landes. Was er sparen konnte, investierte die Familie in seine Reise
nach Europa. Nun suchte er nach fester Arbeit, doch er fand keine. Bald
darauf bricht die Ebola-Seuche aus. Von der Epidemie bleibt seine Familie
verschont, von der anschließenden Wirtschaftskrise nicht. Das Geld, das
seine Freunde gesammelt hatten, reicht nicht lang für die kleine Wohnung.
## Tischtennis und Lebenshilfe
Das Verhältnis zur Verwandtschaft habe sich „völlig verändert“, nachdem …
zurückgekehrt war, sagt Mariama. „Wenn du draußen in der Welt warst und
abgeschoben wirst, dann ist das eine Schande. Sie verachten dich, statt dir
eine helfende Hand zu reichen.“ Die Leute würden sagen: „‚Dieser Mann hat
sich keine Mühe gegeben, als er in Europa war.‘ Aber sie verstehen nicht,
wie die Dinge dort funktionieren.“
Koromo ist arbeitslos, der Familie droht die Räumung Ihr Sohn Emmanuel ist
17 Jahre alt. „Es ist ein Geschenk Gottes, dass er klug genug ist, um im
nächsten Jahr an die Universität zu gehen“, sagt Mariama. Aber daraus wird
wohl nichts. Die Aufnahmeprüfung kostet fast 200 Dollar, in Sierra Leone
liegt Durchschnittslohn bei unter zwei Dollar pro Tag. Es gibt niemanden,
der den Koromas helfen würde.
So verbringt der Sohn die Zeit genauso wie sein Vater: Mit Tischtennis.
Josef verdient sich etwas Geld damit, Jugend- und Nationalmannschaft zu
trainieren. Bald will er mit seinem Sohn ein Trainingslager für Jugendliche
veranstalten. Sie sollen Möglichkeiten haben, die er selbst nicht hatte.
„Wenn meine Freunde in Deutschland mich etwas lehrten, dann dass man den
Menschen immer helfen soll, wenn man kann“, sagte Joseph. „So funktioniert
die Welt besser.“
## Geld für Abschiebepapiere
Ein Mann, den Deutschland in ein Land abschiebt, aus dem er nicht kommt.
Joseph Koroma ist nicht der einzige Fall dieser Art. Aber es ist einer der
wenigen, die dokumentiert sind. Dafür sorgte der aus Nigeria stammende
Aktivist Rex Osa aus Stuttgart. Er reiste Koroma kurz nach dessen
Abschiebung bis nach Sierra Leone hinterher, sammelte seine Aussage und die
ähnlicher Fälle, in denen abgeschobene Flüchtlinge plötzlich zu Nigerianern
wurden.
Die Botschaft von Nigeria in Berlin hatte offizielle Gebühren festgelegt:
250 Euro sollten Ausländerbehörden pro Anhörung seit 2005 bezahlen. Doch es
stand der Verdacht im Raum, dass mit den Abschiebepapieren ein Geschäft
gemacht wird. Die Kritik wuchs, auch hier roch es nach Korruption. 2011
schafft die Botschaft die Gebühren deshalb offiziell ab. Der Aktivist Osa
aber ist sicher: Die Botschaftsmitarbeiter haben die Hand aufgehalten, und
zwar im Fall von Koroma doppelt. Deswegen hätten sie sich auch zweimal nach
Karlsruhe einladen lassen. „Das ist ein absolut korruptes System. Die
machen ein Geschäft mit den Abschiebungen.“
2015 fragte der Berliner Journalist Daniel Mützel bei der für die
Abschiebung von Koromoa zuständigen Bundespolizei nach, ob das wahr sein
kann. Ob die Bundespolizei „Anreize“ geboten habe, damit Koroma und andere
zum Nigerianer gemacht wurden, um sie abschieben zu können. Die Antwort der
Bundespolizeidirektion in Potsdam: „Seitens der Bundespolizei werden keine
Anreize geboten. Hinsichtlich der Motivation der Botschaft kann von hier
keine Aussage getroffen werden.“
## Eine Tortur
Hat Koroma nun die Wahrheit gesagt? Stammt er tatsächlich aus Sierra Leone?
Es sieht so aus. Die Behörden in Freetown jedenfalls stellen ihm am 6.
November 2013, kurz nach seiner Ankunft, einen Pass mit der Nummer E0143344
aus, er liegt der taz vor. Darin steht, dass er am 7. Dezember 1964 in
Freetown geboren wurde, wie er es bei den Behörden in Deutschland angab.
Als der Aktivist Osa ihn 2014 in Freetown besuchte, trifft er ihn bei
seiner Familie an, ebenso wie die taz im November 2016.
Dass Koroma und eine Reihe weiterer Abgeschobener in Nigeria landeten, dazu
ist es gekommen, weil viele Konsulate nicht mit den deutschen
Ausländerbehörden zusammenarbeiten und ein anderes dafür schon. Warum auch
immer. Es ist eine zweifelhafte Vorgehensweise, teuer, mühsam, langwierig.
Für den Betroffenen eine Tortur.
Das war die Vergangenheit. Denn wie es aussieht, sind die Ausländerbehörden
auf solche Zusammenarbeit bald nicht mehr angewiesen. Die Zukunft der
Abschiebung könnte eine andere sein.
Sie könnten es bald alle so machen wie Arne Sahlstedt, Inspektor bei der
Polizei in Gävle, Mittelschweden, 70.000 Einwohner, zwei Autostunden
nördlich von Stockholm. Auch Sahlstedt musste einen Mann abschieben, der
keinen Pass hatte. Sein Name ist Fulani Camara, 29 Jahre alt, aus Mali,
Waise.
## Zugewiesene Nationalität
Die Ausländerbehörde von Gävle hatte Camara ausgewiesen, nachdem dessen
Asylantrag abgelehnt worden war. So wie es in Schwaben mit Joseph Koroma
geschah. Auch Camara reiste nicht aus, auch die Botschaft von Mali in
Stockholm stellte keinen Pass für ihn aus. Warum nicht, das will die
Polizei in Gävle auf taz-Anfrage nicht sagen. „Datenschutz“, heißt es.
Wahrscheinlich steht auch Mali auf der „Problemstaatenliste“.
Was Menschen wie Sahlstedt in solchen Fällen tun sollen, dafür gibt es seit
zwei Jahren in Schweden einen Erlass. Er trägt die Bezeichnung RPSFS 2014:8
FAP 638-1 und darin steht, dass Sahlstedt auch selbst ein Reisepapier
ausstellen kann, wenn die Botschaft das nicht tut. Es ist ein einfaches
DIN-A4-Blatt, oben ist die Flagge der EU gedruckt, Sahlstedt muss nur den
Namen, die Körpergröße, die schwedische Registernummer, das Geburtsdatum
und die „vermutete Nationalität“ eintragen. Im Fall von Camara trug
Sahlstedt „Mali“ sein. Am 24. Oktober diesen Jahres stempelte und
unterschrieb Sahlstedt das Papier. Drei Tage später saß Fulani Camara im
Flugzeug.
An diesem Tag klingelte in Malis Hauptstadt Bamako das Handy von Ousmane
Diarra. Er ist Aktivist der Malischen Vereinigung der Abgeschobenen (AME).
Seit Jahren fährt er zum Flughafen, wenn um 19:55 Uhr der einzige
Direktflug aus Paris ankommt und darin Menschen sitzen, die am Morgen des
Tages irgendwo in Europa von der Polizei aus ihren Wohnungen geholt wurden,
weil sie ihr Bleiberecht verloren hatten. Die meisten wissen nicht wohin,
die wenigsten haben Geld, und so sind die Leute am Flughafen froh, wenn die
AME sich kümmert. Deshalb rufen sie ihn an, wenn wieder Abgeschobene aus
dem Flugzeug steigen.
Diarra wartet dann vor dem Büro der Flughafenpolizei, dann nimmt er sie mit
in das Büro der AME. Ein Platz zum Schlafen für die erste Nacht, ein Essen,
viel mehr kann Diarra den Leuten nicht bieten. Jedes Mal aber befragt er
sie über die Umstände der Abschiebung. Tausende solcher Geschichten dürfte
Diarra mittlerweile gehört haben. Aber Camaras Fall war besonders.
Denn das Blatt Papier mit der EU-Fahne, dass der schwedische
Polizeiinspektor Sahlstedt unterschrieben hatte – offiziell erkennen
malische Behörden es gar nicht an. Schon 1994 hatte die EU eine
„Empfehlung“ für die Verwendung eines solchen Abschiebepapiers
ausgesprochen. Das Problem der unkooperativen Botschaften ist alt. Doch
bislang weigerten sich – mit Ausnahme des Inselstaates Kap Verden –
sämtliche Staaten Afrikas, offiziell diese Papiere zu akzeptieren. Zum
einen würde dies innenpolitisch wie Verrat am eigenen Volk aufgefasst. Zum
anderen verlieren die Botschaften so, je nach Lesart, die Möglichkeit zu
prüfen, ob jemand tatsächlich Bürger des jeweiligen Landes ist – oder auch
die Hand aufzuhalten, um mit den Abschiebungen etwas nebenher zu verdienen.
Inoffiziell aber gab es in der Vergangenheit Einzelfälle, in denen diese
„EU Laissez Passers“ zur Anwendung kamen.
## Migration als Gewinn
Diarra bat Fulani Camara, einige Tage zu bleiben. Am 5. November diesen
Jahres feierte die AME ihren 20. Geburtstag. Sie hatte für diesen Tag das
Nationalmuseum von Bamako, zwischen dem Fußballstadion und dem Rathaus
gemietet, es war für sie ein wichtiger Tag. Mali ist ein Land dessen
Bewohner traditionell zum Arbeiten anderswo hin gehen, die meisten in
andere Staaten Westafrikas, manche nach Europa. Seit langem hat das Land
deshalb ein eigenes Ministerium für die Malier im Ausland. Und seit es das
gibt, steht es unter Druck: Vor allem Frankreich will viele Malier
abschieben. Die Regierung hält davon nicht viel.
In einem internen Strategiepapier hat die EU-Kommission im Januar 2016 die
Lage so beschrieben: Die Ansichten zur Migration zwischen der EU und Mali
„fallen nicht zusammen“. Migration gelte dort „kulturell als
Erfolgsmodell“, die „wirtschaftliche Bedeutung von Überweisungen ist
berücksichtigen“. Malis Regierung betrachte sogar die irreguläre Migration
als „Ressource“. Und sei deshalb gegen ein Rückübernahmeabkommen mit der
EU.
Zum ihrem Geburtstag hatte die AME den hohen Beamten Broulaye Keïta
eingeladen, er trägt den Titel „Berater des Ministers“. Sie wollte mit ihm
darüber sprechen, wie die Regierung mit dem wachsenden Druck aus Europa
umgehe. Sie wollten wissen, wie sie zu den Abschiebeabkommen stehe, für die
die EU Staaten wie Mali gerade Hunderte Millionen Euro anbietet. Und in
denen stehen soll, dass Europa künftig selbst Abschiebepapiere ausstellen
kann.
Bei der Feier anwesend war der Filmemacher Hans-Georg Eberl aus Wien. Er
berichtet, dass Keïta sagte, dass die Regierung an ihrer Linie festhalte.
Ohne malischen Pass keine Abschiebung nach Mai. Anderes werde es nicht
geben. Diarra hatte Camaras Zettel extra gescannt, nun warf er das Bild des
Zettels von den schwedischen Behörden vor den versammelten Gästen mit einem
Projektor an die Leinwand. Er wisse davon nichts, sagte Keïta. Das „Haute
Conseil“, der Hohe Rat seines Ministeriums, werde eine Untersuchung in der
Sache einleiten.
## Einen Stimmungswandel kaufen
Keïta dürfte die Unwahrheit gesagt haben. Nur drei Tage nach der Feier
landet eine Delegation der EU in Bamako: Italiens Außenminister und
künftiger Regierungschef Paolo Gentolini, der Staatsekretär Dominico
Manzione und der EU-Kommissionsvertreter Franc Lucani. Sie trafen den
Präsidenten Ibrahim Boubacar Keita. „Der Austausch konzentrierte sich in
erster Linie auf Fragen der Migration“, heißt es bei der EU.
2004 wurden 5.495 Malier aufgefordert, die EU zu verlassen, 610 wurden
abgeschoben – eine Rate von 11,1 Prozent. Seit dem Gipfel von Afrikanischer
Union und EU im November 2015 in Valletta hat die Steigerung dieser Quote
für die EU höchste Priorität. Allein Mali bot sie für's erste 145 Millionen
Euro und für die nächsten Jahre wohl noch mehr – wenn es „konkrete und
messbare Ergebnisse bei der zügigen operativen Rückführung irregulärer
Migranten“ gebe, wie es in einem Ratspapier heißt.
Auch mit Senegal, Nigeria, Niger und Äthiopien verhandelt die EU seit
Monaten über solche Abkommen. Es wäre das Ende der Sorgen der AG Rück. Was
mit Joseph Koroma geschah, kann dann jedem Afrikaner blühen. Länder wie
Deutschland oder Schweden sind nicht mehr auf die unkalkulierbaren, teils
korrupten Botschaften angewiesen. Sie können im Prinzip jeden Flüchtling
dahin abschieben, wo die Papiere anerkannt werden – egal, woher die Person
tatsächlich stammt.
Welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit ein solches Papier ausgestellt
werden kann, das verrät der zuständige Europäische Auswärtige Dienst der
EU-Kommission auf Anfrage nicht. Die Behörden dürften recht freie Hand
haben. So könnte es noch viele Menschen wie Joseph Koroma geben, bei denen
die Polizei an der Tür klopft, um sie in ein fremdes Land zu bringen.
Mitarbeit: Daniel Mützel (Berlin), Reinhard Wolff (Stockholm), Hans-Georg
Eberl (Bamako)
15 Dec 2016
## AUTOREN
Christian Jakob
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