# taz.de -- Netflix-Serie „Transatlantic“: Feuchter Traum der Amis | |
> Die Historienserie „Transatlantic“ erzählt von Fluchthelfern in Marseille | |
> 1940/41. Die Inszenierung zeigt die frankophile Obsession der Amerikaner. | |
Bild: In Feierstimmung: Max Ernst (Alexander Fehling, l.)und Peggy Guggenheim (… | |
Paris ist von den Deutschen besetzt, deutsche Exilanten werden von den | |
französischen Kollaborateuren ausgeliefert. Die Intellektuellen versammeln | |
sich, ihre Manuskripte im Gepäck, in Marseille. Sie hoffen von dort aus, | |
ihren Verfolgern mit einem der auslaufenden Schiffe zu entkommen. Die | |
beschwerliche Route zu Fuß über die Pyrenäen ist nur die zweite Wahl. | |
Es ist das Jahr 2018. Auf den Straßen von Marseille fahren moderne Autos, | |
die Polizisten sehen aus, wie man sie aus den Fernsehbildern vom Kampf | |
gegen den Terror kennt. Als Deutschlands aktuell [1][spannendster Regisseur | |
Christian Petzold] vor fünf Jahren Anna Seghers’ „Transit“, verfilmte, | |
verlegte er die Handlung seines Lieblingsromans kurzerhand in die | |
Gegenwart. Er habe keine Lust auf historische Filme, um die Vergangenheit | |
zu erzählen, müsse man sie vergegenwärtigen, ließ er sich zitieren. | |
Wie der Film, den Christian Petzold auf keinen Fall machen wollte, | |
aussieht, kann man sich aktuell auf Netflix anschauen, in sieben Episoden | |
„Transatlantic“. Hier wurde noch einmal ein bestimmt nicht billiger | |
visueller Aufwand betrieben, das Marseille der Jahre 1940/41 | |
wiederauferstehen zu lassen. Zum Beispiel dieses rauschende Fest in der auf | |
malerische Weise leicht verwahrlosten Villa, Marc Chagall und Max Ernst | |
unter den Gästen. Ein feuchter Traum, wie ihn wohl nur Amerikaner von | |
Frankreich haben können. | |
[2][Woody Allen hat über diese frankophile Obsession der Amerikaner den | |
Film „Midnight in Paris“ gedreht] – Nostalgie, aber ironisch gebrochen. | |
Gertrude Stein und Peggy Guggenheim in Paris. | |
## Inhaltlich ungebrochen | |
Auf besagtem Fest in „Transatlantic“ dürfen wir nun Zeuge sein, wie Peggy | |
Guggenheim Max Ernst kennenlernt – von dem wir wissen, dass sie ihn | |
heiraten wird nach der gemeinsamen Flucht. Wir sind also Zeugen eines | |
historischen Moments. Dass Peggy Guggenheims Mäzenatentum aus heutiger | |
Sicht ein Geschmäckle hat, weil viele der Künstler ihr ihre Werke unter | |
Umständen überließen, zu Schleuderpreisen, die man heute mit dem Adjektiv | |
verfolgungsbedingt kennzeichnet – geschenkt. | |
Auch Walter Benjamin hat natürlich einen Auftritt: „Ich kann nicht fort. | |
Mein Buch ist noch nicht fertig und ich muss schreiben.“ Für Benjamin ist | |
es bekanntlich nicht so gut ausgegangen wie für Ernst. Im spanischen | |
Grenzort Portbou erinnert heute eine Skulptur an seinen Suizid ebenda. Und | |
so ist es dieses historische Wissen, das der Schauspieler Moritz Bleibtreu | |
mit jedem gestammelten Drehbuchsatz mitspielen muss, wenn er sich in der | |
Rolle des damals gerade mal 48-jährigen Benjamin mit letzter Kraft über die | |
Pyrenäen schleppt. | |
„Ihr Leben, das ist mehr wert als ein verdammtes Manuskript, verstehen | |
Sie!“, hat ihm Albert O. Hirschman (Lucas Englander) noch einzubläuen | |
versucht – vergeblich. Der später an den Universitäten Yale, Columbia und | |
Harvard lehrende Wirtschaftswissenschaftler Hirschman, der Journalist | |
Varian Fry (Cory Michael Smith), die Erbin Mary Jayne Gold (Gillian Jacobs) | |
und die Widerstandskämpferin Lisa Fittko (Deleila Piasko) waren maßgebliche | |
Figuren des Emergency Rescue Committee, jener Organisation, der es | |
tatsächlich gelang, mehr als 2.000 Menschen die Flucht vor den Nazis und | |
die Ausreise in die USA zu ermöglichen, unter zum Teil abenteuerlichen | |
Umständen und gegen die Widerstände sowohl des Vichy-Regimes als auch von | |
US-Diplomaten. | |
Toller Stoff, alles drin. Man kann gut nachvollziehen, dass es der | |
Showrunnerin von „Deutschland 83/86/89“, Anna Winger, in den Fingern | |
gejuckt hat, das umzusetzen. Das so umzusetzen – ziemlich überdreht, aber | |
kein bisschen gebrochen: mit der ganzen Opulenz in Sachen Ausstattung; mit | |
all den Künstlerpersönlichkeiten als wandelnden Klischees; mit Hirschman | |
als Draufgänger mit wissenschaftlichem Background à la Indiana Jones, sogar | |
mit dessen Lederjacke, nur ohne Peitsche. Man kann genauso gut | |
nachvollziehen, dass Christian Petzold genau das nicht machen wollte. | |
11 Apr 2023 | |
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## AUTOREN | |
Jens Müller | |
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