# taz.de -- Das EU-Flüchtlingspolitik in Afrika: Abschied von Dadaab | |
> Das größte Flüchtlingslager der Welt liegt in Kenia. Eine Generation | |
> Somalier ist dort groß geworden. Nun soll es abgewickelt werden. | |
Bild: Zeitweise lebten etwa 500.000 Menschen in Dadaab, derzeit sind es noch 27… | |
Dadaab/Nairobi taz | Amin Mohammed drückt seinen Daumen auf das | |
Tintenkissen. Anschließend hinterlässt er seinen Fingerabdruck auf einem | |
Formular neben seinem Foto. Das Gleiche machen seine Frau und die sieben | |
Kinder. Ein Mitarbeiter des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) überreicht dem | |
somalischen Flüchtling Faltzettel mit Bildern von Maismehl, Hirse, Bratöl. | |
Auf einem weiteren Zettel stehen Telefonnummern des Welternährungsprogramms | |
(WFP) mit somalischer Landeskennung. | |
„Du musst anrufen, wenn ihr angekommen seid, und eure Lebensmittelrationen | |
abholen“, erklärt der UNHCR-Mitarbeiter auf Somali. Mohammed, mit rot | |
eingefärbtem Ziegenbart und ledriger Haut, drückt die Zettel an seine | |
Brust. Sie sind sein Start in ein neues Leben, zurück in der alten Heimat. | |
Auf dem Rollfeld hinter dem weißen UN-Zelt röhren die Turbinen eines weißen | |
UN-Flugzeugs. Die Luft flimmert in der Mittagshitze der Wüste. Die Grenze | |
zu Somalia liegt knapp hundert Kilometer entfernt. Vor einem | |
Vierteljahrhundert war Mohammed vor dem Krieg nach Kenia geflüchtet, wie | |
Hunderttausende seiner Landsleute. Jetzt sollen sie zurück. | |
Dadaab ist das größte Flüchtlingslager der Welt. Gegründet 1992 für 30.000 | |
Menschen, lebten dort 2012 eine halbe Million. Jetzt soll es dem Erdboden | |
gleichgemacht werden. | |
„Es muss ein Ende damit haben, Flüchtlinge zu beherbergen“, verkündete | |
Kenias Regierung im Mai 2016 und setzte die Schließung auf Ende November | |
fest. Seitdem haben rund 17.000 Flüchtlinge ihre Habseligkeiten gepackt und | |
sind mit UN-Maschinen ausgeflogen worden. Derzeit leben noch 275.000 | |
Menschen in Dadaab. | |
## Mehrmals täglich gehen die Flieger | |
Für die Rückkehrer hat man in Somalia vier „sichere Zonen“ definiert, | |
darunter die Hauptstadt Mogadischu und Mohammeds Heimatstadt Baidoa im | |
Herzen des Landes. 150 Dollar und Lebensmittel für sechs Monate bekommen | |
Rückkehrwillige pro Person vom UNHCR. | |
Mehrfach täglich fliegt die UN-Maschine zwischen Dadaab und Baidoa hin und | |
her. „Ich habe Verwandte dort, die Lage ist friedlich, und wir können bei | |
ihnen unterkommen“, sagt Mohammed. „Es war keine einfache Entscheidung, | |
aber ich will für meine Familie sorgen, wir brauchen eine Zukunft.“ | |
Die Schließung Dadaabs ist umstritten. Kenias Regierung nennt als Gründe | |
Terrorgefahr, Umweltzerstörung sowie Geldmangel. Auch Somalias Präsident | |
Hassan Sheikh Mohamud unterstützt den Plan. Er besuchte im Juni als erster | |
somalischer Staatschef Dadaab und versprach seinen Landsleuten Unterkünfte, | |
Bildung und Gesundheitsversorgung, wenn sie nach Hause kommen. | |
## Nach wie vor Bürgerkrieg in Somalia | |
Wer dafür bezahlen soll, sagte er nicht. Internationale Hilfsorganisationen | |
bauen erst langsam ihr Engagement in Somalia aus – es ist noch immer ein | |
Bürgerkriegsland, islamistische Shabaab-Milizen kämpfen gegen die schwache | |
Regierung und afrikanische Eingreiftruppen. | |
Doch es ist Wahlkampf in Somalia und in Kenia. Beide Präsidenten benutzen | |
die Flüchtlingsfrage zum Stimmenfang. Kenia will die Flüchtlinge loswerden | |
und Somalias Regierung will die Hilfsgelder, die vorher nach Dadaab | |
flossen. | |
Die Heimkehr der somalischen Flüchtlinge ist auch für Europa relevant. 2015 | |
haben 20.000 Somalier in EU-Mitgliedstaaten einen Asylantrag gestellt. Den | |
meisten wurde stattgegeben, Somalia gilt als Kriegsgebiet, dorthin kann man | |
nicht abschieben. Doch wenn jetzt massenweise Flüchtlinge aus Kenia | |
zurückkehren, lässt sich Somalia vielleicht doch als sicher einstufen. | |
50 Millionen Euro investiert die EU in die Hilfsprogramme für Rückkehrer | |
nach Somalia. In einem Strategiepapier, das der taz vorliegt, steht: „Es | |
ist wichtig, keinen Druck auf die Flüchtlinge und Vertriebenen auszuüben, | |
bevor nicht angemessene Sicherheit herrscht und Dienstleistungen | |
eingerichtet sind.“ | |
## Frauen und Kinder wollen nicht weg | |
Nur wenige Kilometer vom Rollfeld in Dadaab entfernt sitzt Hawo Abdikadir | |
Ahmed in einem der wenigen Steingebäude des Lagers hinter meterdicken | |
schusssicheren Betonmauern. Das Gelände der internationalen | |
Hilfsorganisationen wirkt mit seinen Tennisplätzen, Billardtischen und | |
Blumengärten wie eine heile Welt im Vergleich zum Elend und Staub der | |
Lagerlandschaft draußen. Die einsetzende Regenzeit hat den Wüstenboden in | |
Matsch verwandelt, Gestank und Bakterien nehmen zu. Mit dem Regen kommt die | |
Cholera nach Dadaab. | |
Die 28-jährige Hawo weint, während sie ihre Geschichte erzählt. 2007 gelang | |
der Mutter von fünf Kindern die Flucht aus einem Vorort von Mogadischu, wo | |
ein Milizkommandeur sie als Sexsklavin gefangen hielt. Sie sei damals | |
schwanger gewesen, erzählt Hawa, heute besucht ihr Sohn die Schule im | |
Lager. Mit zittriger Hand greift sie nach einer Falte ihres Kopftuchs und | |
trocknet sich die Tränen. „Der Vater ist jetzt ein mächtiger Kommandeur, er | |
hat mich angerufen und gesagt, wenn ich zurückkomme, muss ich ihm den | |
Jungen als Kämpfer geben.“ | |
Aus Verzweiflung hat sich Hawo an das Hilfswerk Care gewandt, das | |
psychosoziale Betreuung anbietet. Die Warteschlangen seien im Moment | |
besonders lang, sagt Fred Wanyonyi, Leiter des Care-Beratungsprogramms. | |
„Die bevorstehende Lagerschließung verursacht Stress. Über die | |
Entscheidung, nach Somalia zurückzukehren, zerstreiten sich die Familien.“ | |
Die Männer wären meist dafür, weil sie das untätige Lagerleben leid seien. | |
Die Frauen und Kinder möchten lieber bleiben, im Dezember stehen in den | |
Schulen Prüfungen an. „Oft setzen die Männer ihren Willen mit Gewalt | |
durch“, sagt Wanyonyi. Für die meisten Frauen und Kinder sei die Rückkehr | |
„keine freiwillige“. | |
## „Man will uns loswerden“ | |
Trotz steigender häuslicher Gewalt muss Wanyonyi seine Sprechstunden | |
reduzieren. Es fehlen Hilfsgelder; seitdem sich Kenia zur Schließung von | |
Dadaab entscheiden hat, wickeln viele NGOs ihre Projekte ab. WFP hat Anfang | |
Dezember die Lebensmittelrationen in Dadaab um die Hälfte reduziert. Selbst | |
dafür fehlt also Geld. | |
„Man will uns loswerden, die Welt hat uns vergessen“, sagt Abdullahi Ali | |
Aden, gewählter Flüchtlingsvertreter in Dagahaley, einer der fünf | |
Dadaab-Siedlungen. Der junge Mann kam 1991 als 6-Jähriger nach Kenia, ist | |
in den Lagern zur Schule gegangen, hat sein Diplom gemacht. An seine | |
somalische Heimat kann er sich nicht erinnern. In fließendem Englisch warnt | |
er: „Wenn jetzt alle jungen Männer zurückgeschickt werden, die dann in | |
Somalia nicht zur Schule gehen können, werden sie von al-Shabaab | |
rekrutiert.“ | |
90 Prozent der verbliebenen Flüchtlinge in Dadaab möchten nicht nach | |
Somalia zurück. Viele diskutieren, ob sie erneut fliehen sollen. Auch nach | |
Europa? Aden lacht: „Wie sollen wir da hinkommen?“ Von Dadaab geht eine | |
einzige Straße ab, gen Süden, abgeriegelt von Kenias Armee. „Der einzige | |
Weg für uns führt nach Somalia.“ | |
Kenias Armee steht aber auch jenseits der Grenze in Somalia bereit. In | |
Kenias glitzernder Hauptstadt Nairobi, wo Aden in seinen 25 Jahren in Kenia | |
noch nie war, haben somalische Shabaab-Kämpfer vor gut drei Jahren über 70 | |
Menschen erschossen, als sie die Luxuswelt des Westgate-Einkaufszentrums | |
stürmten – ein Racheakt für Kenias Einmarsch im somalischen Shabaab-Gebiet. | |
## Krieg gegen Terror und Flüchtlinge | |
Die Flüchtlinge gerieten damals unter Generalverdacht. Kenias | |
Antiterroreinheiten machten daraufhin auch in Dadaab Razzien, stellten | |
Flüchtlinge vor Gericht. Seitdem kam es immer wieder zu neuen Anschlägen in | |
Kenia. Die Regierung blies zum Krieg gegen den Terror – und gegen die | |
Flüchtlinge. | |
Überall in Nairobi hängen Überwachungskameras, sind schwerbewaffnete | |
Sicherheitskräfte postiert. „Koste es, was es wolle“, tönte Vizepräsident | |
William Ruto 2015 und verkündete, Kenia werde eine Grenzmauer zu Somalia | |
bauen: über 700 Kilometer lang, mitten durch die Wüste. Beton, | |
Grenzanlagen, Überwachungskameras und Patrouillen-Fahrzeuge werden | |
benötigt; auch deutsche Firmen haben sich für diesen Großauftrag | |
interessiert. Letztlich erhielt die israelische Firma Magal Security den | |
Zuschlag. | |
Kenianische Menschenrechtsgruppen ziehen jetzt vor Gericht, um die | |
Schließung von Dadaab zu stoppen. Immerhin: Die Regierung hat die Frist zur | |
Schließung auf Mai 2017 verlängert. | |
So lange will Amin Mohammed nicht warten. Der Familienvater fürchtet, | |
Kenias Regierung könne sie bald mit Zwang abschieben, ohne die | |
UN-Starthilfe. Da geht er lieber gleich, sagt er. | |
Die Propeller der weißen UN-Maschine wirbeln Staub auf. Der | |
UNHCR-Mitarbeiter ruft zum Aufbruch. Mohammed steckt seine Zettel in die | |
Jackentasche. Seine Frau nimmt das jüngste Kind auf den Arm. Schweigend | |
trotten sie Richtung Flugzeug. „Allah wird uns beschützen“, murmelt | |
Mohammed. | |
3 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Simone Schlindwein | |
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