# taz.de -- Fotos auf der Flucht: Den Vergessenen ein Gesicht | |
> Der 18-jährige Abdulazez Dukhan aus Syrien sitzt in Griechenland fest. | |
> Statt sich aufzugeben, wird er zum Sprachrohr der Gestrandeten. | |
Bild: Abdulazez Dukhan im Frühjahr an der „Eko Station“: Das Camp wurde mi… | |
„Mosshen, was ist deine Botschaft an Europa?“, fragt Abdulazez Dukhan und | |
startet die Aufnahme. Dann hält er mit seiner Kamera Mosshens Appell fest. | |
Der Ingenieur aus Aleppo erklärt auf Englisch, er sei vor dem Krieg | |
geflohen: „Wir wollen unsere Kinder in Sicherheit bringen. Wir kommen nicht | |
als Feinde, wir sind nur Menschen, auf der Suche nach dem Leben. Wir kommen | |
als Freunde.“ | |
Wenn Abdulazez Dukhan das Video später [1][auf seiner Facebookseite | |
hochlädt], wird Mosshens Stimme untermalt sein vom Lärm, der ununterbrochen | |
durch die verfallene Fabrikhalle vor den Toren Thessalonikis schallt. Hier, | |
im Lager „Softex“, steckt Mosshen mit seiner Familie fest. Seit das Lager | |
von Idomeni Ende Mai geräumt wurde, leben sie hier im Zelt, zwischen | |
provisorischen Existenzen und verdreckten Plastiktoiletten. | |
Über 4.000 Menschen folgen dem Syrer Abdulazez Dukhan im Internet | |
mittlerweile, fast jeden Tag postet er Bilder oder Interviews – wie das mit | |
Mosshen – aus den Flüchtlingslagern in Nordgriechenland. Auch Dukhan säße | |
am liebsten auf einer Schulbank, irgendwo im sicheren Europa. Doch den | |
Achtzehnjährigen und seine Familie hat die Schließung der Balkanroute | |
ebenfalls zum Warten verdammt. | |
## Krieg in Homs | |
Aufgewachsen ist Abdulazez Dukhan in Homs. Auch den Krieg hat er dort | |
erlebt, bevor er mit seiner Schwester, seinem Bruder und seinen Eltern Ende | |
2014 in die Türkei flieht. Nach einem Jahr der Anfeindungen machen sie sich | |
auf über das Mittelmeer in Richtung Europa. | |
Als Dukhan Ende Februar 2016 in Idomeni eintrifft, ist die Grenze bereits | |
dicht: „Ich fragte einen Mann, wie lange er schon warte, und er erzählte, | |
dass er seit sieben Tagen hier sei.“ Unvorstellbar für Abdulazez Dukhan, | |
wie man es in der Kälte im Zelt so lange aushalten kann. Er bleibt dann | |
selbst zehn Tage, bis die Familie zur „Eko-Station“ umzieht, in ein Camp an | |
einer Autobahnraststätte 20 Kilometer südlich von Idomeni. Rund 2.000 | |
Menschen zelten dort. | |
In diesen Tagen liegt noch Hoffnung in der Luft. Täglich demonstrieren die | |
Geflüchteten, „Open the borders“-Rufe schallen durch die Lager entlang der | |
Grenze. Dukhan aber spürt, dass ihm die Zeit durch die Finger rinnt. Er | |
würde gerne die Schule beenden und Grafikdesign studieren. Nachts sitzt er | |
am Feuer, beantwortet die Nachrichten seiner Freunde und tippt sich unruhig | |
durchs Netz – um sich abzulenken, um zu vergessen, was hinter ihm liegt, | |
dass er ein hellblaues Zelt an einer Raststätte sein Zuhause nennen muss. | |
## Produktive Unruhe | |
Die Unruhe treibt ihn immer noch um, auch wenn Abdulazez Dukhan | |
mittlerweile ständig unterwegs ist. Ende Oktober ist er mit drei | |
amerikanischen Filmleuten für eine Woche Richtung Athen aufgebrochen. Er | |
fährt von Camp zu Camp und fotografiert neue Orte und Gesichter. Am Telefon | |
klingt er aufgewühlt, unkonzentriert. Das Filmteam kam ihm gerade recht, er | |
musste mal wieder los, raus – soweit ihm das möglich ist. | |
In Thessaloniki hatte er eine afghanische Familie getroffen, die auf der | |
Straße schläft. Er postet ein Foto: Zwei dünne Isomatten liegen da unter | |
dem Vordach eines zerfallenen Bürohauses, drei Rucksäcke stehen daneben. | |
Und dort, wo einmal ein Zierbecken gewesen sein muss, schwimmt Plastikmüll | |
in der dreckigen Brühe. „Was können wir tun?“, fragt Abdulazez in seinem | |
Post. Und weiter: „Was würdest du tun, wenn du an ihrer Stelle wärst?“ | |
Sein eigenes Engagement beginnt an einem bewölkten Tag im März dieses | |
Jahres. Abdulazez Dukhan steht im Lager an der Eko-Station an, weil | |
Kleidung verteilt wird. Die Freiwilligen suchen jemanden, der aus dem | |
Arabischen ins Englische übersetzt, Abdulazez ist gleich zur Stelle. Er | |
beginnt für Freiwilligenteams zu übersetzen, für Kleiderprojekte, ein | |
Mutter-Kind-Zelt, für Ärzte ohne Grenzen, er lernt Leute aus der ganzen | |
Welt kennen. Seine Unruhe übersetzt er in Produktivität. „Traurig zu sein | |
verändert nichts um mich herum, es verändert nur mich“, sagt er. | |
Ende April erzählt er einer Freiwilligen von den Collagen, die er in der | |
Türkei mithilfe des Programms Photoshop gemacht hat. Düstere Bilder sind | |
das, meistens zeigen sie gebrochene Gestalten in den Trümmern Syriens. Die | |
Frau beschafft ihm einen Laptop. Kurz darauf bekommt er von einem anderen | |
Freiwilligen eine Fotokamera geschenkt. Damit beginnt Dukhan den Alltag im | |
Lager zu dokumentieren. Schließlich beschließt er, eine Facebook-Seite zu | |
erstellen: „Through refugee eyes“. Die Geschichten der Gestrandeten finden | |
ihren Weg in die Welt. „Ich will erzählen, wer wir wirklich sind“, erklärt | |
er. Und: „Wenn ich die Kamera in der Hand halte, fühle ich mich anders. Ich | |
fühle mich frei.“ | |
## Familie Tobal | |
Eines der Schicksale, die Abdulazez Dukhan erzählt, ist das der Familie | |
Tobal aus Aleppo. Seit Februar leben Shindara und ihr Mann Abdulrahman in | |
einem Zelt in Griechenland, und erst am 28. April 2017 sollen sie bei der | |
Asylbehörde vorsprechen dürfen. Neben dem Foto zitiert Abdulazez Dukhan den | |
Vater: „Wir müssen unsere Kinder durch den zweiten Winter in Griechenland | |
bringen. Das Leben hier lässt sich nicht beschreiben. Wenn man es nicht | |
selbst erlebt, kann man es sich nicht vorstellen.“ Abdulrahman Tobal hält | |
ein Schild mit dem Hashtag „Borders can kill“ in die Kamera. Auch das war | |
Abdulazez Dukhans Idee. Hunderte haben sich an seiner Aktion beteiligt und | |
ihr eigenes Foto mit dem Aufruf geteilt. | |
Die Tobals hatten bis zur Räumung Ende Mai in Idomeni gelebt, drei Wochen | |
später wird auch die Eko-Station geräumt. Abdulazez Dukhan berichtet live | |
auf Facebook davon. Seine Familie und er kommen zunächst in einen Hangar | |
südlich von Thessaloniki. Doch weil sein Vater kurz zuvor einen | |
Schlaganfall erlitten hat, besorgt ihnen der UNHCR erst ein Hotelzimmer und | |
später eine kleine Wohnung im nördlichen Bezirk von Evosmos. Für Abdulazez | |
Dukhan kein Grund, nicht mehr in die Lager zu fahren. Im Gegenteil: Er | |
fühlt sich schnell unnütz, wenn ihn kein Team abholt, um in einem der | |
vielen Lager zu arbeiten. | |
An einem Abend sitzt Abdulazez Dukhan mit seiner Familie beim Abendessen in | |
der kleinen Wohnung. Die Stimmung ist getrübt. Noch immer wissen sie nicht, | |
wann und wohin es für sie weitergeht. Dukhan spricht mit erregter Stimme | |
und mit seinen Armen: „Ich dachte, Europa wäre ein Kontinent, auf dem | |
Menschenrechte gelten. Nach sieben Monaten sehe ich davon nicht viel.“ | |
Es sind diese Momente im Angesicht der Perspektivlosigkeit, in denen er | |
dünnhäutig wird. „Schau, wie viele Kinder in den Lagern sind und nicht in | |
die Schule gehen können. Das interessiert keinen!“, schimpft er. Und | |
ergänzt: „Wenn ich den Hass der Rassisten sehe, dann denke ich: Wollt ihr | |
auch in den Krieg? Wir haben ihn erfahren, und es ist die Hölle. | |
## Bis nach Peking | |
Nach dem Essen setzt er sich an den Computer, um Nachrichten zu | |
beantworten. „Oh, schau, da ist einer, der will meine Bilder ausstellen. | |
Ich kenne den gar nicht!“, ruft er. In seiner Stimme schwingt ein kleines | |
bisschen Stolz mit. Das kommt jetzt öfter vor. In der Begegnung mit den | |
internationalen Helfern hat er die Welt ein wenig kennengelernt. Die | |
meisten sind irgendwann wieder heimgefahren, und viele haben seine Bilder | |
und Collagen mitgenommen. Nach München, Barcelona, Madrid, Vancouver. Sogar | |
nach Peking. Mal hängen sie in kleinen offiziellen Ausstellungen, mal klebt | |
sie jemand einfach an Hauswände. | |
Abdulazez Dukhans Persönlichkeit hat in den vergangenen Monaten eine | |
rasante Entwicklung durchgemacht. Aus einem fast schüchternen | |
Siebzehnjährigen, der gebrochen Englisch spricht, hat die ständige | |
Konfrontation mit existenziellen Fragen einen meinungsstarken Kämpfer für | |
die Rechte von Geflüchteten und Kriegsopfern gemacht. Keinen | |
verkrampft-verbissenen Kämpfer. Begeisterungsfähig ist er schließlich | |
geblieben, auch für Nebensächlichkeiten. Stolz ist er nicht auf seine | |
Arbeit, sondern darauf, einen Fußball weit länger jonglieren zu können als | |
der Autor. | |
Seit der Herbst in Thessaloniki hereingebrochen ist, wird die | |
Versorgungslage wieder kritisch. Mittlerweile leben mehr als 60.000 | |
Geflüchtete in Griechenland, fast die Hälfte von ihnen ist minderjährig. | |
Erst 3.829 Personen wurden innerhalb der EU umverteilt, ein Drittel davon | |
kam nach Frankreich. Nicht einmal einen Interviewtermin mit der Asylbehörde | |
haben alle, und wenn, dann zum Teil erst im Frühjahr, so wie die Tobals. | |
Die Dukhans sollen im Laufe des November erfahren, welches Land sie | |
aufnimmt. Wohin es auch geht, still sitzen wird Abdulazez Dukhan nicht. | |
Neben der Schule will er weiter Kunst machen. Ein halbes Jahr ist seine | |
Seite auf Facebook jetzt alt. | |
Zum Jubiläum hat er einen Post verfasst: „Ich bleibe wer ich bin“, schreibt | |
er darin. „Es geht mir nicht um mich, es geht um uns als Geflüchtete und | |
dass wir gehört werden. Es geht auch nicht um die Zahl der Follower. Es | |
geht um die Wahrheit und darum, dass unsere Stimme lauter wird.“ | |
18 Nov 2016 | |
## LINKS | |
[1] https://www.facebook.com/throughrefugeeeyes/?fref=ts | |
## AUTOREN | |
Kristof Botka | |
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