| # taz.de -- Schlepper im Zweiten Weltkrieg: Das schmutzige Metier der Retter | |
| > Auch im Zweiten Weltkrieg waren Schlepper Kriminelle – und die letzte | |
| > Hoffnung vieler Flüchtlinge. Denn legale Wege waren auch damals | |
| > versperrt. | |
| Bild: Damals wie heute: Ohne Hilfe – auch bezahlte – gibt es oft keine Hoff… | |
| Es war Anfang August 1942, als der Brüsseler Uhrenhändler Simon Sonabend | |
| von der deutschen Militärverwaltung die Aufforderung erhielt, seine | |
| 15-jährige Tochter Sabine habe sich zum „Arbeitseinsatz“ im Osten | |
| bereitzumachen. Sonabend war Jude; er wusste, was das bedeutete. Die | |
| Familie – die Eltern, zwei Kinder – entschied sich zur Flucht. | |
| Ziel sollte die Schweiz sein, ein Land, das Sonabend von seinen | |
| Geschäftsreisen gut kannte. Der Fluchtplan war riskant: Die Familie musste | |
| unerkannt über die belgische Grenze und durch das von deutschen Truppen | |
| besetzte Frankreich kommen, dann über die Schweizer Grenze, die für | |
| Flüchtlinge vollständig gesperrt war. Auf eigene Faust loszuziehen, war | |
| aussichtslos. | |
| Die Sonabends nahmen Kontakt zu einer Schleppergruppe auf. Sie besorgte | |
| falsche Pässe und andere Papiere. Zwei „Passeure“ brachten die | |
| Flüchtlingsfamilie im Zug über die französische Grenze und begleiteten sie | |
| durch Frankreich bis nach Besançon. Dann ging es im Lastwagen weiter. Kurz | |
| vor der Schweizer Grenze übernahm ein ortskundiger Führer, der sie nachts | |
| auf Schleichwegen durch das Gebirge brachte, vorbei an den Patrouillen der | |
| deutschen und der schweizerischen Polizei. | |
| Am 9. August hatten die Sonabends ihr Zuhause in Brüssel verlassen, am 15. | |
| August trafen sie bei Bekannten im schweizerischen Biel ein. Ihre Flucht | |
| hatte 120.000 französische Francs gekostet, zahlbar je zur Hälfte zu Beginn | |
| und nach erfolgreichem Abschluss: ein extrem hoher Preis, etwa das | |
| zehnfache Jahresgehalt eines französischen Arbeiters. Die Sonabends waren | |
| wohlhabend und zahlten. Es ging ja um ihr Leben. | |
| „Emigrantenschmuggel“ sei ein „schmutziges Metier“, sagte der für die | |
| Polizei zuständige Schweizer Bundesrat Eduard von Steiger auf einer | |
| Pressekonferenz zur gleichen Zeit. Je schärfer die Behörden gegen | |
| Flüchtlinge vorgingen, desto mehr ging es in ihren Reden um die Bekämpfung | |
| der Schlepperbanden. | |
| Schon 1938 hatte die Schweiz die Visumspflicht für alle deutschen | |
| „Nichtarier“ eingeführt. Jüdische Flüchtlinge konnten die Grenze nur noch | |
| illegal passieren und mussten deshalb oft die Hilfe von Schleusern in | |
| Anspruch nehmen. Im Sommer 1942, als die Judendeportationen in Holland, | |
| Belgien und Frankreich die Zahl der Flüchtlinge schlagartig ansteigen | |
| ließen, wurden die Bestimmungen weiter verschärft: Flüchtlinge, denen der | |
| illegale Grenzübertritt gelungen war, sollten sofort wieder abgeschoben | |
| werden. | |
| „Der Zustrom fremder Zivilflüchtlinge“, schrieb dazu der Schweizer | |
| Bundesrat, „ist nun aber festgestelltermaßen mehr und mehr organisiert, | |
| wird von gewerbsmäßigen ‚Passeurs‘ gefördert und hat in den letzten Mona… | |
| ein Ausmaß und einen Charakter angenommen, dass in vermehrtem Maße | |
| Rückweisungen von Ausländern stattfinden müssen“. Allein die Stichworte | |
| „organisiert“ und „gewerbsmäßig“ ließen an Bandenkriminalität und | |
| ungehemmtes Gewinnstreben denken – die Abwehr der Flüchtlinge, die bei | |
| vielen Schweizern unpopulär war, sollte so als legitime | |
| Verbrechensbekämpfung erscheinen. | |
| Für die Schleuser, die den Sonabends halfen, mag das sogar zugetroffen | |
| haben, der hohe Preis lässt darauf schließen, dass die Not der Familie | |
| ausgenutzt wurde. Fast alle Fluchtgeschichten aus der Zeit des Zweiten | |
| Weltkriegs aber zeigen, dass ohne organisierte und bezahlte Hilfe gar | |
| nichts ging. | |
| Man weiß nur wenig über die Schleppergruppen jener Zeit, da sich alles im | |
| meist schriftlosen Dunkel der Illegalität abspielte. Anders ist es bei den | |
| zahlreichen politischen und religiösen Organisationen, die Flüchtlingen | |
| besonders in Frankreich ganz uneigennützig halfen. Aber auch sie waren | |
| dabei auf die Zusammenarbeit mit gewerbsmäßigen Helfern angewiesen. | |
| ## Gefälschte Papiere | |
| Die „Oeuvre de Secours aux Enfants“ war eine jüdische Organisation, die im | |
| besetzten Frankreich jüdische Kinder, die deportiert werden sollten, | |
| versteckte. Als das immer gefährlicher wurde, schleuste sie die Kinder | |
| außer Landes, nach Spanien und hauptsächlich in die Schweiz. Dafür wurden | |
| Papiere gefälscht, typisch jüdische Namen ersetzt, das Alter der Kinder | |
| angepasst – Kinder unter 16 durften nicht zurückgeschickt werden. | |
| Freiwillige Helfer brachten die Kinder in der Regel nach Annemasse, die | |
| letzte Bahnstation vor der Schweiz in der Nähe des Genfer Sees. Die kleine | |
| Stadt war bei Jugendgruppen als Ferienort beliebt, fremde Kinder fielen | |
| dort kaum auf. Für die letzte Strecke über die Grenze waren bezahlte | |
| Schlepper zuständig, Einheimische, die sich auskannten und vor dem Krieg | |
| vielleicht schon Waren geschmuggelt hatten. Die Preise lagen zwischen drei- | |
| und fünftausend Francs pro Kind. Das Risiko war groß: Nicht nur in | |
| Frankreich, auch in der Schweiz drohten Gefängnisstrafen. 1944 verstärkten | |
| die Deutschen die Grenzkontrollen, die Passagen wurden zu gefährlich. Auch | |
| für mehr Geld waren keine ortskundigen Fluchthelfer mehr zu gewinnen. | |
| Die freiwilligen Helfer waren zuverlässig, die bezahlten waren es oft | |
| nicht. Der Schriftsteller Manès Sperber berichtet in seiner Autobiografie | |
| davon, wie er von seinem Schlepper, der ihn über die Alpen bringen sollte, | |
| nachts, nachdem er ihn entlohnt hatte, alleingelassen wurde und nur mühsam | |
| und mit viel Glück den richtigen Weg fand. | |
| ## Eine Flucht war teuer | |
| Cimade, eine Gruppe junger protestantischer Christen, hauptsächlich Frauen, | |
| half aus Überzeugung. „Je mehr sich die Lage verschlechterte, desto weniger | |
| konnten wir die Legalität respektieren“, sagte Madeleine Barot, die Chefin | |
| der Organisation. Es gab ein dichtes Netz aus Privathäusern, Pastoraten und | |
| Klöstern, in denen die Cimade-Helfer Flüchtlinge versteckten, um sie dann | |
| über die Alpen in Sicherheit zu bringen. | |
| Aber auch die karitativen Organisationen konnte eines nicht verhindern: | |
| eine Flucht war teuer. Grenzführer wollten bezahlt werden, es mussten | |
| Personalausweise und Arbeitsbescheinigungen beschafft, Fahrkarten und | |
| Hotelzimmer gebucht, Ärzte bereitgehalten, Polizeikontrollen ausgespäht und | |
| Bestechungsgelder zugeschoben werden. Auch die Helfer selbst mussten von | |
| etwas leben. All das gelang den humanitären Organisationen vor allem durch | |
| Spenden. | |
| Die wichtigste Fluchtroute im Zweiten Weltkrieg führte über die Pyrenäen. | |
| Nach der militärischen Niederlage war der unbesetzte Teil Frankreichs | |
| überfüllt mit Menschen, die verzweifelt versuchten, nach Amerika zu kommen. | |
| Lissabon war dafür der einzig verbliebene Hafen. Dieser Weg war vor allem | |
| durch bürokratische Hürden versperrt: Ausreiseverbote, Einreisevisa, | |
| Transitgenehmigungen, gültige Ausweise. | |
| Der amerikanische Journalist Varian Fry wurde 1940 vom New Yorker Emergency | |
| Rescue Committee nach Marseille geschickt, um Schriftsteller und | |
| Intellektuelle vor den Nazis zu retten. | |
| Fry erkannte schnell: Legal ging das nicht. Er engagierte Passfälscher, | |
| kaufte Visa und verhandelte mit der Marseiller Unterwelt. 1941 musste Fry | |
| schließlich das Land verlassen. Heinrich und Golo Mann, Franz Werfel, | |
| Siegfried Kracauer, Hannah Arendt, Marc Chagall, André Breton, Wanda | |
| Landowska, Max Ernst, Lion Feuchtwanger und viele andere verdanken seinem | |
| Engagement ihre Rettung. | |
| Man schätzt, dass etwa 50.000 Menschen die Flucht über die Pyrenäen gelang. | |
| Das waren nicht nur Juden und politisch Verfolgte. Auch der britische | |
| Geheimdienst nutzte den Weg über das Gebirge. Er richtete Verbindungslinien | |
| für abgeschossene Kampfpiloten ein, die sich mit dem Fallschirm hatten | |
| retten können – über Spanien und Gibraltar wurden sie zurück nach England | |
| gebracht. Viele Franzosen wählten diesen Weg, um sich den Freien | |
| Französischen Streitkräften unter General de Gaulle anzuschließen. | |
| Ob humanitäre und militärische Organisationen oder die, die sich auf eigene | |
| Faust auf den Weg gemacht hatten: Alle waren auf Einheimische angewiesen, | |
| die die Notsituation nutzten und sich bezahlen ließen. Es kam vor, dass | |
| Schlepper Flüchtlinge ausraubten oder an die Grenzpolizei verrieten. | |
| ## Niemand zum Bestechen | |
| Einige wurden selbst verraten, verhaftet und exekutiert, als die Deutschen | |
| 1942 Restfrankreich besetzten. Die Historikerin Emilienne Eychenne nennt | |
| über hundert solcher Fälle. Die meisten aber bestritten mit ihrer | |
| klandestinen Tätigkeit einfach ihren Lebensunterhalt. | |
| Das „schmutzige Metier“ der gewerbsmäßigen Menschenschmuggler, von dem der | |
| Schweizer Bundesrat so abwertend sprach, lebte auch von der Abwesenheit der | |
| moralisch Reineren an dem Ort, an dem sie gebraucht wurden. Für die | |
| Geretteten war es ein Glück, dass es Menschen gab, die, wenn auch nur gegen | |
| Bezahlung, das taten, was sie tun sollten. | |
| Die Sonabends aus Brüssel fanden im entscheidenden Moment niemanden, der | |
| Hilfe für Geld anbot, keinen Beamten, den sie bestechen konnten. Als sie | |
| sich als Flüchtlinge registrieren lassen wollten, trafen sie auf einen | |
| korrekten Polizeioffizier, der sie zurück nach Frankreich abschieben ließ. | |
| Dort fielen sie in die Hände der deutschen Grenzpolizei. | |
| Am 24. August wurden die Eltern vom Durchgangslager Drancy bei Paris nach | |
| Auschwitz deportiert. Frau Sonabend wurde sofort nach der Ankunft vergast, | |
| ihr Mann ein paar Tage später. Die beiden Kinder überlebten in Frankreich. | |
| 1 Jul 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Eberhard Hübner | |
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