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# taz.de -- Flüchtlinge in Italien: Dioros dritter Anlauf
> Die Grenze zu Frankreich ist bereits dicht. Seither versuchen immer mehr
> Flüchtlinge in die Schweiz auszuweichen.
Bild: Como, 19. August 2016: In der Grünanlage nahe des Bahnhofs kampieren Fl�…
Como/ Chiasso/ Ventimiglia taz | Eine Nacht hat Keita Dioros neues Leben
gedauert, jetzt ist es 12.57 Uhr, und es ist schon wieder vorbei. Eine
Nacht war er in der Schweiz, dem Land, in dem er leben will. Jetzt tritt er
vor die Tür der Polizeistation von Chiasso, nur den Gürtel und die langen
weißen Schnürsenkel in der Hand, die die Polizisten ihm abgenommen hatten.
Langsam, damit die Hose ihm nicht von der Hüfte rutscht, schlurft Dioro in
ein Café auf der anderen Straßenseite, wo schon drei andere Afrikaner
sitzen. Am Sonntag ist er in Norditalien angekommen, jetzt, am Mittwoch,
hat er seinen dritten Versuch hinter sich, in die Schweiz zu gelangen.
„Ich habe gesagt, dass ich Asyl will“, sagt Dioro. Die Polizisten hätten
das ignoriert. Der 26-Jährige fängt an, die Schnürsenkel durch die Löcher
zu ziehen.
Am Vortag ist er mit anderen Afrikanern in Como aufgebrochen. Sie haben den
Bus in die Berge genommen, bis hinter das Dorf Drezzo, sind vorbeigelaufen
am Turm der Madonna-Assunta-Kapelle, durch den Tannenwald. Um Mitternacht
sind sie über die Grenze. Doch da stand das schweizerische Grenzwachtkorps.
Um zwei Uhr griff es die Gruppe auf und übergab sie der italienischen
Polizei.
## Neue Routen entstehen
Allein in dieser Woche sind über 11.000 Flüchtlinge nach Italien gelangt,
insgesamt waren es seit Jahresanfang bereits mehr als 100.000. Die
wenigsten wollen bleiben. Doch weiterzuziehen wird immer schwieriger. Der
Grenzübergang in Ventimiglia nach Südfrankreich – für Flüchtlinge seit
Langem geschlossen. Im April fing dann Österreich an, eine Kontrollstelle
am Brenner zu bauen. Das hat sich herumgesprochen. Mehr Flüchtlinge
entschieden sich für den Weg über Mailand nach Zürich. Bis Juni ließ die
Schweiz viele passieren. Das ist nun anders.
Dioros Kumpel befinden sich noch in Polizeigewahrsam. Im Hof der Wache
stehen zwei Dixi-Kos. Einige Dutzend Afrikaner warten in der Hitze, bewacht
von Polizisten mit Schutzmasken. Nach einer Weile reicht man ihnen Brötchen
und Wasserflaschen. Gegen halb zwei bricht ein Flüchtling zusammen,
Sanitäter tragen ihn auf einer Bahre hinaus.
Keita Dioro stammt aus Mali, nicht weit von der Oasenstadt Timbuktu
pflanzte er Tomaten und Süßkartoffeln. Seine Mutter ist Muslima, der Vater
Christ, wie er auch. 2012 kam der Dschihad. Dessen Krieger meinten es nicht
gut mit jenen, die für sie nur Ungläubige sind. Dioro ging nach Algerien.
Zwei Jahre Arbeit, dann hatte er genug Geld. 800 Dollar verlangten die
Schlepper in Libyen für den Platz im Boot. Günstig, meint Dioro. „Andere
zahlen 1.000.“
## Keine Jobs in Sassari
Auch die Schlepper meinten es nicht gut. Als sie die Flüchtlinge auf ihr
Boot trieben, schlug einer von ihnen Dioro mit einem Gewehrkolben aufs Ohr.
Bis heute hört er nicht richtig. Am 25. Mai zogen ihn italienische Soldaten
an Bord ihrer Fregatte. Er kam ins Aufnahmezentrum von Sassari auf
Sardinien. Kein Internet, wenig Essen, keine Ärzte. Er wollte nichts
geschenkt, sagt Dioro. Doch Arbeit gab es nicht in Sassari. Nach drei
Monaten bestieg er die Fähre nach Genua. Die Schweiz sei ein gutes Land,
glaubt er.
An den zwei Tagen zuvor hat er es mit dem Zug versucht. Was da geschah, ist
am Bahnhof von Chiasso mehrmals am Tag zu besichtigen. Um 16.17 Uhr rollt
der Regionalzug aus Mailand auf das Kopfgleis 1. An dessen Ende steht das
schweizerische Grenzwachtkorps. Touristen und Pendler laufen vorbei. Dann
tauchen zwei dunkelhäutige Männer auf. Die Grenzer gehen auf sie zu, zwei
von vorn, einer von hinten. Aus der Menge der Passanten löst sich ein
glatzköpfiger Mann. Er hat in Zivil im Zug gesessen. Jetzt zieht er eine
Polizeiweste aus der Tasche. „Passport“, sagt einer der Grenzer. Die Männer
haben keinen. Umzingelt werden sie in das Innere des Bahnhofsgebäudes
geführt. Was dort passiert, wollen die Polizisten nicht sagen.
Etwa 1.500 Flüchtlinge sind im Juli und August pro Woche in Chiasso
eingetroffen – sechsmal so viele wie noch Anfang Mai. Nur wer angebe,
weiter nach Norden reisen zu wollen, werde abgewiesen, sagt Patrick Benz,
Chef des Bereichs Migration des schweizerischen Grenzwachtkorps, in der
Neuen Zürcher Zeitung. Wer Asyl beantrage, dürfe im Land bleiben. Doch die
Vizechefin der Schweizer Sozialdemokraten, Beatrice Reimann, oder auch die
NGO Firdaus werfen den Grenzern vor, auch die meisten anderen Flüchtlinge
zurückzuschaffen. Die Schilderung des Maliers Keita Dioro stützt dies.
## Undurchschaubare Schweizer
Und so hat sich in einer Grünanlage vor dem Bahnhof von Como ein
Flüchtlingslager gebildet. Etwa 350 Menschen kampieren hier seit Wochen. Am
Morgen stehen die Menschen zwischen Zelten, kämmen sich und prüfen ihre
Frisuren im Smartphone-Display. Kleidung liegt zum Trocknen auf dem Boden.
Rechtstipps sind mit schwarzem Filzstift auf Pappe geschrieben. Die meisten
der Menschen hier stammen aus Somalia, Sudan, Eritrea, Äthiopien, ein
kleinerer Teil aus Westafrika. Was genau die Schweiz tut, gibt den Helfern
hier Rätsel auf. „Es ist wirklich kompliziert“ sagt Jacopo Daitone, ein
junger Freiwilliger. „Die meisten werden zurückgeschickt.“ Doch nach
welchem Muster, sei unklar.
18 Monate dauert es im Schnitt, bis ein Asylsuchender in Italien seinen
Antrag abgeben kann. Es gibt wenig Jobs, kaum Sozialleistungen. Dafür umso
mehr Lager: Die „Hotspots“ genannten Registrierungslager der EU, Lager für
die ersten drei Tage (CPSA), für Migranten ohne Papiere (CDA), für
Asylsuchende (Cara), für anerkannte Flüchtlinge (Sprar) und die
Internierungslager (CIE). Dienstags und donnerstags bringe die Polizei
Flüchtlinge aus Chiasso mit einem Bus in den „Hotspot“ von Taranto, sagt
Jacopo. 15 Fahrtstunden entfernt. „Dabei sind die Menschen alle schon
registriert.“ Es gehe darum, sie „weit weg von der kritischen Situation an
der Grenze zu bringen“, sagt er. „Die wollen sie fertigmachen. Sie sollen
erschöpft sein, kein Geld mehr haben, um wiederzukommen.“
330 Kilometer südwestlich, in Ventimiglia, ein ähnliches Bild. Der kleine
Ort am Ligurischen Meer ist die letzte Station vor der französischen
Grenze. Weiße Maseratis mit Monaco-Kennzeichen fahren umher und wehen etwas
vom obszönen Wohlstand der Côte d’Azur herüber. Die Lokale bieten
Tintenfischsalat mit Weißwein, Touristen flanieren durch die schattige
Einkaufsstraße. Flüchtlinge stehen herum, sitzen vor dem Bahnhof. Sie
rauchen Zigaretten, starren die Passanten an, warten, dass irgendetwas
passiert. Aber es passiert nichts. Für sie ist die Grenze nach Frankreich
zu.
## Informelles Camp in Como
Eigentlich sollte die EU Italien Flüchtlinge abnehmen. Doch das geschieht
nicht. Dennoch will Italien den Verdacht entkräften, die Flüchtlinge
entgegen EU-Recht einfach nach Norden durchzuwinken. Innenminister Angelino
Alfano ließ den Willkommenspunkt in Ventimiglia schließen. 200 Flüchtlinge
besetzten daraufhin das Gelände einer Kirche, auch das wurde geräumt.
Zwischen Bahngleisen und Industriebrachen errichtete danach das Rote Kreuz
ein Lager.
610 Menschen sind heute hier untergebracht. Teilweise sitzen die Bewohner
seit Jahren in Italien fest, teils sind sie erst wenige Tage im Land. Die
Zahl im Lager sei nur „stabil“, weil die Polizei immer wieder Busladungen
mit Flüchtlingen zurück in den Süden des Landes bringe, sagt das Rote
Kreuz.
Trotzdem versuchen immer wieder Flüchtlinge auch hier über die Grenze zu
gelangen. Schwimmend oder zu Fuß. Entweder halten die Italiener sie auf
oder die Franzosen.
## Zug wird durchkämmt
Neun Minuten braucht der Regionalzug bis ins französische Menton Garavan.
Jetzt, am späten Nachmittag, stehen dort am Bahnhof Mannschaftswagen der
französischen Nationalpolizei CRS. Die Männer postieren sich vor jeder Tür,
bevor der Zugführer sie öffnet. Mit Sonnenbrillen und Schlagstöcken gehen
sie in den Zug, zwei durch das obere, zwei durch das untere Stockwerk von
jedem Waggon. Sie werden diesmal nicht fündig. Nach ein paar Minuten rollt
der Zug weiter Richtung Nizza.
Es ist der Tod Schengens auf Raten. Der EU-Kommission gelingt es nicht, die
Einhaltung der EU-Verträge durchzusetzen, es gibt keine kollektive Regelung
für das Flüchtlingsproblem. Als erstes Land hatte Deutschland letzten
September wieder Grenzkontrollen eingeführt. Österreich, Dänemark, Schweden
und Norwegen folgten, noch bis November 2016. Frankreich hat gar bis 2017
verlängert.
„Alle haben ein anderes System“, sagt einer der Afrikaner in der Bar
gegenüber der Grenzpolizei von Chiasso. „Die Deutschen, die Belgier, die
Schweiz, die Franzosen, die Italiener. Aber am Ende läuft es für uns immer
auf das Gleiche hinaus: Wir sitzen im Gefängnis oder auf der Straße. Er
fragt: „Hast du eine Zigarette?“
## Gefangener Nummer 37.
Die Polizei in Chiasso hat Dioros Fingerabdrücke genommen. Und ihm einen
Zettel in die Hand gedrückt: Spätestens in fünf Tagen soll er sich mit
seinem Pass im Aufnahmelager von Sassari melden. Dioro hat keinen Pass. Und
im Lager wird sein Ohr nicht behandelt, glaubt er.
„Ich fühle mich schwach“, sagt er. Er trägt noch das pinke Armband von der
Polizei. Gefangener Nummer 37. Sonst trägt er nichts. Was wird er heute
essen?
„Erst mal das hier.“ Er zieht das von der Polizei verteilte Brötchen aus
der Tasche seines Kapuzenpullovers.
Und dann?
„Gehe ich nach Como. Dann versuche ich es wieder.“¦
3 Sep 2016
## AUTOREN
Christian Jakob
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