Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Umstrittener EU-Türkei-Flüchtlingsdeal: Der vertrackte Pakt
> Trotz Erdoğans Vorgehen hält Merkel am Flüchtlingsdeal fest. Die
> Opposition ist empört. Auch Kritik aus der Union wird laut.
Bild: Die Kanzlerin auf Flüchtlingslager-Besuch in Nizip (Türkei) im April 20…
Berlin taz | Angela Merkel schaut zu. Es ist Mittwochabend, vor acht
Stunden hat die Türkei allen Wissenschaftlern die Ausreise verboten, vor
einer Stunde hat Belgien den türkischen Botschafter einbestellt, in drei
Stunden wird Recep Tayyip Erdoğan den Ausnahmezustand ausrufen, aber Angela
Merkel steht im Kanzleramt und schaut zu.
Pressekonferenz im ersten Stock, die britische Premierministerin ist zu
Gast. „Kann die Türkei Partner eines Flüchtlingspakts bleiben?“, fragt ei…
Reporterin. Merkel sortiert ihre Unterlagen, dann nickt sie kurz und sagt:
„Wir werden das natürlich sehr intensiv beobachten.“
In Ankara wackelt die Demokratie, der Präsident setzt Grundrechte außer
Kraft, die AKP will die Todesstrafe einführen. Kann Europa dabei wirklich
zusehen? Kann es am Flüchtlingsabkommen mit der Türkei festhalten? Kann es
darauf vertrauen, dass sich Erdoğan noch an den Vertrag gebunden fühlt?
Die Opposition meint, nein. Die Kanzlerin meint, ja. Die Regierungsparteien
murren.
Grenzschließung gegen Geld, Visumfreiheit und schnellere
Beitrittsverhandlungen – so kann man umschreiben, was am 18. März in
Brüssel ausgehandelt wurde. Die EU zahlt Ankara sechs Milliarden Euro für
die Versorgung von Flüchtlingen und nimmt eine nennenswerte Anzahl von
Syrern aus der Türkei auf. Im Gegenzug nimmt Erdoğans Küstenwache alle
Menschen zurück, die auf die griechischen Inseln fliehen, aber dort kein
Asyl erhalten.
## Weniger Flüchtlinge in Deutschland
Je nach Perspektive funktioniert das bisher mehr oder weniger gut. Weil die
Asylverfahren in Griechenland stocken, wurden bislang nur 468 Flüchtlinge
in die Türkei zurückgebracht. Umgekehrt hat die EU gerade mal 849 Menschen
von dort aufgenommen. Aber: In der Ägäis ertrinken weniger Menschen als
zuvor. In Deutschland kommen kaum noch Flüchtlinge an. Die Umfragewerte der
AfD steigen nicht mehr. Kein guter Zeitpunkt, um das Abkommen platzen zu
lassen.
Claudia Roth ist das egal. Am Morgen nach Merkels Pressekonferenz klingt
die Grünen-Politikerin müde. Nachdem Erdoğan den Ausnahmezustand verkündet
hatte, konnte sie kaum schlafen. Roth hat Freunde in der Türkei und sorgt
sich.
„Die Demokratie wird weggesäubert“, sagt sie mit belegter Stimme. Wer nicht
bedingungslos auf Erdoğans Seite stehe, sei in Gefahr. Die Bilder der
letzten Woche, die Gedemütigten und Geschlagenen, erinnern Roth an
„schlimmste Diktaturen“.
Dazu habe Merkel beigetragen. Nicht als Beobachterin auf dem Ausguck quasi,
sondern mit einer Hand am Steuer: Mit dem Türkeideal habe sie Erdoğan
gestärkt. „Wäre es der EU wirklich um die Menschen, die Geflüchteten,
gegangen, hätte man schon lange sagen müssen: Ja, wir nehmen als
Gemeinschaft mehr Flüchtlinge auf. Stattdessen gibt es jetzt diesen Deal.“
Und nun? „Klare Kante“, antwortet Roth. „Wenn die Bundesregierung Erdoğan
schalten und walten lässt, unterstützt sie ihn – und seine Anhänger in
unserem Land.“ Sie klingt jetzt nicht mehr müde. Sie klingt wütend.
## Auch Merkels Leute rücken von ihr ab
Nun könnte es der Kanzlerin egal sein, wenn sich Claudia Roth aufregt. Dass
nach dem Putsch in der Türkei auch Merkels Leute von ihr abrücken, muss ihr
aber Sorgen bereiten.
Als am Montagmittag in München der Parteivorstand der CSU zusammenkommt,
steht die Türkei auf der Tagesordnung. Die Diskussion dauert wenige
Minuten: Die Parteispitze ist sich einig, dass die EU sowohl die
Verhandlungen über den Beitritt der Türkei als auch über die Visumfrage
stoppen muss. So berichtet es der Europaabgeordnete Markus Ferber.
„Die Türkei hat im jetzigen Zustand Anspruch auf alles Mögliche, aber nicht
auf die Visaliberalisierung“, sagt er. Objektiv gesehen, stimmt das: EU und
Türkei einigten sich vor drei Jahren auf 72 Bedingungen, die Ankara
erfüllen muss, bevor Türken ohne Visum nach Europa dürfen – darunter
Meinungsfreiheit und faire Gerichtsverfahren. Nach dem Putschversuch
erfüllt die Türkei diese Bedingungen noch weniger als zuvor. CSU-Mann
Ferber setzt nun darauf, dass das EU-Parlament die Verhandlungen nach der
Sommerpause platzen lässt.
## Rote Linie Todesstrafe
Dass der CSU eine Annäherung an die Türkei widerstrebt, ist nicht neu.
Erdoğans Repressionen treiben ihr aber frische Unterstützer zu. Selbst
Sozialdemokraten wie der Europapolitiker Axel Schäfer reden davon, die
Beitrittsgespräche einzufrieren. Das einst beliebte Argument, die EU könne
durch Verhandlungen auf die Verhältnisse in der Türkei einwirken, scheint
nach dieser Woche widerlegt.
Die Kanzlerin weiß das. Drei Tage nach dem gescheiterten Putsch verlässt
sie für einen Moment doch ihre Position als Beobachterin und handelt: Sie
lässt ihren Sprecher eine rote Linie verkünden. Die Verhaftungen, die
Entlassungen, die Gewalt – geschenkt. All das bereitet ihr laut offizieller
Sprachregelung höchstens Sorgen. Den nächsten Schritt soll sich Erdoğan
aber gefälligst verkneifen.
„Ein Land, das die Todesstrafe hat, kann nicht Mitglied der EU sein“, sagt
Steffen Seibert im Saal der Bundespressekonferenz. „Die Einführung der
Todesstrafe würde folglich das Ende der Beitrittsverhandlungen bedeuten.“
## Wirken die EU-Druckmittel?
Ein Pokerspiel. Es könnte klappen, wie 2004. Damals drohte die EU der
Türkei und ihrem jungen Präsidenten Erdoğan: Beitrittsverhandlungen gibt es
nur, wenn ihr die Todesstrafe abschafft. Das wirkte.
Es könnte aber auch schiefgehen. Weil das Druckmittel nicht mehr zieht,
weil Erdoğan neue Prioritäten hat, weil er die fruchtlosen EU-Verhandlungen
nicht mehr braucht, um seine Macht auszubauen. Er könnte die Drohung also
ignorieren und die Todesstrafe einführen. Die Verhandlungen wären am Ende,
Europas stärkstes Druckmittel wäre verloren, das Flüchtlingsabkommen in
Gefahr.
Wörtlich hatten EU und Türkei unter Paragraf fünf abgemacht, „den Fahrplan
zur Visaliberalisierung“ zu beschleunigen. Unter Paragraph acht hatten sie
die „Neubelebung des Beitrittsprozesses“ vereinbart. Wird beides hinfällig,
bleiben der Türkei nur die sechs Milliarden Euro. Reicht ihr das, um am
Abkommen festzuhalten?
Die EU muss sich auf den Ernstfall einstellen: freie Fahrt für Flüchtlinge
in der Ägäis, überfüllte Lager in Griechenland, geschlossene Grenzen auf
dem Balkan. Nach dem Putschversuch könnte die Fluchtkrise nach Europa
zurückkommen.
## Alle Verbindungen kappen?
Es gibt einen Mann in Berlin, den das kaltlässt. In der Nähe des
Alexanderplatzes sitzt Stefan Liebich am Straßenrand. Neben ihm stehen ein
paar Menschen und halten Plakate in Kameras. Die Linkspartei präsentiert
die Kampagne zur Abgeordnetenhauswahl.
Im März war der Partei ihre Willkommenskultur auf die Füße gefallen, bei
der Wahl in Sachsen-Anhalt verlor sie ein Fünftel ihrer Wähler. Und wenn
die Flüchtlinge jetzt wieder in die EU drängen?
„Dann kommen sie eben, und wir werden die Auswirkungen der Krisen und
Bürgerkriege um uns herum wieder merken“, sagt Liebich. Er sitzt dabei so
entspannt, als ginge es um den Betriebsausflug des Auswärtigen
Ausschusses, dem Liebich im Bundestag angehört. „Für uns ist das keine
Drohung, sondern eine Herausforderung“, sagt er.
Für seine Partei ist alles klar: Flüchtlingsdeal kündigen,
Beitrittsverhandlungen stoppen, Bundeswehr aus der Türkei abziehen. Aber
wenn alle Verbindungen gekappt sind: Welche Mittel bleiben dann noch, um
auf die Türkei einzuwirken?
Liebich erzählt von politischem Druck in internationalen Gremien, in OSZE
und Uno, denen die Türkei angehört. Seine Vorstellungen bleiben vage, und
so klingt der Politiker wie ein Pfarrer, der Gottvertrauen predigt, wenn
wenig bleibt außer abwarten und zusehen. „Ich hoffe natürlich, dass sich
Erdoğan eines Besseren besinnt“, sagt er. „Aber außer durch die Kraft der
Worte kann man derzeit wenig tun.“
23 Jul 2016
## AUTOREN
Anna Lehmann
Anja Maier
Tobias Schulze
## TAGS
Schwerpunkt Flucht
Schwerpunkt Angela Merkel
EU-Türkei-Deal
Lesestück Recherche und Reportage
Griechenland
EU-Türkei-Deal
EU-Türkei-Deal
Militärputsch
Asylrecht
Schwerpunkt Flucht
Schwerpunkt Flucht
## ARTIKEL ZUM THEMA
Zukunft des Flüchtlingspakts: Griechische Regierung verlangt Plan B
Was, wenn die Türkei die Vereinbarung über den Umgang mit Flüchtlingen
platzen lässt? Die EU müsse sich für den Fall Gedanken machen, heißt es aus
Athen.
Flüchtlingsdeal mit der Türkei: Eskalation mit Ansage
Visumfreiheit als Streitpunkt. Die türkische Regierung droht der EU mit dem
Scheitern des Abkommens über die Rücknahme von Flüchtlingen.
Flüchtlingsdeal mit der EU: Türkei fordert baldige Visumfreiheit
Ankara macht Druck auf die EU, die Visumfreiheit für türkische Bürger
schnell umzusetzen. Wegen der Kölner Erdoğan-Demo wird der deutsche
Gesandte einbestellt.
Kommentar Flüchtlingsdeal EU-Türkei: Das Ende eines Prinzips
Der mit einem Milliardenbetrag erkaufte Flüchtlingsdeal fällt jetzt der
Kanzlerin auf die Füße. Denn mit Erdoğan darf man keine Geschäfte machen.
Debatte Geflüchtete in Europa: Asylrecht des Stärkeren
Nicht die Schutzbedürftigsten, sondern gesunde junge Männer haben die
besten Asylchancen. Wir brauchen ein neues System.
Kommentar Pushbacks von Flüchtlingen: Unter den Augen der EU
Frontex kann sich jetzt nicht mehr aus der Affäre ziehen, was die illegale
Abschiebung von Flüchtlingen betrifft. Und Deutschland auch nicht.
Abkommen der Türkei mit der EU: Flüchtlingsdeal auf Eis gelegt
Die Regierung in Ankara unterbricht die Rücknahme syrischer Flüchtlinge.
Erst müsse die visumfreie Einreise für Türken in die EU gelten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.