# taz.de -- Zwangsrückführung ohne gültige Papiere: Die Zukunft der Abschieb… | |
> Beliebige Papiere nach Bedarf: Immer öfter schiebt die EU | |
> Ausreiseverpflichtete aus Afrika in ein anderes als ihr Herkunftsland ab. | |
Bild: Wohin der Flug geht, entscheidet im Zweifel die Laune eines Beamten | |
BERLIN/FREETOWN taz | Sie klopften um drei Uhr früh an seiner Tür, es war | |
ein Dienstag im Oktober 2013. Mit zwei Mannschaftswagen waren die | |
Polizisten zur Wohnung von Joseph Koroma in der Heilbronner Straße 2 in | |
Waldheim gekommen. Er werde nun nach Nigeria abgeschoben, sagte einer der | |
Beamten. Er möge seinen Koffer packen. Seit 2006 lebt der abgelehnte | |
Asylsuchende in Deutschland. In Nigeria war er noch nie. | |
Er geriet in Panik, „Ich war außer mir“, sagt er über den Tag. Er solle | |
sich beruhigen, sagen die Polizisten. Die Sachen packen, die er am | |
dringendsten brauche. „Ich kann nicht nach Nigeria. Ich komme aus Sierra | |
Leone,“ sagte Koroma. Sie hätten ihre Anweisungen, sagten die Beamten. | |
Koroma muss alles zurücklassen, was nicht in seinen Rucksack passt, die | |
Polizisten bringen ihn zur Ausländerbehörde. Drei Stunden wird er dort | |
festgehalten, seine deutschen Papiere beschlagnahmt. Sein Anwalt geht nicht | |
ans Telefon. | |
Koroma sieht vom Rücksitz eines Streifenwagens, wie die Sonne aufgeht. Um | |
neun Uhr kommt er am Frankfurter Großflughafen an. Als sein Anwalt | |
schließlich das Telefon abhebt, sagt er ihm, dass die Botschaft von Nigeria | |
für Koroma, der keinen Pass besitzt, ein Reisepapier ausgestellt hatte. | |
Diese Geschichte handelt von den Mitteln, zu denen Behörden bisweilen | |
greifen. Sie handelt von zwei Männern, bei denen sie nicht hinnehmen | |
wollten, dass sie sie nicht aus dem Land entfernen konnten. Sie handelt von | |
der Vergangenheit und von der Zukunft der Abschiebung. | |
## Aus dem Bürgerkrieg gekommen | |
Koroma war einer von 33.003 Menschen, die das Bundesinnenministerium 2012 | |
bundesweit als „unmittelbar ausreisepflichtig“ registriert hatte. Doch nur | |
rund jeder Sechste von ihnen konnte in jenen Jahren tatsächlich abgeschoben | |
werden. Das beklagte die „AG Rück“, eine mit Abschiebungen befasste | |
Arbeitsgruppe von Bund und Ländern. Sie listete 25 Gründe auf, warum | |
Abschiebungen so schwierig waren. Auf Platz eins der Liste: | |
„Pass(ersatzpapier)beschaffung“. Auf Platz zwei: „Kooperationsverhalten d… | |
Herkunftsstaaten“. So, wie bei Joseph Koroma. | |
Im Mai 2006 erreicht er Deutschland, 42 Jahre ist er da alt. Von 1991 bis | |
2002 herrschte in Sierra Leone Bürgerkrieg. Bis zu 300.000 Menschen sollen | |
getötet worden sein, 2,6 Millionen vertrieben. Doch als Koroma in | |
Deutschland ankommt, ist der Krieg vorbei. Nach nur fünf Monaten wird sein | |
Asylantrag abgelehnt, 2008 wird die Entscheidung rechtskräftig. Das | |
Regierungspräsidium Karlsruhe, Abteilung acht – Ausländer – weist ihn aus. | |
Aber Joseph Koroma hat keinen Pass. | |
2006 wurde bekannt, dass Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) sich | |
wütend bei mehreren Diplomaten beklagt hatte, weil 29 Botschaften, die | |
Steinmeiers Ministerium auf einer geheimen „Problemstaatenliste“ führte, | |
bei Abschiebungen Schwierigkeiten machten. Auf dieser Liste: Sierra Leone. | |
## Integriert | |
Joseph Koromas Leidenschaft ist Tischtennis. Als kleiner Junge fing er | |
damit an, als junger Mann war er ein „Star“, sagt Koroma, der heute im | |
erste Stock eines Hauses in Freetown, der Hauptstadt von Sierra Leone lebt. | |
Wände und Boden sind unverputzt, staubig, das Dach mit Hölzern abgestützt, | |
das Zimmer dunkel, auf dem Boden steht ein großer Topf auf glimmenden | |
Holzscheiten. | |
In Sierra Leones aufstrebender Tischtennis-Szene, später wurde er gar | |
Nationaltrainer. In Kornwestheim suchte Koroma im Internet nach einem Club | |
und fand den „SV Salamander Kornwestheim 1894 e.V.“ . Das habe „sein Leben | |
stärker verändert, als ich auszudrücken vermag“, sagt Koroma. Er ist ein | |
hochgewachsener Mann mit Glatze, ruhige Stimme, sein Englisch stark | |
westafrikanisch gefärbt. | |
Die Stuttgarter Zeitung schreibt Artikel darüber, wie er seine Mannschaft | |
gegen Spieler aus Steinheim, Kleinsachsenheim und Bietigheim-Bissingen in | |
Führung brachte. „Sie waren meine besten Freunde, es war mir eine Ehre, | |
dass ich mich mit ihnen messen durfte.“ Koroma holt ein gerahmtes Foto | |
seiner Mannschaft, er zeigt es, betrachtet es selbst, legt es in seinen | |
Schoß, bevor er weiterspricht. „Wenn du Asyl suchst, erlauben sie dir | |
nicht, zu arbeiten, aber der Sponsor dieses Clubs“, die | |
Salamander-Schuhfabrik, „ging sogar zur Ausländerbehörde, um zu fragen, ob | |
er mich beschäftigen dürfte.“ Die Behörde lehnte allerdings ab. Der Club | |
bezahlte die Schulgebühren für Koromas Sohn in Freetown. „Wenn ich ein | |
Problem hatte, halfen sie mir ohne jedes Zögern.“ Sechs Saisons lang | |
spielte Josef für den Verein. | |
## Bockige Botschaften | |
Das Regierungspräsidium Karlsruhe lässt ihn 2011 bei der Botschaft von | |
Sierra Leone vorführen. Einen Pass wollte er nicht und er bekam ihn auch | |
nicht. Die AG Rück hat eine Liste gemacht, warum Abschiebungen so oft an | |
den Botschaften scheitern. Manche geben die Pässe nur her, wenn der | |
Betreffende einwilligt. Koromo wollte nicht. Sie würden ihre Bürger vor den | |
deutschen Behörde schützen, schreibt die AG Rück, dazu komme Korruption, | |
Willkür, ein fehlendes „politisches Interesse an Rückführungen“, manche | |
Länder wollten Deutschland gar Zugeständnisse oder Geld abpressen. | |
Um die bockigen Botschaften zu umgehen, war die Bundespolizei in den Jahren | |
zuvor mehrfach auf die Idee gekommen, Beamte aus westafrikanischen Staaten | |
extra einfliegen zu lassen. 2008 etwa kamen solche Beamte aus Freetown nach | |
Hamburg. Die Süddeutsche Zeitung fand später heraus, dass diese 250 Euro | |
pro Abschiebepapier, eine „Tagespauschale“ von 200 Euro plus Spesen | |
bekamen; die Bundespolizei lud sie zum HSV-Spiel ein und ließ sogar für | |
63,50 Euro bei einem Schlüsseldienst den sierra-leonischen Dienststempel | |
der Beamten anfertigen, die ohne das Hoheitszeichen angereist waren. | |
Anders als die Botschaft stellte diese „Delegation“ zwei Dritteln aller | |
abgelehnten Asylbewerber, die die Bundespolizei ihnen vorführte, ein | |
Abschiebepapier aus. Für Ausländerbehörde und Bundespolizei ein | |
Bombenerfolg, auf einen Schlag konnten sie dutzende Altfälle abschieben. In | |
den Medien und vor Gericht machte sich die Sache hingegen gar nicht gut. Es | |
roch zu sehr nach Korruption. Nach einer Weile stellte die Bundespolizei | |
die Praxis ein. | |
## Afrika ist groß | |
Auch das Regierungspräsidium in Karlsruhe konnte den „unmittelbar | |
ausreisepflichtigen“ Joseph Koroma nicht abschieben, weil es keinen Pass | |
für ihn hatte. Aber die Beamten lassen sich nicht entmutigen. Koroma kommt | |
aus Afrika. Und das ist schließlich groß. Es besteht nicht nur aus Sierra | |
Leone. | |
Am Morgen des 10. April 2012 holen sie Joseph Koroma in seiner Wohnung ab | |
und bringen ihn nach Karlsruhe. Dort wartet eine so genannte Delegation der | |
nigerianischen Botschaft in Berlin. Sie soll prüfen, ob es nicht möglich | |
sei, dass Joseph Koroma aus Nigeria stamme. Koroma sagte, er werde klagen, | |
wenn er zum Nigerianer gemacht würde. Die Botschaftsleute schickte ihn und | |
die Beamten weg. Die Ausländerbehörde aber ließ sich nicht beirren. Am 25. | |
Juni 2013 holte sie Koroma erneut in seiner Wohnung ab, brachte ihn wieder | |
nach Karlsruhe. Dieselbe „Delegation“ der Botschaft aus Berlin war da. | |
Dieses Mal befanden sie: Koroma sei Nigerianer. | |
So sitzt er fünf Monate später bei der Bundespolizei am Flughafen | |
Frankfurt/Main und wartet auf den Einstieg ins Abschiebeflugzeug. Sein | |
Telefon darf er behalten. „Mein Anwalt sagte, er würde jetzt Briefe an das | |
Gericht und die Ausländerbehörde schreiben“, sagt Koroma. „Das war das | |
letzte Mal, dass wir sprachen.“ Um 11:10 Uhr startete der Lufthansa Flug LH | |
568 nach Lagos/Nigeria. An Bord: Joseph Koroma. | |
## Reisegeld von Freunden in Deutschland | |
In Lagos bringen Polizisten ihn zu Beamten der Einwanderungsbehörde NIS. | |
Koroma sagt ihnen, dass er kein Nigerianer sei, niemanden im Land kannte | |
und nicht wisse, wohin. Bald darauf meldet sich bei den Beamten ein Mann | |
aus Togo, der in einem Vorort von Lagos lebt. Er wolle Koroma abholen. Es | |
ist der Bruder eines Freundes von Koroma aus Kornwestheim. Dort hatte sich | |
im Laufe des Tages herumgesprochen, was geschehen war. Der Freund hatte | |
seinen Bruder gebeten, Koroma bei sich aufzunehmen. | |
Einen Monat bleibt Koroma bei dem Mann, die Wohnung verlässt er kaum. Die | |
meiste Zeit sitzt er vor dem Computer, schreibt Mails, telefoniert, mit | |
seiner Familie in Sierra Leone, mit seinen Tischtennis-Kumpeln in | |
Kornwestheim. Nach Freetown sind es von Lagos 2.500 Kilometer, der Bus | |
fährt durch das Gebiet von Rebellenarmeen. Der Flug aber kostet mehrere | |
hundert Euro und Koroma hat nichts. Einen Monat später kommt für ihn Geld | |
bei Western Union an. Seine Freunde in Kornwestheim hatten es gesammelt. | |
„Joseph ist kein nigerianischer Mann oder ein böser Mann. Aber wir haben | |
uns sehr geschämt, was mit ihm geschehen ist“, sagte Mariama, seine Frau. | |
Als Koroma im November 2013 in Freetown aus dem Flugzeug steigt, ist er | |
seinen Freunden in Deutschland dankbar, dass sie ihn zu seiner Familie | |
kommen ließen. Aber es war nicht mehr das Land, das er sieben Jahre zuvor | |
verlassen hatte. Damals arbeitete Joseph in einem kleinen Bergwerk im Osten | |
des Landes. Was er sparen konnte, investierte die Familie in seine Reise | |
nach Europa. Nun suchte er nach fester Arbeit, doch er fand keine. Bald | |
darauf bricht die Ebola-Seuche aus. Von der Epidemie bleibt seine Familie | |
verschont, von der anschließenden Wirtschaftskrise nicht. Das Geld, das | |
seine Freunde gesammelt hatten, reicht nicht lang für die kleine Wohnung. | |
## Tischtennis und Lebenshilfe | |
Das Verhältnis zur Verwandtschaft habe sich „völlig verändert“, nachdem … | |
zurückgekehrt war, sagt Mariama. „Wenn du draußen in der Welt warst und | |
abgeschoben wirst, dann ist das eine Schande. Sie verachten dich, statt dir | |
eine helfende Hand zu reichen.“ Die Leute würden sagen: „‚Dieser Mann hat | |
sich keine Mühe gegeben, als er in Europa war.‘ Aber sie verstehen nicht, | |
wie die Dinge dort funktionieren.“ | |
Koromo ist arbeitslos, der Familie droht die Räumung Ihr Sohn Emmanuel ist | |
17 Jahre alt. „Es ist ein Geschenk Gottes, dass er klug genug ist, um im | |
nächsten Jahr an die Universität zu gehen“, sagt Mariama. Aber daraus wird | |
wohl nichts. Die Aufnahmeprüfung kostet fast 200 Dollar, in Sierra Leone | |
liegt Durchschnittslohn bei unter zwei Dollar pro Tag. Es gibt niemanden, | |
der den Koromas helfen würde. | |
So verbringt der Sohn die Zeit genauso wie sein Vater: Mit Tischtennis. | |
Josef verdient sich etwas Geld damit, Jugend- und Nationalmannschaft zu | |
trainieren. Bald will er mit seinem Sohn ein Trainingslager für Jugendliche | |
veranstalten. Sie sollen Möglichkeiten haben, die er selbst nicht hatte. | |
„Wenn meine Freunde in Deutschland mich etwas lehrten, dann dass man den | |
Menschen immer helfen soll, wenn man kann“, sagte Joseph. „So funktioniert | |
die Welt besser.“ | |
## Geld für Abschiebepapiere | |
Ein Mann, den Deutschland in ein Land abschiebt, aus dem er nicht kommt. | |
Joseph Koroma ist nicht der einzige Fall dieser Art. Aber es ist einer der | |
wenigen, die dokumentiert sind. Dafür sorgte der aus Nigeria stammende | |
Aktivist Rex Osa aus Stuttgart. Er reiste Koroma kurz nach dessen | |
Abschiebung bis nach Sierra Leone hinterher, sammelte seine Aussage und die | |
ähnlicher Fälle, in denen abgeschobene Flüchtlinge plötzlich zu Nigerianern | |
wurden. | |
Die Botschaft von Nigeria in Berlin hatte offizielle Gebühren festgelegt: | |
250 Euro sollten Ausländerbehörden pro Anhörung seit 2005 bezahlen. Doch es | |
stand der Verdacht im Raum, dass mit den Abschiebepapieren ein Geschäft | |
gemacht wird. Die Kritik wuchs, auch hier roch es nach Korruption. 2011 | |
schafft die Botschaft die Gebühren deshalb offiziell ab. Der Aktivist Osa | |
aber ist sicher: Die Botschaftsmitarbeiter haben die Hand aufgehalten, und | |
zwar im Fall von Koroma doppelt. Deswegen hätten sie sich auch zweimal nach | |
Karlsruhe einladen lassen. „Das ist ein absolut korruptes System. Die | |
machen ein Geschäft mit den Abschiebungen.“ | |
2015 fragte der Berliner Journalist Daniel Mützel bei der für die | |
Abschiebung von Koromoa zuständigen Bundespolizei nach, ob das wahr sein | |
kann. Ob die Bundespolizei „Anreize“ geboten habe, damit Koroma und andere | |
zum Nigerianer gemacht wurden, um sie abschieben zu können. Die Antwort der | |
Bundespolizeidirektion in Potsdam: „Seitens der Bundespolizei werden keine | |
Anreize geboten. Hinsichtlich der Motivation der Botschaft kann von hier | |
keine Aussage getroffen werden.“ | |
## Eine Tortur | |
Hat Koroma nun die Wahrheit gesagt? Stammt er tatsächlich aus Sierra Leone? | |
Es sieht so aus. Die Behörden in Freetown jedenfalls stellen ihm am 6. | |
November 2013, kurz nach seiner Ankunft, einen Pass mit der Nummer E0143344 | |
aus, er liegt der taz vor. Darin steht, dass er am 7. Dezember 1964 in | |
Freetown geboren wurde, wie er es bei den Behörden in Deutschland angab. | |
Als der Aktivist Osa ihn 2014 in Freetown besuchte, trifft er ihn bei | |
seiner Familie an, ebenso wie die taz im November 2016. | |
Dass Koroma und eine Reihe weiterer Abgeschobener in Nigeria landeten, dazu | |
ist es gekommen, weil viele Konsulate nicht mit den deutschen | |
Ausländerbehörden zusammenarbeiten und ein anderes dafür schon. Warum auch | |
immer. Es ist eine zweifelhafte Vorgehensweise, teuer, mühsam, langwierig. | |
Für den Betroffenen eine Tortur. | |
Das war die Vergangenheit. Denn wie es aussieht, sind die Ausländerbehörden | |
auf solche Zusammenarbeit bald nicht mehr angewiesen. Die Zukunft der | |
Abschiebung könnte eine andere sein. | |
Sie könnten es bald alle so machen wie Arne Sahlstedt, Inspektor bei der | |
Polizei in Gävle, Mittelschweden, 70.000 Einwohner, zwei Autostunden | |
nördlich von Stockholm. Auch Sahlstedt musste einen Mann abschieben, der | |
keinen Pass hatte. Sein Name ist Fulani Camara, 29 Jahre alt, aus Mali, | |
Waise. | |
## Zugewiesene Nationalität | |
Die Ausländerbehörde von Gävle hatte Camara ausgewiesen, nachdem dessen | |
Asylantrag abgelehnt worden war. So wie es in Schwaben mit Joseph Koroma | |
geschah. Auch Camara reiste nicht aus, auch die Botschaft von Mali in | |
Stockholm stellte keinen Pass für ihn aus. Warum nicht, das will die | |
Polizei in Gävle auf taz-Anfrage nicht sagen. „Datenschutz“, heißt es. | |
Wahrscheinlich steht auch Mali auf der „Problemstaatenliste“. | |
Was Menschen wie Sahlstedt in solchen Fällen tun sollen, dafür gibt es seit | |
zwei Jahren in Schweden einen Erlass. Er trägt die Bezeichnung RPSFS 2014:8 | |
FAP 638-1 und darin steht, dass Sahlstedt auch selbst ein Reisepapier | |
ausstellen kann, wenn die Botschaft das nicht tut. Es ist ein einfaches | |
DIN-A4-Blatt, oben ist die Flagge der EU gedruckt, Sahlstedt muss nur den | |
Namen, die Körpergröße, die schwedische Registernummer, das Geburtsdatum | |
und die „vermutete Nationalität“ eintragen. Im Fall von Camara trug | |
Sahlstedt „Mali“ sein. Am 24. Oktober diesen Jahres stempelte und | |
unterschrieb Sahlstedt das Papier. Drei Tage später saß Fulani Camara im | |
Flugzeug. | |
An diesem Tag klingelte in Malis Hauptstadt Bamako das Handy von Ousmane | |
Diarra. Er ist Aktivist der Malischen Vereinigung der Abgeschobenen (AME). | |
Seit Jahren fährt er zum Flughafen, wenn um 19:55 Uhr der einzige | |
Direktflug aus Paris ankommt und darin Menschen sitzen, die am Morgen des | |
Tages irgendwo in Europa von der Polizei aus ihren Wohnungen geholt wurden, | |
weil sie ihr Bleiberecht verloren hatten. Die meisten wissen nicht wohin, | |
die wenigsten haben Geld, und so sind die Leute am Flughafen froh, wenn die | |
AME sich kümmert. Deshalb rufen sie ihn an, wenn wieder Abgeschobene aus | |
dem Flugzeug steigen. | |
Diarra wartet dann vor dem Büro der Flughafenpolizei, dann nimmt er sie mit | |
in das Büro der AME. Ein Platz zum Schlafen für die erste Nacht, ein Essen, | |
viel mehr kann Diarra den Leuten nicht bieten. Jedes Mal aber befragt er | |
sie über die Umstände der Abschiebung. Tausende solcher Geschichten dürfte | |
Diarra mittlerweile gehört haben. Aber Camaras Fall war besonders. | |
Denn das Blatt Papier mit der EU-Fahne, dass der schwedische | |
Polizeiinspektor Sahlstedt unterschrieben hatte – offiziell erkennen | |
malische Behörden es gar nicht an. Schon 1994 hatte die EU eine | |
„Empfehlung“ für die Verwendung eines solchen Abschiebepapiers | |
ausgesprochen. Das Problem der unkooperativen Botschaften ist alt. Doch | |
bislang weigerten sich – mit Ausnahme des Inselstaates Kap Verden – | |
sämtliche Staaten Afrikas, offiziell diese Papiere zu akzeptieren. Zum | |
einen würde dies innenpolitisch wie Verrat am eigenen Volk aufgefasst. Zum | |
anderen verlieren die Botschaften so, je nach Lesart, die Möglichkeit zu | |
prüfen, ob jemand tatsächlich Bürger des jeweiligen Landes ist – oder auch | |
die Hand aufzuhalten, um mit den Abschiebungen etwas nebenher zu verdienen. | |
Inoffiziell aber gab es in der Vergangenheit Einzelfälle, in denen diese | |
„EU Laissez Passers“ zur Anwendung kamen. | |
## Migration als Gewinn | |
Diarra bat Fulani Camara, einige Tage zu bleiben. Am 5. November diesen | |
Jahres feierte die AME ihren 20. Geburtstag. Sie hatte für diesen Tag das | |
Nationalmuseum von Bamako, zwischen dem Fußballstadion und dem Rathaus | |
gemietet, es war für sie ein wichtiger Tag. Mali ist ein Land dessen | |
Bewohner traditionell zum Arbeiten anderswo hin gehen, die meisten in | |
andere Staaten Westafrikas, manche nach Europa. Seit langem hat das Land | |
deshalb ein eigenes Ministerium für die Malier im Ausland. Und seit es das | |
gibt, steht es unter Druck: Vor allem Frankreich will viele Malier | |
abschieben. Die Regierung hält davon nicht viel. | |
In einem internen Strategiepapier hat die EU-Kommission im Januar 2016 die | |
Lage so beschrieben: Die Ansichten zur Migration zwischen der EU und Mali | |
„fallen nicht zusammen“. Migration gelte dort „kulturell als | |
Erfolgsmodell“, die „wirtschaftliche Bedeutung von Überweisungen ist | |
berücksichtigen“. Malis Regierung betrachte sogar die irreguläre Migration | |
als „Ressource“. Und sei deshalb gegen ein Rückübernahmeabkommen mit der | |
EU. | |
Zum ihrem Geburtstag hatte die AME den hohen Beamten Broulaye Keïta | |
eingeladen, er trägt den Titel „Berater des Ministers“. Sie wollte mit ihm | |
darüber sprechen, wie die Regierung mit dem wachsenden Druck aus Europa | |
umgehe. Sie wollten wissen, wie sie zu den Abschiebeabkommen stehe, für die | |
die EU Staaten wie Mali gerade Hunderte Millionen Euro anbietet. Und in | |
denen stehen soll, dass Europa künftig selbst Abschiebepapiere ausstellen | |
kann. | |
Bei der Feier anwesend war der Filmemacher Hans-Georg Eberl aus Wien. Er | |
berichtet, dass Keïta sagte, dass die Regierung an ihrer Linie festhalte. | |
Ohne malischen Pass keine Abschiebung nach Mai. Anderes werde es nicht | |
geben. Diarra hatte Camaras Zettel extra gescannt, nun warf er das Bild des | |
Zettels von den schwedischen Behörden vor den versammelten Gästen mit einem | |
Projektor an die Leinwand. Er wisse davon nichts, sagte Keïta. Das „Haute | |
Conseil“, der Hohe Rat seines Ministeriums, werde eine Untersuchung in der | |
Sache einleiten. | |
## Einen Stimmungswandel kaufen | |
Keïta dürfte die Unwahrheit gesagt haben. Nur drei Tage nach der Feier | |
landet eine Delegation der EU in Bamako: Italiens Außenminister und | |
künftiger Regierungschef Paolo Gentolini, der Staatsekretär Dominico | |
Manzione und der EU-Kommissionsvertreter Franc Lucani. Sie trafen den | |
Präsidenten Ibrahim Boubacar Keita. „Der Austausch konzentrierte sich in | |
erster Linie auf Fragen der Migration“, heißt es bei der EU. | |
2004 wurden 5.495 Malier aufgefordert, die EU zu verlassen, 610 wurden | |
abgeschoben – eine Rate von 11,1 Prozent. Seit dem Gipfel von Afrikanischer | |
Union und EU im November 2015 in Valletta hat die Steigerung dieser Quote | |
für die EU höchste Priorität. Allein Mali bot sie für's erste 145 Millionen | |
Euro und für die nächsten Jahre wohl noch mehr – wenn es „konkrete und | |
messbare Ergebnisse bei der zügigen operativen Rückführung irregulärer | |
Migranten“ gebe, wie es in einem Ratspapier heißt. | |
Auch mit Senegal, Nigeria, Niger und Äthiopien verhandelt die EU seit | |
Monaten über solche Abkommen. Es wäre das Ende der Sorgen der AG Rück. Was | |
mit Joseph Koroma geschah, kann dann jedem Afrikaner blühen. Länder wie | |
Deutschland oder Schweden sind nicht mehr auf die unkalkulierbaren, teils | |
korrupten Botschaften angewiesen. Sie können im Prinzip jeden Flüchtling | |
dahin abschieben, wo die Papiere anerkannt werden – egal, woher die Person | |
tatsächlich stammt. | |
Welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit ein solches Papier ausgestellt | |
werden kann, das verrät der zuständige Europäische Auswärtige Dienst der | |
EU-Kommission auf Anfrage nicht. Die Behörden dürften recht freie Hand | |
haben. So könnte es noch viele Menschen wie Joseph Koroma geben, bei denen | |
die Polizei an der Tür klopft, um sie in ein fremdes Land zu bringen. | |
Mitarbeit: Daniel Mützel (Berlin), Reinhard Wolff (Stockholm), Hans-Georg | |
Eberl (Bamako) | |
15 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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