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# taz.de -- Freiwillige Helfer retten Flüchtlinge: Die Geschichte eines Bildes
> Martin Kolek wollte keine Menschen aus dem Wasser fischen. Dann hielt er
> ein totes Kind in den Händen. Er ist einer von vielen.
Bild: Kolek und das Kind
Das Geräusch war hoch, ganz hoch. Es durchdrang den Wind und die
Motorengeräusche und das Rauschen der Wellen. Martin Kolek kam nicht
darauf, was es sein könnte, das wunderte ihn, er kennt sich mit Tönen aus,
als Musiktherapeut in Ostwestfalen. Es klang wie Höhen von Technomusik,
doch niemand würde hier Musik laufen lassen, inmitten der Kriegsschiffe,
Hubschrauber und abdriftenden Rettungsinseln.
Martin Kolek fuhr zwischen ihnen in seinem Boot umher, auf der Suche nach
den Ertrunkenen, denen er schnell Rettungswesten an die Beine band, damit
sie nicht im Meer versinken. Selbst dabei konnte er dieses Geräusch nicht
ignorieren. Und es dauerte bis er merkte, dass es die Seilwinde war, auf
dem italienischen Kriegsschiff Vega, die das Netz hochzog, trotz Windstärke
vier. Wie bei einem Trawler, der seinen Fang einzieht, doch in dem Netz
waren keine Fische, es waren die Leichen, die Kolek, der Musiktherapeut aus
dem Sauerland, vor dem Untergehen mit Schwimmwesten markiert hatte.
1.000 Menschen starben in der letzten Woche im Mittelmeer, 3.000 in den
letzten Monaten. Mehr als jemals zuvor in einem Frühjahr, mehr als in
manchem Krieg. Gleichzeitig wurden etwa 40.000 Menschen gerettet. Das ist
auch, vielleicht vor allem, das Werk von einem halben Dutzend privater
NGOs, die sich im Mittelmeer um Menschen in Seenot kümmern. Es sind
Organisationen, wie es sie bisher nicht gab. Sie protestieren nicht nur,
sie sind dabei eine Art zweiter Küstenwache zu werden. Sie retten Menschen.
Sie tun etwas, was sie eigentlich nicht tun wollten.
Eine dieser Organisationen ist die Initiative Sea Watch, für die Martin
Kolek im Einsatz war.
Sie fragen sich hier, was passiert wenn sie immer mehr Freiwillige finden,
die den Booten mit den Flüchtlingen entgegen fahren? Die Rettungswesten,
Halbliterflaschen mit Wasser, Aludecken verteilen wollen? Was, wenn sie
immer mehr Spenden bekommen, sie bessere Boote anschaffen können,
Funkgeräte, Drohnen, Radare? Sollen sie hier tatsächlich einen Job machen,
der eigentlich die Aufgabe der europäischen Staaten wäre?
## Jeder 23. Flüchtling kommt nicht an
„Fähren statt Frontex“, fordert Sea Watch, legale Wege nach Europa. Niemand
soll auf die Schlepperboote müssen, niemand soll von Menschen wie Martin
Kolek oder italienischen Soldaten aus dem Wasser gezogen werden müssen. Die
Sea Watch will vor allem aufmerksam machen auf die alltägliche Katastrophe
an den Rändern Europas. Die Gleichgültigkeit durchbrechen, sagen ihre
Aktivisten, das Abstumpfen der Öffentlichkeit. Wenn es sein muss mit dem
Foto des toten Babys, das sie am 27. Mai geborgen haben; dessen Bild Sea
Watch an Nachrichtenagenturen gab und so einmal mehr zeigte, was heute mit
jedem 23. Flüchtling geschieht, der versucht, über Lybien nach Europa zu
kommen.
Aber was, wenn die Fähren trotzdem nicht kommen? Wie viele Tage wie den 27.
Mai wird es dann noch geben?
Kurz vor sieben Uhr an jenem Morgen ruft die italienische
Rettungsleitstelle MRCC über das Satellitentelefon auf der Sea Watch II an.
Die hatte die Nacht am Rand der libyschen Hoheitsgewässer verbracht. In der
Nähe treibe ein Schlauchboot mit 120 Menschen, die Küstenwache gibt die
Koordinaten durch. Das Boot der Flüchtlinge, ist überladen und ohne
Treibstoff, aber intakt. Die Sea Watch verteilt Schwimmwesten. Wie üblich
will sie warten, bis ein größeres Schiff die Menschen aufnimmt. Doch nach
kurzer Zeit meldet sich die Rettungsleitstelle erneut: Zwei Fahrstunden
entfernt gab es ein großes Unglück. Die Sea Watch soll dorthin fahren.
Dringend.
Es ist ein Dilemma. Darf sie die Menschen hier mit den Schwimmwesten
zurücklassen? Oder muss sie den neuen Notfall ignorieren? Die Sea Watch ist
nur für 30 Menschen ausgelegt, sie nimmt normalerweise selbst keine
Flüchtlinge auf. Jetzt entscheidet die Crew anders. Sie räumt das Deck
frei, 120 Menschen aus der Elfenbeinküste, Gambia, dem Senegal kommen an
Deck. Sie kriegen Wasser und Reis, danach schlafen sie ein, die Sea Watch
fährt zur nächsten Unglücksstelle.
## Lebende unterscheiden sich kaum von Toten
Hubschrauber kreisen dort neben dem Kriegsschiff Vega. Ein großes Holzboot
ist gesunken, 500 Menschen waren an Bord, der Rumpf war leck. Das Wrack
ragt an einer Seite aus dem Wasser, Rettungsinseln treiben umher, Leichen,
Lebende schwimmen im Wasser. Italienische Kampfschwimmer sammeln mit einem
kleinen Boot Geflüchtete ein und bringen sie zur Vega.
Die Sea Watch Crew hilft. Sie fährt mit ihrem Beiboot zu Überlebenden,
zieht sie aus dem Wasser. Manchmal sind die Lebenden von den Toten kaum zu
unterscheiden. Manche wollen das Brett nicht loslassen, an dem sie sich
seit Stunden festhalten. Martin Kolek und die anderen bringen die
Geretteten zum italienischen Kriegsschiff.
Irgendwann sind im Wasser nur noch Leichen. Es ist später Nachmittag, Wind
ist aufgezogen, die Toten treiben auseinander, auf eine Quadratmeile
verteilen sie sich. Die Suche dauert. Wird es dunkel sind die Körper weg,
versunken. Die Vega funkt: Kann die Sea Watch Crew helfen bei der Suche?
Das ist nicht vorgesehen. Die Organisation will keine Toten bergen.
Aber Versunkene bekommen kein Grab. Sie werden nicht gezählt. Und die
Statistik der Mittelmeertoten ist ein Politikum. Doch solange die
Vega-Besatzung Leichen sucht, kann sie die 120 Menschen auf der Sea Watch
nicht aufnehmen. Wenn sie im Dunkeln auf das Militärschiff übersetzen
müssen, wird es für sie gefährlich.
„Wir haben dann entschieden, das zu machen,“ sagt Martin Kolek, der
Musiktherapeut.
## Die Politik könne das Sterben dauerhaft verhindern
Harald Höppner, der Gründer der Sea Watch, ist ein alternativer
Kleinunternehmer aus Barnim im Land Brandenburg. Er wurde bekannt, weil er
im April 2015 „eine Talkshow zum Schweigen gebracht“ hat, wie der
Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo sagte. Höppner war Gast in Günther
Jauchs Talkshow, der Moderator interviewte ihn. Später in der Sendung lief
er auf die Bühne und forderte die Zuschauer auf, sich zu erheben und den
Toten im Mittelmeer eine Gedenkminute zu schenken. Die Leute machten mit.
„Jauch verliert die Kontrolle“, schrieb die Bild. Ein paar Tage später
sitzt Höppner bei di Lorenzo in der Talkshow. Seine Aktion habe „Millionen
Menschen tief beeindruckt,“ sagt di Lorenzo. Er sei „zornig geworden“, sa…
Höppner. Er habe das Gefühl gehabt, die Opfer seien bei Jauch zu kurz
gekommen.
In wenigen Tagen gehen Beträge in insgesamt sechsstelliger Höhe auf
Höppners Spendenkonto ein. Das Geld, das er für den Kauf des Schiffes
vorgestreckt hatte, ist wieder drin. Er bekommt 500 Bewerbungen von
Freiwilligen, die mitfahren wollen. Höppner hält einen Platz für
Journalisten frei. „Es geht darum, dass es endlich Wege geben muss, wie
Migranten in die EU kommen können, ohne dafür ihr Leben riskieren zu
müssen“, sagt er. Dazu wolle er das Sterben der Flüchtlinge nach Berlin
bringen, ins Zentrum der deutschen Öffentlichkeit. Denn nicht Menschen wie
er, nur die Politik könne das Sterben dauerhaft verhindern. Er will
Aufmerksamkeit, aber nicht die Aufgaben der Europäischen Union bei der
Rettung von Schiffbrüchigen übernehmen.
Ein Jahr später parkt ein junger Mann einen weißen Kleinbus mit blauen Logo
von Höppners Organisation auf dem Seitenstreifen der Küstenstraße von
Gzira, einem Vorort von Maltas Hauptstadt Valletta. Bis vor vier Jahren hat
Tamino Afrikawissenschaft studiert, dann stieg er als Aktivist in der
Berliner Flüchtlingsszene ein. Mit blonden Dreadlocks, Sonnenbrille und dem
Funkgerät am Gürtel sieht er aus wie ein Roadie bei einem Konzert. Er trägt
Sauerstoffflaschen ins „Aquamarin“, ein Tauchgeschäft. „Bis morgen müss…
die nachgefüllt sein,“ sagt er, setzt sich hinter das Steuer und fährt
weiter.
Alle zwei Wochen wird es stressig. Dann wechselt die Crew der Sea Watch. So
wie heute. Tamino ist der einzige Mitarbeiter, der das Basislager, wie er
es nennt, an Land betreut. Seit April ist er in Valletta, unbezahlt.
Er holt Crewmitglieder vom Flughafen, hält Kontakt mit Behörden, der Werft,
erklärt den Neuen, was sie wissen müssen.
An einem kleinen, etwas abgelegenen Hafenbecken von Valletta strahlt das
Wasser flaschengrün, in der Sonne dümpelt die Sea Watch II. Es ist ein
ehemaliges britisches Forschungsschiff aus den sechziger Jahren, über dem
Heck hängt die Flagge der Niederlande. „Das ist steuermäßig und so alles
schick“, sagt Tamino.
## Die Helfer grillen zusammen, sie tauschen Teile
Das Schiff wird gerade klar gemacht für den nächsten Törn, an Bord Kapitän,
„Head of Mission“, zwei Navigatoren, drei Maschinisten, Köchin, fünf
Mediziner, drei Helfer, alle ehrenamtlich. Eine Gruppe Männer bringt einen
Schriftzug an der Bordwand an. „Seerettung“ auf Arabisch. Morgen soll es
losgehen, zwei Wochen, wie immer.
Am anderen Ende des Hafenbeckens liegt die kleinere Sea Watch I, das Schiff
hat Unternehmer Höppner noch privat bezahlt. Sie wird gerade überholt.
„Eigentlich ist unser Plan, sie nach Athen zu verlegen“, sagt Tamino. In
der Ägäis wechselten die Routen teils stündlich. „Wenn wir sehen, am
Wochenende geht es nach Chios, dann können wir damit, zack, in Chios vor
Ort sein“, sagt Tamino. Aber noch sind sie unsicher. „Nach dem, was hier in
den letzten Wochen los war, lassen wir es vielleicht auch hier.“
Lebende retten. Tote bergen. Weil die Staaten der Europäischen Union
versagen, entsteht widerstrebend eine alternative Gesellschaft zur Rettung
von Schiffbrüchigen. Insgesamt acht Schiffe von fünf Initiativen dieser Art
gibt es im zentralen Mittelmeer derzeit, alle sind privat finanziert. Sea
Watch gehört dazu, die maltesische Migrant Offshore Aid Station, Ärzte ohne
Grenzen. Sie sind mit zwei Schiffen hier, dazu noch Sea Eye und SOS
Mediterranee aus Deutschland mit je einem Schiff, ab Juli will auch eine
Gruppe namens „Jugend rettet“ mitmachen.
Tamino steht auf dem Deck und schaut über das Hafenbecken. Hier liegen auch
die Schiffe der Malteser und von Ärzte ohne Grenzen. Abends grillen die
Seeretter der NGOs zusammen, erzählt Tamino, sie tauschen Ersatzteile. Mit
der Sea Eye stimme man den Törnplan ab, um Lücken auf See zu vermeiden.
## „Die Italiener reißen sich den Arsch auf“
Ärzte ohne Grenzen und die maltesische Gruppe haben anders als Sea Watch
feste Besatzungen. Die von einem maltesischen Industriellenpärchen
finanzierte Migrant Offhore Aid Station überwacht ab Montag das Meer mit
Drohnen aus der Luft, um nicht länger auf die Meldungen der
Rettungsleitstelle oder den Zufall angewiesen zu sein.
Dass die Länder der EU vieles unterlassen, um Flüchtlingen auf dem Meer zu
helfen, lässt einen neuen Typ von NGO entstehen. Sie übernehmen staatliche
Aufgaben, doch anders als Wohlfahrtsverbände werden sie dafür nicht vom
Staat finanziert. Denn ihre Arbeit unterläuft die staatliche Politik. Sie
lehnen die Abschottungspolitik ab und anders als Amnesty International
belassen sie es nicht bei Appellen, sondern tun selbst das, was sie
fordern. Angetreten als Notlösung bilden sie langsam professionelle, feste
Strukturen, fügen sich in die Verhältnisse ein, suchen nach pragmatischen
Lösungen. Sie verändern die staatlichen Institutionen. Ein bisschen. Und
sie verändern sich selbst.
Lange Zeit haben Flüchtlingsgruppen alle Behörden gleichermaßen für die
vielen Toten verantwortlich gemacht. Seitdem manche mit ihrer Arbeit so
etwas wie Kollegen staatlicher Seeretter geworden sind, urteilen sie
differenzierter. „Die Italiener“ sagt Tamino, „die sind top, die reißen
sich echt den Arsch auf.“ Umgekehrt hat MRCC, die italienische
Rettungsleitstelle in Rom ihr Misstrauen aufgegeben. „Wenn wir am Telefon
sind, werden wir direkt an einen bestimmten Apparat durchgestellt, der
Mensch dort ist immer sehr freundlich“, sagt Tamino. Und seit dem Frühjahr
lädt die MRCC die privaten Seeretter zu regelmäßigen Treffen ein.
Einer der Maschinisten kommt an Deck. „Gibt es schon genaue ETD?“ fragt
Tamino. Estimated Time of Departure. Er will wissen, wann sie losfahren.
„Mittags“, sagt der Navigator. „Aber ich brauch' jetzt unbedingt sofort d…
Teil, dass du besorgen solltest. Sofort.“ Als Tamino gerade losfahren will,
kommt ein junger Mann an Deck. „Hier“, sagt er und hält den Zeigefinger an
seinen Bart. „Nicht vergessen. Damit kann ich nicht in der Hitze auf See.“
Tamino fährt in die Stadt, Bartschneider und Ersatzteile kaufen.
## 1.000 tote Flüchtlinge in einer Woche
Kurz nachdem die Sea Watch wieder in Valletta einläuft, tritt am
vergangenen Dienstag in Genf Flavio Di Giacomo, Sprecher der
Internationalen Organisation für Migration, vor die Presse. [1][Bei einer
Serie von Schiffsunglücken im Mittelmeer seien in den vergangenen Woche
über 1.000 Flüchtlinge ertrunken.] Bis dahin war die UN von niedrigeren
Zahlen ausgegangen. 2016 sei bislang ein „besonders tödliches“ Jahr, sagte
ein Sprecher des UN-Flüchtlingswerks UNHCR. Flüchtlinge aus Syrien und dem
Irak waren unter den Opfern der jüngsten Unglücke – offenbar Folge der
Schließung der Balkanroute.
Am selben Tag stirbt Rupert Neudeck, Gründer der Hilfsorganisation Cap
Anamur. Er war berühmt geworden, weil er als Redakteur bei der Deutschen
Welle kündigte, ein Schiff kaufte, fast 11.000 vietnamesische Flüchtlinge
auf See rettete und nach Deutschland brachte.
Ein „wahres Vorbild gelebter Mitmenschlichkeit“, sagt die Bundeskanzlerin.
„Er wird uns immer ein Vorbild bleiben“, sagt der Bundespräsident. Er werde
als „Beispiel für viele Menschen in Erinnerung bleiben“, sagt der
Außenminister.
Der Tod Neudecks macht Deutschlands Spitzenpolitiker betroffen. Auf die
Tausenden Toten im Mittelmeer reagiert hingegen kaum jemand. Vielleicht
haben sich viele Menschen an solche Nachrichten gewöhnt.
Nicht der Mann der seinen Bart loswerden möchte. Er heißt Florian Pithan,
ist Mitte 30, Ingenieur bei einem Forschungsinstitut in Hamburg, früher
Greenpeace-Aktivist. Da hat er gelernt, wie man die kleinen High-Speed
Schlauchboote fährt, mit denen Aktivisten Walfänger blockieren. Dieses
Wissen wird hier gebraucht. Nur mit diesen Booten kann sich die Sea Watch
den Flüchtlingen im Meer unmittelbar nähern, die großen Sea Watch-Schiffe
sind dafür zu hoch.
## Auf den Rettungswesten ist Schweiß und Kotze
Drei Wochen unbezahlten Urlaub hat Pithan genommen. Fünf Tage ist er jetzt
hier, die letzten hat er damit zugebracht, 600 Rettungswesten in großen
Bottichen auf dem Achterdeck zu spülen. „Der ganze Schweiß, und man weiß ja
auch nie, ob die Leute draufgekotzt haben, die sind ja alle seekrank.“
Jetzt steht er auf dem Peildeck und erklärt den Schiffskompass, der jedes
maritime Museum schmücken würde. „Hier stehen wir mit dem Fernglas und
suchen die Flüchtlinge“ sagt er. „Mit dem Radar sieht man die nicht.“ Ak…
suchen kann die Crew allerdings nur tagsüber. „Bei Dunkelheit müssen wir
den Motor ausmachen und driften, sonst fährt man noch über die rüber.“ Ein
Nachtsichtgerät könnte die Sea Watch gut gebrauchen. „Aber eines, das was
taugt, kostet 50.000 Euro.“
Das Standardszenario: Die Flüchtlinge sitzen in einem Schlauchboot mit
Außenbordmotor. Sea Watch geht davon aus, dass die Boote containerweise in
China nur für diese Zwecke bestellt werden. „Das ist hundsmiserable
Qualität, so was schlechtes gibt es sonst gar nicht“, sagt Florian Pithan.
120 Insassen sei der Regelfall. Gefunden werden sie meist zwischen acht
Stunden und drei Tagen nach der Abfahrt von der libyschen Küste. „In die 12
Meilen Zone fahren wir nicht rein.“ Im Einflussbereich der Milizen wären
sie selbst in Gefahr.
Die Aufgabe der Sea Watch: „Finden, sichern, Erstkontakt.“ Das Benzin in
den Booten reiche nicht, also treiben die Boote dahin, ohne Essen, manchmal
ohne Wasser. „Die fallen teilweise völlig entkräftet raus und versinken wie
ein Stein, schneller, als wir sie fassen können“, sagt er. „Entweder könn…
sie sowieso nicht schwimmen oder die Tage in der sengenden Hitze haben sie
fertig gemacht.“ Also bekommen sie als erstes eine Rettungsweste, eine
Halbliterflasche Wasser. „Früher haben wir große Flaschen für je mehrere
Leute ausgegeben, aber das war nicht gut, dann gab es Zank, das ist ja
alles total anstrengend, auch psychisch.“
Während Florian Pithan auf den Bartschneider wartet, bereitet sich Ruby
Hartbrich, eine junge Medizinstudentin aus Marburg, auf ihren zweiten Törn
auf der Sea Watch vor. Sie soll sich nicht nur um Kranke kümmern, sondern
auch um die Presse. Sie hat die Initiative im Vorjahr zufällig auf Facebook
entdeckt. Wie steckt man den Anblick Dutzender Leichen weg? „Jeder weiß,
was ihn erwartet“, sagt sie. An den Tagen vor und nach dem Törn werden die
Crewmitglieder von Mitarbeitern des evangelischen Vereins
„Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen“ in Valletta betreut. Und
dann? „Jeder geht anderes damit um“, sagt Hartbrich. „Was unheimlich hilf…
ist zu wissen, dass das, was wir machen gut ist.“ Das sei ein „großer
Faktor, der Traumatisierungen verhindern kann.“ Zudem versuche der Verein,
Fachpersonal zu finden.
## Der Innenminister sagt, das sei schon richtig so
Wie lange soll es weitergehen? „Bis die Politik entscheidet, sichere und
legale Wege einzurichten“, sagt sie. Und wenn dies bedeutet, auf Dauer hier
bleiben zu müssen? Ging es nicht ursprünglich um öffentlichen Druck? „Wir
hoffen natürlich darauf, dass die Zivilgesellschaft sich auflehnt und die
Seenotfälle nicht mehr entstehen“, sagt Ruby Hartbrich. Aber danach sehe es
im Moment nicht aus. Das Thema rücke aus dem Fokus. „Wir wollten das nicht,
aber es hat sich so ergeben, das wir langsam zu einer professionellen Such-
und Rettungsorganisation werden.“ Ihnen sei klar, dass Seenotrettung nicht
die Lösung und die Sea Watch Teil eines Systems sei. „Die Schlepper rechnen
auch damit, dass die Leute gerettet werden. Und trotzdem muss unsere Arbeit
gemacht werden.“
„Auch wenn wir jetzt einige Wochen ein paar harte Bilder aushalten müssen,
unser Ansatz ist richtig“, sagte Innenminister Thomas de Maizière (CDU)
Anfang April, als die EU mit der Türkei ihr Abkommen zur Grenzsicherung
schloss. Dass sei genau das Problem, sagt Hartbrich: Dass die
Öffentlichkeit immer schneller bereit sei, harte Bilder auszuhalten. Und
trotzdem hat Sea Watch in der letzten Woche ein „hartes Bild“ an die
Nachrichtenagentur Reuters gegeben: Das Bild des toten Babys, geborgen am
27. Mai von einem Sea Watch Freiwilligen.
Das sei ein großes ethisches Problem gewesen: „Die Identität ist nicht
geklärt, wir wissen nicht ob die Eltern überlebt haben.“ Sie habe mit
anderen Gruppen und Journalisten beraten und dann entschieden, das Bild zu
veröffentlichen. „Wir haben das nicht getan, um Spenden zu generieren. Wir
wollen demonstrieren, was die Realität ist.“
Und die Realität sah so aus, dass Martin Kolek, der Musiktherapeut aus
Ostwestfalen, den Tag damit verbracht hatte, die Überlebenden an Bord der
Sea Watch II mit Reis und Decken zu versorgen. Und jetzt am Nachmittag
fürchtete er, dass es Nacht würde bevor die Geflüchteten an Bord der Vega
gehen könnten. Und so stieg L. in das Beiboot der Sea Watch und suchte nach
Toten, damit die Lebenden in Sicherheit gebracht werden konnten.
Mit drei anderen Aktivisten fuhr er in immer weiteren Kreisen um die
Unglücksstelle. Die Wellen waren einen Meter hoch, die Leichen schon starr.
An Bord hatten sie 25 Rettungswesten, sie banden jedem Toten, den sie
fanden, eine davon ans Bein, damit die Italiener sie bergen können.
## „Ich gehe in dieses Boot und ich suche nach Zukunft“
„Ich habe beschlossen, jedes Gesicht einmal anzuschauen,“ sagt Kolek.
Manche hatten „sehr feine, geflochten Haare, rote Tücher.“ Die jüngsten
waren Säuglinge, 10 bis 14-jährige waren darunter, Jugendliche, die älteste
war keine 40 Jahre. Ihr Schuhe und Jacken trieben auf den Wellen, es gab
ein Paar, das in Leichenstarre ineinander verschlungen war. Wenige Meter
entfernt von ihnen schwamm ein Baby, schon ein Stück unter der Oberfläche.
Kolek glaubte, es müsse ein Junge sein, genau kann er es nicht sagen, das
Kind trug Windeln. Es war die einzige Leiche, die sie nicht markierten,
sondern in ihr Boot nahmen. „Ich habe selbst drei Kinder, das war ein
Automatismus.“
Dann machten sie das Bild, das wenige Tage später Zeitungen auf der ganzen
Welt drucken würden. Sie fuhren zum Boot der Italiener und Kolek reichte
das Baby dem Leiter der Kampfschwimmer und er sagte „Thank You“ dann
markierten sie weiter Leichen und als die Rettungswesten verbraucht waren,
gaben die Kampfschwimmer ihnen neue und Kolek sang „afrikanische Lieder, um
nicht schreien zu müssen“, sagt er, „ich war unter Intensität, ich kann es
gar nicht richtig sagen, unter Lebenswille.“
Und irgendwann war es vorbei und er kehrt an Bord der Sea Watch zurück und
hörte immer noch das Sirren der Seilwinde, bis er einschlief.
„Die Dinge, die vorgefallen sind, habe ich mir vorher so im Kopf
vorgestellt“, sagt er später. „Das war im Rahmen dessen, was ich befürcht…
hatte. Nur an Säuglinge habe ich nicht gedacht.“ Kolek ist ein Mann von
vielleicht Mitte 40, mit rotem Bart und blauen Augen. Tage nach dem Einsatz
werkelt er auf der Sea Watch. Er trägt blaue Arbeitshandschuhe und trotz
der Hitze eine schwarze Wollmütze. Er ist zertifizierter Traumaberater.
„Ich beobachte mich schon“ sagt er. Die Konzentrationsschwächen. Das
nächtliche Aufwachen. Den hohen Puls.
Es war sein erster Einsatz auf der Sea Watch. Dass sie Helden sind, davon
will er nichts wissen. „Die echten Helden,“ sagt Martin Kolek, das sind die
Leute, die entschieden haben: Ich gehe in dieses Boot und ich suche nach
Zukunft.“
4 Jun 2016
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Christian Jakob
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