| # taz.de -- Studenten rüsten Rettungsboot aus: „Nicht hinnehmbar, dass Mensc… | |
| > Weil sie die EU-Flüchtlingspolitik falsch fanden, gründeten Studenten den | |
| > Verein „Jugend rettet“ und schicken ein Boot von Emden aufs Mittelmeer | |
| Bild: Inzwischen auf dem Weg nach Malta: Schiff des Vereins „Jugend rettet“. | |
| Die ehemalige Kriegsschiffschmiede der Emder Nordseewerke ist eine | |
| Industriebrache, verlassen und unheimlich. Und doch lag bis vergangenen | |
| Donnerstag die Hoffnung hier vor Anker. Oder genauer: die „Iuventa“, nach | |
| der antik-römischen Göttin der Jugend. Der ehemalige Fischfänger ist fit | |
| gemacht worden für den Einsatz auf dem Mittelmeer – als Seenotretter für | |
| Flüchtlinge. Dahinter steht [1][der Verein „Jugend rettet“ (JR), der sich | |
| ausdrücklich der humanitären Hilfe verschrieben hat – „weil wir den Status | |
| quo der Europäischen Asylpolitik als menschenverachtend empfinden“]. | |
| Zwei Tage vor dem Auslaufen in Richtung Malta gleicht das Schiff einem | |
| Chaos: Hier tropft noch Wasser durch, da liegen Kabel, dort hängt ein Mann | |
| am Mast und fummelt an irgendwelchen Drähten und Tampen. Zu all den | |
| verrotteten Rohren und maroden Maschinen der ehemaligen Werft passt das | |
| Schiff beinahe natürlich. | |
| „Hier müsste man einen Endzeitfilm drehen“, sagt Christian. Er ist mit | |
| allen hier per Du und kutschiert Besucher und Gäste, wenn die die | |
| Sicherheitskontrolle am Eingang passiert haben, über das unübersichtliche | |
| Gelände. Zwei Arbeiter, die auf dem Vorschiff entspannt in Liegestühlen | |
| liegen, signalisieren aber: Hier geht es nicht um Endzeit – hier ist | |
| vielmehr Zukunft angesagt. „Ich bin nur der Fahrer“, sagt Christian und | |
| lacht. Die jungen Leute hätten ja alle keinen Führerschein. | |
| Hunderte Rettungswesten stapeln sich vor dem Schiff am Kai. Der Sprung aufs | |
| Deck ist etwas halsbrecherisch, auch an Bord des mehr als fünf Jahrzehnte | |
| alten Schiffs liegen überall Kasten, Kisten und Taue herum. Wie | |
| Heinzelmännchen huschen Menschen in fleckigen Klamotten übers Deck. „Hallo, | |
| ich bin der Arne.“ Ein jugendlich wirkender Mann reicht seine ölige Hand. | |
| „Unser Bauleiter und Kapitän“, erklärt Lena Waldhoff, 2. Vorsitzende und | |
| Teil des „Kernteams“ von JR. | |
| ## „Die Kombüse ist ordentlich“ | |
| Im Frachtraum des ehemaligen Fischtrawlers ist kein Durchkommen: Hier ist | |
| das Bordhospital eingerichtet, gespendet und ausgestattet [2][von der | |
| Hilfsorganisation Action Medeor], der „Notapotheke der Welt“. Überall | |
| versperren Arzneikartons und Geräte, aber auch Berge von Decken und | |
| Kleidung den Weg. In einer freien Ecke beugen sich zwei junge Leute über | |
| einen Laptop. Ein knappes „Hallo“, dann friemeln sie weiter an einer Lösung | |
| für irgendein Problem. „Aber die Kombüse ist ordentlich“, sagt Lena | |
| Waldhoff und grinst. Die 25-Jährige studiert in Berlin und betreut für den | |
| Verein – und zusammen mit den externen Experten – den Umbau der „Iuventa�… | |
| hier in Emden. | |
| „Es sieht noch nicht so aus“, sagt sie, aber dass man wie geplant auslaufen | |
| werde, das „ist sicher“. In Malte werde das Schiff weiter für den Einsatz | |
| ausgerüstet, dann „beginnt die Seenotrettung im Einsatzgebiet zwischen | |
| Libyen und Italien“, sagt sie. Ständiger Kontakt zu den lokalen Behörden | |
| sowie dem „Maritime Rescure Center“ in Rom sollen sicherstellen, dass | |
| Flüchtlinge, die an Bord der „Iuventa“ an Land gelangen, dort auch | |
| unterkommen. | |
| Der 2015 in Berlin gegründete Verein ist nicht die einzige | |
| Privatinitiative, die sich gegen die politische Agonie der Europäischen | |
| Union in der Flüchtlingsfrage wendet. Aber „Jugend rettet“ ist die einzige | |
| Initiative von Jugendlichen, die ausdrücklich auf humanitäres Engagement | |
| setzt. „Jeder Mensch hat das Recht, vor dem Ertrinken gerettet zu werden“, | |
| so begründet JR-Gründer Jakob Schoen in der dann tatsächlich ordentlichen | |
| Kombüse die Ziele. | |
| Diskret drückt er einen Anruf auf dem Mobiltelefon weg und zieht sich ein | |
| Stück Pizza aus einem ganzen Berg, der auf dem Tisch bereitsteht, für alle | |
| an Bord, als Biss zwischendurch. Noch wohnen die Crew und die Bauhelfer im | |
| Emder Seemannsheim. Und an Tagen, die schon mal von morgens acht bis nachts | |
| um elf dauern, knurrt öfter mal der Magen. | |
| Vergangenes Jahr wohnte Jakob Schoen, 20, in Berlin mit seiner Kommilitonin | |
| Lena Waldhoff in einer WG. Sie arbeitete ehrenamtlich in einer | |
| Flüchtlingsunterkunft und war begeistert von seiner Idee, in Seenot | |
| geratene Flüchtlinge zu retten. „2015 sind mehr als 800 Menschen im | |
| Mittelmeer ertrunken; dann die Havarie eines Schlauchbootes vor Lampedusa | |
| mit 350 Toten, Männer, Frauen und Kinder“, sagt sie am Kombüsentisch der | |
| „Iuventa“. | |
| Gerade mal sechs Wochen lang, ergänzt Schoen, seien zwei deutsche | |
| Marineschiffe als Seenotretter vor Ort gewesen. „Danach wurde der Einsatz | |
| umdefiniert, um Schleuserschiffe zu zerstören. Das hat aber nicht geholfen. | |
| Wir leben in Europa in einer hoch zivilisierten und technisierten Welt. Da | |
| ist es doch nicht hinnehmbar, wenn hunderte von Menschen auf der Flucht | |
| ertrinken. Man könnte ja denken, dies wäre politisch gewollt.“ | |
| Plötzlich ertönt ein lauter Knall, dann zahlreiche Stimmen, auch Lachen. | |
| „Alles okay“, sagt ein Helfer, der sich rasch ein Stück Pizza holen kommt | |
| und wieder verschwindet. Lena Waldhoff und Jakob Schoen sitzen eingezwängt | |
| auf den engen Bänken, auffallend nüchtern sachlich – nicht mal ein Hauch | |
| von Abenteuer oder auch nur Ausgeflipptheit. „Wir wollen in Europa ein | |
| Zeichen setzen“, sagt Waldhoff beinahe schüchtern. | |
| „Wir wollen als Jugendliche klarmachen, so geht das nicht. Wir fordern von | |
| Deutschland und der EU: Macht was in der europäischen Politik!“ Was beiden | |
| wichtig ist: Der Verein sei dabei völlig unabhängig und weder | |
| parteipolitisch noch beispielsweise konfessionell gebunden. | |
| ## Unterstützung auch aus dem Fernsehen | |
| Mit dem Verein haben die beiden dann einfach selbst „was gemacht“. Beinahe | |
| naiv, erklärt Schoen, hätten sie „überall gefragt, wie das klappen könnte, | |
| ein Schiff für die Seenotrettung im Mittelmeer auszurüsten“. Tatsächlich | |
| stießen sie immer wieder auf großes Interesse. Schwer zu sagen, was „die | |
| Erwachsenen“ mehr beeindruckte: die Ideale der Jugendlichen – oder deren | |
| professionelles Vorgehen. „Nachdem im Oktober 2015 unser Projekt über die | |
| sozialen Medien öffentlich wurde, bekamen wir sofort viele Unterstützer“, | |
| erinnert sich Lena Waldhoff. | |
| Inzwischen unterstützen Anwälte und Reedereien, aber auch | |
| Hilfsorganisationen das Projekt. Die deutsche Filmakademie stellte dem | |
| „Kernteam“ ein Büro, diverse Prominente warben für die Aktivitäten des | |
| Vereins: Auf der Homepage des Vereins finden sich bis heute aufmunternde, | |
| auch bewundernde Testimonials von Schauspielern wie Maria Furtwängler und | |
| Armin Rohde. „In der Akademie“, sagt Jakob Schoen schmunzelnd, „saßen wir | |
| ja an der Quelle.“ | |
| Ab Oktober ging es ziemlich schnell: Erste Spenden wurden eingeworben, und | |
| mit Harald Zindler und Gijs Thieme, Mitgründer von Greenpeace Deutschland, | |
| kamen erste einschlägig qualifizierte Berater an Bord. Auch Nautiker wurden | |
| ins Kernteam aufgenommen. Eine Reederei aus Leer stellte kostenlos einen | |
| Gutachter zur Verfügung, der zum Kauf angebotene Schiffe prüfte. | |
| Schließlich erwarb der Verein die 33 Meter lange „Alk Explorer“, mit der | |
| zuletzt Bohrplattformen vor Island bewacht wurden – die heutige „Iuventa“. | |
| Wie viele es sind, die nun auf den letzten Metern mit anpacken? Überall | |
| wird gehämmert, gezogen, gestrichen. „Es sieht nicht so aus“, sagt Lena | |
| Wadhoff, „aber wir liegen voll im Zeitplan. Die Kühlschränke sind auf jeden | |
| schon gut gefüllt.“ | |
| „Wir haben in 38 Städten in Europa 44 BotschafterInnen, die dort wieder | |
| eigene Unterstützernetze aufbauen“, auch das erzählt sie. „Wir können | |
| solche grundsätzlichen Probleme nur durch Kooperation in ganz Europa | |
| lösen“, sagt Jakob Schoen. | |
| 40.000 Euro müssen jeden Monat beschafft und eingeworben werden, um die | |
| laufenden Kosten zu tragen. „Alle arbeiten ehrenamtlich. Auch die Crew des | |
| Schiffes“, sagt Pauline Schmidt, zuständig für Presse- und Öffentlichkeit. | |
| „Die ersten Monate sind finanziell abgesichert, für den Rest müssen wir | |
| weiter Geld sammeln.“ Für den eigentlichen Rettungseinsatz brauche man | |
| weiteres Fachpersonal: Nautiker, Ärzte, Seeleute und Rettungssanitäter. | |
| „Wir haben schon 200 Bewerbungen“, sagt Lena Waldhoff. | |
| Die Jugendlichen selbst fahren übrigens nicht mit nach Malta oder gar | |
| weiter mit aufs Mittelmeer. „Wir wollen, dass das Projekt professionell | |
| durchgeführt wird“, sagt Jakob Schoen. „Wir beweihräuchern uns nicht | |
| selbst, wir machen unsere Arbeit und überlassen Nautik und Rettungsarbeit | |
| den Profis. Wir erarbeiten ein europäisches Netzwerk der Kommunikation | |
| unter Jugendlichen und schaffen so vielleicht ein Modell, wie künftig | |
| Probleme gemeinsam gelöst werden können.“ | |
| Die „Iuventa“ scheint in vielen guten Händen. Die Pizza ist inzwischen | |
| alle, und wie von selbst ist die Kombüse „klar“. Am Oberdeck streicht noch | |
| ein junger Mann unermüdlich Farbe auf die Außenwand. | |
| 3 Jul 2016 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.jugendrettet.org/europe | |
| [2] https://medeor.de/de/ | |
| ## AUTOREN | |
| Thomas Schumacher | |
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