# taz.de -- Debatte Flüchtlingspolitik in der EU: Spurenelemente des Asylrechts | |
> Nicht nur der Brexit bedroht die EU, sondern auch die Uneinigkeit beim | |
> Thema Migration. Das Offshore-Asylverfahren ist keine Lösung. | |
Bild: Warten in einer Flüchtlingsunterkunft: Die EU-Staaten gehen sehr untersc… | |
Da gibt es die erodierende Freizügigkeit: Am letzten Freitag begann Polen, | |
seine Grenzen wieder zu kontrollieren. Erst im Mai hatten Deutschland, | |
Schweden, Norwegen, Dänemark und Österreich die Erlaubnis bekommen, ihre | |
Grenzkontrollen bis Ende des Jahres zu verlängern. Die EU-Kommission, | |
Hüterin der Schengen-Verträge, hatte vergeblich darauf gedrängt, die im | |
Herbst letzten Jahres ausgesetzte Freizügigkeit wiederherzustellen. | |
Und Österreich hat nun erklärt, seine Grenzen so lange geschlossen zu | |
halten, bis die EU eine „europäische Lösung“ für das Flüchtlingsproblem | |
gefunden hat. Was nach Lage der Dinge wohl heißen soll: bis keine | |
Flüchtlinge mehr nach Österreich kommen. Schengen, das Herzstück der | |
Einigung, zerbröselt. | |
Dann gibt es das ungelöste Verteilungsproblem. Nach wie vor kommen viele | |
Menschen vor allem in Italien an. Aber die immer wieder versprochene | |
Entlastung der Staaten an den EU-Außengrenzen ist ein Witz: Gerade mal | |
2.000 der im letzten Sommer beschlossenen 160.000 Flüchtlinge wurden | |
bislang Italien und Griechenland abgenommen. | |
Beim Europäischen Gerichtshof liegen Klagen von Slowenien und Ungarn gegen | |
die Verteilung. Und direkt beliebter dürfte das Vorhaben auch nicht | |
geworden sein, als die EU-Kommission im Mai für Staaten, die nicht bei der | |
Umverteilung mitmachen, ein 250.000-Euro-Bußgeld vorschlug – pro nicht | |
aufgenommenem Flüchtling, wohlgemerkt. | |
## Fliehkräfte bei Migrationsfragen | |
Am Dienstag nun entschied Ungarns Präsident János Áder, im Oktober eine | |
Volksabstimmung über die europäische Flüchtlingsverteilung abzuhalten. Was | |
in anderen Zeiten womöglich als Akt direkter Demokratie durchgegangen wäre, | |
bekommt jetzt, aufgeladen mit dem unverdauten Brexit-Votum, den düsteren | |
Charakter einer symbolischen Abstimmung über die EU insgesamt. Die | |
Fliehkräfte, die die Migrationsfrage auf Europa ausübt, sind enorm. | |
Jahrelang hat die EU die Ungerechtigkeiten, die das Dublin-System | |
hervorbringt, ignoriert. Dann versuchte sie mit Zwangsmaßnahmen dessen | |
schlimmste Folgen einzudämmen. Jetzt ist die Lage dafür noch schlechter als | |
zuvor. Viele fordern als Reaktion auf den Brexit, den Nationalstaaten | |
Kompetenzen zurückzugeben. Das würde die Aussicht auf eine europäische | |
Flüchtlingspolitik völlig zunichtemachen und die EU deshalb noch mehr | |
schwächen. | |
Die Folgen würden auch die Flüchtlinge selber zu spüren bekommen. Mehr | |
Nationalstaatlichkeit heißt für sie weniger Rechte. Die Harmonisierung von | |
Asyl- und Migrationsrecht steht seit Langem auf der EU-Agenda. Umgesetzt | |
wurde sie nie. Das Problem dabei war immer dasselbe: Jeder Staat hat ein | |
anderes Asylrecht, und die Nationalstaaten hatten zu viel Raum, um das | |
Wenige, was europäisch geregelt war, zu hintertreiben. Die EU hatte nichts | |
zu bieten, um sie zur Geschlossenheit zu bringen. | |
## Keine neuen Anreize für Flüchtlinge | |
Das 2013 beschlossene Gemeinsame Europäische Asylsystem CEAS sollte dafür | |
sorgen, dass alle Staaten Europas Flüchtlinge ähnlich behandeln. So sollte | |
die Schieflage zwischen den Staaten im Süden und jenen im Zentrum | |
ausgeglichen werden. Doch fast alle Staaten ignorierten die neuen Regeln. | |
Niemand wollte neue „Anreize“ für Flüchtlinge schaffen. Und die Kommission | |
vermochte nichts dagegen zu tun. | |
Das ist bis heute so. Und wer daran etwas ändern will, muss deshalb die | |
Finanzierung mit einschließen: Staaten, die bereit sind, Flüchtlinge | |
aufzunehmen, sollten die dadurch entstehenden Kosten aus Brüssel erstattet | |
bekommen. Per Umlage aller EU-Mitglieder – genau wie im Agrarsektor. Das | |
wäre überzeugender als leere Sanktionsdrohungen oder Appelle. | |
Wahrscheinlich ist es der einzige Weg, Akzeptanz für eine kollektive | |
Lastenteilung zu schaffen. Und wenn diese funktioniert, entfällt | |
automatisch die Notwendigkeit, die Schengen-Freizügigkeit auszusetzen. | |
Die Kommission aber geht jetzt einen anderen Weg. Letzte Woche legte sie | |
dem Parlament einen Entwurf vor, um nach deutschem Vorbild eine EU-Liste | |
„sicherer Herkunftsländer“ zu schaffen. Ohne ein gemeinsames | |
EU-Asylverfahren aber braucht es eine solche Liste nicht. In absehbarer | |
Zukunft dürfte dies auch nicht eingeführt werden – die dazu fähige Behörde | |
existiert ohnehin nicht. So liegt die Vermutung nahe, dass diese Liste vor | |
allem dazu dienen soll, den Flüchtlingsschutz weiter in die Transitregionen | |
zu verlagern: durch den Aufbau von Asylverfahrenslagern in als sicher | |
gelabelten Staaten wie etwa Tunesien. Dieser Traum vom | |
Offshore-Asylverfahren wird in Berlin und Brüssel seit Langem geträumt. | |
## Rechte nur auf dem Papier | |
Letzte Woche haben sich an dieser Stelle auch die Kieler Wissenschaftler | |
Toman Barsbai und Sebastian Braun dafür starkgemacht. „Asylbewerber sollten | |
den Antrag grundsätzlich nur noch außerhalb der EU stellen können, (…) | |
Asylanträge innerhalb der EU wären ausnahmslos abzulehnen“, schrieben sie. | |
So könnten nicht nur, wie jetzt, die Stärksten ins sichere Europa gelangen, | |
sondern die Bedürftigsten: Alte, Schwangere, Kranke, Kinder. | |
Doch auf der anderen Seite des Mittelmeers, weit weg von unabhängigen | |
Anwälten, Menschenrechtsorganisationen und Beratungsstellen, ist das | |
europäische Recht nur Papier. Niemand könnte sich dort auf eine Weise | |
rechtlich Gehör verschaffen, die mit den Möglichkeiten in Europa | |
vergleichbar ist. Was übrig bliebe, wären nichts als Spurenelemente des | |
Asylrechts. Wer reindarf und wer draußen bleibt, wäre restlos dem Belieben | |
der Aufnahmeländer überlassen. | |
Das Flüchtlingsproblem lässt sich nicht lösen, indem man es nach außen | |
drückt. Genau das hat Europa jahrelang innerhalb der EU versucht. Die Folge | |
waren Chaos in den Ländern Süd- und teils auch Osteuropas und eine | |
Destabilisierung der Gemeinschaft insgesamt. Am Ende sind die Flüchtlinge | |
trotzdem gekommen. Dieses Muster wird sich wiederholen, wenn nun verstärkt | |
auf die Transitstaaten als Barriere gesetzt wird. | |
Das letzte Jahr hat gezeigt, dass die Freizügigkeit nur dann zu haben ist, | |
wenn sie für alle gilt. Wer sie den Flüchtlingen verweigert, kann sie auch | |
für alle anderen nicht gewährleisten. Die Konsequenz daraus heißt: die | |
Kosten dafür auf eine kollektive Basis zu stellen. Das ist die europäische | |
Lösung. | |
8 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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