| # taz.de -- Buch über NS-verfolgte Intellektuelle: Ausweg aus Europa | |
| > Viele deutsche Intellektuelle flüchteten vor den Nazis nach Frankreich. | |
| > Davon erzählt der Autor Uwe Wittstock in seinem neuen Buch. | |
| Bild: Hoffnung Marseille: der letzte nicht von den NS-Besatzern kontrollierte �… | |
| Nichts von dem, was er schildere, so führt Uwe Wittstock im Vorwort zu | |
| seinem jüngst erschienen Buch „Marseille 1940“ aus, sei erfunden. „Alles | |
| ist belegt.“ Wovon er daraufhin berichtet, ist eine der größten | |
| Fluchtbewegungen in der jüngeren Geschichte Europas. Im Mai 1940 war die | |
| deutsche Wehrmacht in Frankreich eingefallen und hatte dessen Truppen | |
| nahezu überrannt. | |
| Nach der darauffolgenden Zweiteilung des Landes im Waffenstillstand von | |
| Compiègne versuchten unzählige Menschen panisch die Demarkationslinie in | |
| den noch unbesetzten Süden zu überqueren und so der drohenden Verfolgung | |
| durch das nationalsozialistische Deutschland zu entgehen. Als einziger der | |
| unmittelbaren Kontrolle durch die Besatzer noch entzogene Überseehafen | |
| verwandelte sich Marseille für viele von ihnen in den letzten | |
| Hoffnungsschimmer auf einen rettenden Ausweg aus Europa. | |
| Zur Flucht gezwungen sahen sich damals auch zahlreiche Literatinnen und | |
| Schriftsteller, Künstlerinnen und Intellektuelle aus dem deutschsprachigen | |
| Raum, die aufgrund ihrer jüdischen Herkunft oder politischen Tätigkeit | |
| bereits in den Jahren ab 1933 ins französische Exil gegangen waren. | |
| Ihnen gilt Wittstocks besonderes Interesse. In atmosphärisch dichten | |
| Miniaturen folgt er zahlreichen einflussreichen wie bisweilen weniger | |
| bekannten Protagonisten des damaligen Geisteslebens auf ihrem strapaziösen | |
| Weg durch Frankreich. | |
| ## Arendt, die Manns, Feuchtwanger | |
| [1][So begleitet er unter anderem Hannah Arendt] und die gleichsam um ihre | |
| Kinder wie um ein Manuskript besorgte Anna Seghers durch Paris oder | |
| skizziert das von Sorge und Animosität durchzogene Verhältnis zwischen dem | |
| bereits nach Nordamerika entkommenen Thomas Mann zu seinem Bruder Heinrich | |
| und dessen zweiter Frau Nelly. | |
| Er schildert die desaströsen Bedingungen, denen sich Lion Feuchtwanger oder | |
| Alfred Kantorowicz in französischen Internierungslagern ausgesetzt sahen, | |
| und kontrastiert sie mit dem oft vergeblichen Versuch der Eheleute Franz | |
| und Alma Mahler-Werfel, noch auf ihrer Odyssee ein gewisses Maß an Luxus zu | |
| bewahren. | |
| Fluchtpunkt all jener Schicksale ist Marseille. Dort laufen die quer durch | |
| Frankreich und Europa führenden Linien schließlich bei Varian Fry zusammen. | |
| Fast mehr noch als die Stadt bildet [2][Fry das eigentliche Zentrum] des | |
| Buchs. Der vormalige Journalist koordinierte von Marseille aus die Arbeit | |
| des zuvor mit hochrangiger Unterstützung in den Vereinigten Staaten | |
| gegründeten Emergency Rescue Committee. | |
| Die Arbeit des Komitees zielte dezidiert darauf, namhafte europäische | |
| Intellektuelle durch Emigration nach Amerika vor dem Zugriff der | |
| Nationalsozialisten zu retten. Obgleich es Fry mit einigen Unterstützern | |
| wie Hans und Lisa Fittko gelang, über die Monate Hunderten von Verfolgten | |
| die Flucht aus Marseille über den Atlantik zu ermöglichen, blieb ihr | |
| Bemühen in anderen Fällen vergeblich. Zum tragischen Emblem dafür [3][wurde | |
| der Tod Walter Benjamins Ende September 1940 in Portbou]. | |
| ## Ein Mosaik zusammensetzen | |
| Aus seinen chronologisch angeordneten, geografisch und personell jedoch | |
| stets changierenden Vignetten setzt Wittstock nach und nach ein immer | |
| dichter werdendes Mosaik zusammen. Dabei gelingt es ihm durchaus, einen | |
| Eindruck der zwischen allseitiger Angst und Orientierungslosigkeit, dem | |
| Verfall früherer Gewissheiten und drohender Vergeblichkeit sowie der immer | |
| wieder von neuem drängenden Hoffnung zerrissenen Atmosphäre zu vermitteln. | |
| Wohlwollende Leser mag das an Jean Malaquais’ facettenreichen Roman „Planet | |
| ohne Visum“ von 1947 erinnern. Denn tatsächlich liest sich das Buch nicht | |
| zuletzt durch die Verwendung des historischen Präsens und die – offenbar | |
| aus den Quellen entnommenen – Konversationen in direkter Rede über weite | |
| Strecken wie ein Abenteuerroman. | |
| Ein Eindruck, der sich durch bisweilen fehlende Distanz gegenüber den | |
| Protagonisten und wiederkehrende, boulevardeske Schilderung aus ihrem | |
| Liebes- und Privatleben noch verstärkt. Ob das dem Anspruch eines Sachbuchs | |
| zu diesem Gegenstand angemessen ist, sei dahingestellt. | |
| ## Heikler Stoff | |
| Schwerer wiegt indessen etwas anderes. Seine detailgesättigten | |
| Schilderungen schöpft Wittstock vornehmlich aus Briefen, | |
| Tagebuchaufzeichnungen und Autobiografien seiner Protagonisten. Abgesehen | |
| vom angehängten Literaturverzeichnis liefert er jedoch keine direkten | |
| Nachweise. So werden längere, aus den Selbstzeugnissen entnommene Episoden | |
| wie historische Gewissheiten präsentiert. Freilich sind viele von ihnen | |
| durchaus plausibel. | |
| Doch ist auch Wittstock bewusst, wie dem Nachwort zu entnehmen ist, dass | |
| Erinnerungen „ein heikler Stoff“ sind. Sie sind, so müsste man hinzufügen, | |
| keinesfalls gesichertes Wissen, sondern immer lückenhaft, brüchig und in | |
| eine spezifische Überlieferungsgeschichte eingepasst. Wo nicht einmal klar | |
| ist, auf wen sie zurückgehen, wird es schwierig. | |
| Darüber hinaus lässt das Buch manche Frage unbeantwortet. Warum sich | |
| Wittstock nahezu ausschließlich auf deutschsprachige Intellektuelle in | |
| seiner Darstellung beschränkt, bleibt offen. Zumal die rekonstruierten | |
| Schicksale, so der Anspruch des Buchs, stellvertretend für alle jene | |
| unbekannten Flüchtlinge stehen sollen, deren Geschichte nicht überliefert | |
| ist. | |
| Nur stellt sich die Frage, ob die Erfahrungen der mehrheitlich mittellosen | |
| Emigranten sich tatsächlich in den Lebenswegen und Erinnerungen von | |
| bisweilen weltberühmten Literaten spiegeln, die unter nicht unerheblichem | |
| Aufwand und gezielt gerettet werden sollten. | |
| 9 Mar 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Lukas Böckmann | |
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