# taz.de -- Seawatch über Grenzschutz im Mittelmeer: „Man zwingt die Leute a… | |
> Seawatch patrouillierte vor der libyschen Mittelmeerküste, um Flüchtende | |
> zu retten. Die hätten keinen anderen Weg, als übers Meer, sagt | |
> Pressesprecher Ruben Neugebauer. | |
Bild: Eine Übung der Seawatch-Crew vor Malta | |
taz: Seawatch stellt Anzeige gegen Mitglieder der libyschen Küstenwache | |
nach einem Vorfall am 21.Oktober 2016 nördlich der libyschen | |
Mittelmeerküste. Was war geschehen? | |
Ruben Neugebauer: Die Rettungsleitstelle meldete uns nachts außerhalb der | |
libyschen Hoheitsgewässer ein Boot in Seenot. Es war ein stark | |
überbesetztes Schlauchboot voller Geflüchtete. Unsere Crew hatte begonnen, | |
Schwimmwesten zu verteilen, als ein Schnellboot der libyschen Küstenwache | |
auftauchte. Die Besatzung schrie uns an, wir sollten abhauen und drängte | |
unsere Boote ab. Dann sprang ein Mitglied der Küstenwache an Bord des | |
Schlauchboots, trat nach den Flüchtenden und schlug auf sie ein. Auf dem | |
Boot brach Panik aus, einige Menschen gingen über Bord. Und dann – von | |
einem Moment auf den anderen – fuhr die libysche Küstenwache weg. Die haben | |
alle Lichter ausgemacht und sind in der Dunkelheit verschwunden. | |
Warum? Was war passiert? | |
Sie hatten zuvor mit einer Leine hantiert. Wir vermuten, die libysche | |
Küstenwache wollte das Boot zurück nach Libyen schleppen. Allerdings ist | |
dort, wo das Küstenwachenboot angedockt hatte, der Schlauch geplatzt. Ein | |
Großteil der Flüchtenden ist ins Wasser gerutscht. Wir konnten 124 Leute | |
retten. Vier Leichen konnten wir bergen, viele sind einfach abgetrieben. | |
Wir haben dann noch mehrere Stunden gesucht, aber niemanden mehr gefunden. | |
Wir gehen davon aus, dass ca. 30 Menschen ums Leben gekommen sind. | |
War das das erste Mal, dass ihr auf die libysche Küstenwache getroffen | |
seid? | |
Nein, es gab öfter Aufeinandertreffen, aber in sehr unterschiedlicher Form. | |
Das erste Mal wurden mit einer Kalaschnikow in die Luft geschossen und | |
unser Schiff geentert. Später hieß es dann, man wollte uns wegen illegaler | |
Fischerei kontrollieren. Dabei ist sowohl unser Schiff als Rettungsschiff | |
bekannt. | |
Ein Einschüchterungsversuch? | |
Das können wir nicht ausschließen. Einen ähnlichen Fall gab es, als im | |
August dieses Jahres auf ein Hilfsschiff von Ärzte ohne Grenzen geschossen | |
wurde. Außerdem hatte die libysche Küstenwache einen unserer | |
Rettungseinsätze unterbunden und die Flüchtenden nach Tripolis | |
zurückgeschoben, ein Verstoß gegen das Nichtrückschiebeprinzip. Es gab aber | |
auch Begegnungen, wo die libysche Küstenwache bei der Rettung mitgeholfen | |
hat. | |
Und nun die Klage vor dem Hamburger Landesgericht. Was erhofft ihr euch | |
neben der medialen Aufmerksamkeit? | |
Das Gericht kann Ermittlungen aufnehmen und wir glauben, dass es neben der | |
Aufklärung wichtig ist, auch rechtlich festzustellen, dass das Handeln der | |
Küstenwache illegal war. Wir waren von der Rettungsleitstelle mit der | |
Rettung beauftragt und zuerst vor Ort, dementsprechend hätte die Libysche | |
Küstenwache nicht eingreifen dürfen. Wir gehen zudem davon aus, dass diese | |
die Leute zurück nach Libyen bringen wollte – ein Verstoß gegen | |
internationales Seerecht und das Nichtrückschiebeprinzip. Es gibt ein | |
Beispielverfahren bei dem ein somalischer Pirat vom Landgericht Hamburg für | |
eine Geiselnahme verurteilt worden ist. Damals wurde festgestellt, dass das | |
Weltrechtsprinzip gilt, also eine Straftat in Deutschland verurteilt werden | |
kann, unabhängig davon, ob sie in Deutschland stattgefunden hat oder | |
deutsche Täter oder Opfer beteiligt waren. | |
Wie ist dabei die Rolle der Bundesregierung? | |
Die Bundesregierung ist daran beteiligt, die libysche Küstenwache | |
auszubilden. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass einige der Täter unter den | |
Leuten sind, die ausgebildet werden. Die Bundesregierung hat noch überhaupt | |
nicht erklärt, nach welchen Kriterien die Leute ausgesucht werden. Libyen | |
ist nach wie vor ein Bürgerkriegsland mit schnell wechselnden | |
Machtverhältnissen. Da ist es sehr fraglich, ob sich die Küstenwache an | |
Menschenrechtsstandards halten wird. Was wir sehr oft hören ist, dass die | |
Küstenwache die Flüchtenden zurückbringt, was gegen das | |
Nichtrückschiebeabkommen verstößt. In Libyen werden sie eingesperrt und | |
können sich dann wieder freikaufen. Die libysche Küstenwache ist | |
wahrscheinlich selbst Teil des Schleppergeschäfts. Da ist die Frage: Worum | |
geht es der EU? Geht es wirklich um Menschenrechte oder nur darum, die | |
Grenze dicht zu machen? | |
Die EU sagt, das Ziel der Ausbildungsmission sei die bessere Seenotrettung, | |
der Schutz von Menschenleben. | |
Zunächst passt schon der Begriff Seenotrettung nicht, denn der meint | |
eigentlich Unfälle. Ein Unfall ist, wenn eine Yacht unvorhergesehen in | |
einen Sturm gerät. Was wir vorliegen haben, ist eine politische gewollte | |
Situation, man zwingt die Leute auf die Boote. Die Bilder dienen der | |
Abschreckung, ein bewusstes Kalkül. Es ist zynisch, von Unfällen zu | |
sprechen. Und um wirklich Menschenleben zu retten, hätte die EU alle | |
Möglichkeiten und nutzt sie nicht. Es müsste niemand mehr auf den Booten | |
sterben, wenn man legale Einreisewege in die EU schaffen würde. Das | |
europäische Asylrecht ist eine Farce, weil es keinerlei legale Wege gibt, | |
über die man das Grundrecht in Anspruch nehmen könnte. Es ist aberwitzig zu | |
glauben, dass man mit einem Krieg gegen Schlepper etwas dagegen tun könnte. | |
Die Leute, die in Libyen sitzen, haben schon ihr Leben in der Sahara | |
riskiert. Die Entscheidung ist nicht, ob die kommen oder nicht, sondern wie | |
viele wir dabei sterben lassen wollen. Viele haben uns berichtet, dass sie | |
mehrfach losgefahren und immer wieder von der libyschen Küstenwache | |
aufgegriffen worden sind. | |
Mit welcher Intention wird dann ausgebildet? | |
Das können wir nur mutmaßen, aber da muss man sich mal die Einsatzboote | |
anschauen. Das Boot, was uns am 21.Oktober 2016 begegnet ist, war ein | |
militärisches Patrouillenboot, vermutlich ein niederländisches Fabrikat, | |
das die EU geliefert hat. Ein graues Boot, mit hartem Rand und | |
Maschinengewehr oben drauf. Für die Seenotrettung völlig ungeeignet. Die | |
italienische Küstenwache hat zum Besipiel schnelle und gut erkennbare | |
orangene Boote mit Schlauch am Rand in ähnlicher Größe zum Retten. | |
Im Mittelmeer tummeln sich jede Menge Schiffe. Neben den Küstenwachen auch | |
Schiffe von Frontex und die Militärschiffe der EU-Mission Sophia.. Sind das | |
nicht eigentlich genug Kapazitäten, um die Flüchtenden zu retten? | |
Es könnte deutlich besser kooperiert werden. So könnte zum Beispiel die | |
libysche Küstenwache die geretteten Menschen an eines der internationalen | |
Schiffe übergeben, die die Menschen nach Europa bringen. Es gibt auch | |
Beispiele, wo das so funktioniert hat. Trotzdem scheint der Wille zu | |
fehlen. Zwar hilft Frontex mittlerweile öfter bei Rettungen. Da hat der | |
öffentliche Druck eine Rolle gespielt. Auch Rückführungen könnte sich | |
Frontex vor unseren Augen nicht leisten. Deswegen ist es wichtig, dass wir | |
vor Ort sind und dokumentieren. Vor allem Die EU-Mission Sophia könnte aber | |
viel mehr tun. Die arbeiten überhaupt nicht effektiv mit der | |
Rettungsleitstelle zusammen. Informationen werden nicht ausreichend schnell | |
weitergegeben und die Rettungsleitstelle weiß oft nicht, wo die | |
europäischen Kriegsschiffe sind. Die EU-Mission rettet, wenn denen ein Boot | |
vor den Bug fährt, aber die verfolgen erstmal andere Ziele. Gerade die | |
Bundeswehr hat sich da nicht wirklich mit Ruhm bekleckert, in dem sie sich | |
an richtig einsatzreichen Tagen mehr oder weniger rausgehalten hat und | |
abends dann im Namen der Schlepperbekämpfung die leeren Holzboote versenkt | |
hat. | |
Die Bundesregierung bildet nun auch tunesische Sicherheitsbehörden aus. | |
Habt ihr Erfahrungen mit der tunesischen Küstenwache gemacht? | |
In Tunesien werden die Flüchtenden an der Abfahrt gehindert. Wir wollten | |
einmal mit der Sea-Watch I aus einem tunesischen Hafen auslaufen, als wir | |
einen Arzt mit deutschem Pass und eritreischen Wurzeln dabei hatten. Nach | |
dem Auslaufen wurde unser Schiff zurückgerufen und durchsucht, weil wir | |
Flüchtende schmuggeln würden. Sie hatten einen Schwarzen auf dem Achterdeck | |
gesehen. | |
Gibt es auf dem Mittelmeer denn auch Boote, die die europäische Küste | |
erreichen? | |
Nein, die haben keine Chance. Wenn wir ein Boot entdecken, retten wir | |
sofort, denn das sind alles potenzielle Seenotfälle. Spritmangel, | |
überfüllt, instabil, das trifft auf alle Boote zu. Es ist außerdem eine | |
Konsequenz der Anti-Schlepper-Mission, dass Schlepper an Land bleiben und | |
niemand mehr auf dem Boot ist, der das steuern kann. Ich musste mal | |
versuchen, so ein Boot zu steuern bei einer Rettung. Die sind im Prinzip | |
manövrierunfähig. | |
Seit März 2016 gibt es den EU-Türkei-Deal. Weichen nun mehr Flüchtende auf | |
das zentrale Mittelmeer aus? | |
Ja, wir beobachten, dass zunehmend mehr Flüchtende aus Syrien oder Irak | |
über das zentrale Mittelmeer kommen. Es sind immer noch wenige, aber mehr | |
als im letzten Jahr. Wer sich in Izmir umentscheidet, der muss über den | |
Sudan durch die Sahara nach Libyen, um von dort aufs Meer zu kommen. Die | |
Route ist deutlich länger und gefährlicher, das heißt, die Auswirkung eines | |
Deals verzögert sich. So können Staaten kurzfristig verkünden, dass weniger | |
Menschen kommen. Der Preis ist, dass Flüchtende auf noch gefährlichere | |
Routen gezwungen werden. Die Leute suchen sich andere Routen und das | |
braucht Zeit, abhalten wird man sie nicht. | |
Nun kommt der Winter und auch die Rettung wird schwieriger. | |
Tatsächlich hat unser Schiff unter dem täglichen Rettungseinsatz gelitten | |
und muss in die Werft. Wir machen also eine Winterpause. Das ist für uns | |
total schwierig, weil nach wie vor Boote kommen. Schon jetzt ist die Zahl | |
der Toten auf dem Mittelmeer ca. 4700 dieses Jahr so hoch, wie noch nie. | |
Seenotrettung kann hier aber auch nicht die Lösung sein. Wenn die Leute | |
erstmal auf den Booten sind, wird es immer Tote geben. Wir brauchen legale | |
Wege, wir brauchen eine #safepassage! | |
14 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Fabian Grieger | |
Paul Welch Guerra | |
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