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# taz.de -- Debatte Geflüchtete in Europa: Asylrecht des Stärkeren
> Nicht die Schutzbedürftigsten, sondern gesunde junge Männer haben die
> besten Asylchancen. Wir brauchen ein neues System.
Bild: Gefahrvolle Reise: Gerade die Schützbedürftigsten haben schlechte Chanc…
Nach dem Flüchtlingsdeal ist vor dem Flüchtlingsdeal. Zwar ist die Zahl der
aus der Türkei nach Griechenland fliehenden Menschen seit dem
EU-Türkei-Abkommen merklich gesunken. Gleichzeitig steigt aber die Zahl der
Asylsuchenden, die versuchen, über andere Routen nach Europa zu gelangen.
Die Lösung der EU? Es soll weitere Flüchtlingsdeals geben, diesmal mit den
Staaten Nordafrikas.
Doch diese Strategie macht die EU nicht nur vom Wohlwollen der Türkei oder
Libyens abhängig. Sie drängt Flüchtlinge auch auf immer gefährlichere
Routen, die für viele politisch Verfolgte gar nicht infrage kommen. Das
Grundproblem bleibt: Ein Asylantrag kann bislang in der Regel nur im
Aufnahmeland gestellt werden. Gleichzeitig ist eine legale Einreise dabei
meist nicht möglich. Daher sind die Anreize groß, irregulär in die EU
einzureisen. Daran ändern auch immer neue Flüchtlingsdeals nichts. Aufgrund
der Anreize, die es schafft, ist unser Asylsystem widersprüchlich,
ungerecht und für alle Beteiligten teuer und risikoreich.
Asylsuchende müssen viel Geld aufbringen, um Schlepper für eine
lebensgefährliche Reise in eine ungewisse Zukunft zu bezahlen. Je mehr
Europa in Grenzzäune investiert, desto stärker steigen diese Kosten und
Risiken. Dazu kommt die Trennung von Familie und Freunden.
All dies ist vergebens, sollte die irreguläre Einreise misslingen oder der
Asylantrag abgelehnt werden. Das führt dazu, dass sich vor allem
wohlhabendere, gesündere und risikobereite junge Männer auf den Weg machen.
Statt nach Schutzbedürftigkeit wählt das Asylsystem implizit nach Reichtum,
Gesundheit oder Risikoneigung aus. Die größten Profiteure dieses Systems
sind die Schlepper. Die größten Verlierer sind die bedürftigsten
Asylsuchenden.
Für Deutschland und andere EU-Länder sind die Kosten ebenfalls gewaltig:
Unabhängig von den Erfolgsaussichten müssen alle Asylbewerber erst einmal
versorgt werden. Hinzu kommen die Finanzierung der Grenzsicherung und die
Einschränkung der Schengen-Freiheiten. Wird der Asylantrag abgelehnt, wird
es für alle Seiten noch mal teurer, denn dann laufen die Abschiebeverfahren
an. Bleiben abgelehnte Asylbewerber trotz Ausreisepflicht im Land, sind sie
besonders schwer integrierbar. Und abgeschobene Asylbewerber sind bei ihrer
Rückkehr oft stigmatisiert.
## Probleme werden lediglich verschoben
Der Flüchtlingsdeal mit der Türkei löst diese Probleme nicht und wird
mittelfristig nur zu einer Verlagerung der Flüchtlingsströme führen. Auch
Hotspots an den EU-Außengrenzen helfen wenig, weil Asylbewerber auf
irregulärem Weg dorthin kommen müssen. Die Probleme des derzeitigen
Asylsystems werden lediglich an die Außengrenze der EU verschoben.
Was wir brauchen, ist daher eine grundlegende Reform des Asylsystems:
Asylbewerber sollten den Antrag grundsätzlich nur noch außerhalb der EU
stellen können – etwa in Botschaften oder speziellen Asyl-Außenstellen. Bei
Erfolg des Antrags reisen sie legal in das Zielland. Um Gefahren während
der Bearbeitungszeit auszuschließen, sollten besonders gefährdete
Asylbewerber Schutz in Flüchtlingslagern erhalten. Diese Reform müsste mit
strikten Maßnahmen an den EU-Außengrenzen einhergehen. Asylanträge
innerhalb der EU wären ausnahmslos abzulehnen. Ein solches Asylsystem wäre
effizienter, menschlicher und gerechter.
Für Flüchtlinge entfielen die hohen Kosten und Risiken. Wird ihr Antrag
abgelehnt, müssen sie nicht als „Gescheiterte“ zurückkehren. Alle, nicht
nur die, die sich nach Europa durchschlagen können, bekämen dann die
Chance, einen Asylantrag zu stellen. Damit würde das Verfahren auch den
Schutzbedürftigsten offenstehen.
Die EU-Staaten müssten nicht mehr für chancenlose Antragsteller aufkommen.
Auch die Kosten für die Duldung abgelehnter Asylbewerber entfielen. Die
Mittel stünden damit allein anerkannten Flüchtlingen und somit den
Schutzbedürftigsten zur Verfügung. Die Asyl-Außenstellen und die Versorgung
gefährdeter Flüchtlinge vor Ort dürfte weniger kosten, als sich um alle
Asylbewerber innerhalb Europas zu kümmern.
## Die Integration könnte sofort beginnen
Wenn nur anerkannte Flüchtlinge einreisen, könnte deren Integration sofort
beginnen. Familien als funktionierende soziale Einheiten könnten bevorzugt
werden. Auch Identitäts- und Sicherheitskontrollen wären vorab schon
erledigt. Würde eine irreguläre Einreise automatisch zum Ausschluss aus dem
Asylverfahren führen, dürfte der Flüchtlingsstrom über das Mittelmeer
abebben. Den Schleppern wäre die Nachfrage entzogen.
Ein solches System brächte ohne Frage große Herausforderungen mit sich. So
würden die geringeren Kosten des Asylantrags die Zahl der Anträge zunächst
enorm in die Höhe treiben. Ein reformiertes Asylsystem wird daher nur mit
Obergrenzen funktionieren. Doch eine solche Obergrenze existiert implizit
schon heute, da arme oder weniger risikobereite Menschen selten so weit
kommen, Asyl beantragen zu können.
Im Gegensatz zum jetzigen System wären Obergrenzen in einem reformierten
System transparent und könnten mit humanitären Kriterien kombiniert werden.
Auch würde diese kontrollierte Aufnahme von Flüchtlingen mehr Akzeptanz in
der Bevölkerung finden. Außerdem würde die Gesamtnachfrage nach Asyl
transparent werden und damit auch die Konsequenzen einer Obergrenze.
Krisenherde fernab der europäischen Grenze gerieten weniger leicht in
Vergessenheit.
Der Flüchtlingsdeal mit der Türkei mag der EU in der Flüchtlingskrise eine
Atempause eingeräumt haben. Wir sollten diese nutzen, um über eine
grundlegende Reform des Asylsystems nachzudenken. Mehr Kontrolle, mehr
Effizienz und mehr Menschlichkeit müssen dabei keine Gegensätze sein.
28 Jun 2016
## AUTOREN
Toman Barsbai
Sebastian Braun
## TAGS
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