| # taz.de -- Seenotretter zu Bergung von Flüchtenden: „Ich wollte trotzdem vo… | |
| > Vor vier Jahren war der Therapeut Martin Kolek zum ersten Mal als | |
| > Seenotretter im Einsatz. Das Geschehen hat ihn nie wieder losgelassen. | |
| Bild: Am 27. Mai 2016 hält Martin Kolek vor der Küste Libyens plötzlich ein … | |
| taz: Herr Kolek, 2016 waren Sie zum ersten Mal als freiwilliger | |
| Seenotretter im Mittelmeer im Einsatz. Andere kehren nach solchen Missionen | |
| in ihren Alltag zurück. Ihnen hat die Frage, was mit den Geretteten | |
| geschehen ist, keine Ruhe gelassen. Warum? | |
| Martin Kolek: Wir haben damals Dutzende Menschen gerettet und viele Leichen | |
| geborgen. Es hieß, die Menschen, die wir versorgt und dann dem Militär | |
| übergeben haben, seien in Italien an Land gebracht worden. Aber Italien ist | |
| groß. Wo sind die hin? Das war die Frage, die ich mir gestellt habe. | |
| Warum wollten Sie das wissen? | |
| Ich wollte die nicht einfach ins Vergessen abgleiten lassen. Ich wollte | |
| verhindern, dass ihre Leben als „Flüchtlingskrise“ vermarktet werden. | |
| Was haben Sie genau getan? | |
| Ich habe bei Organisationen, die sich um Ankommende kümmern, um Auskünfte | |
| gebeten, aber es hieß: „Das geht nicht, wegen Datenschutz.“ Dann habe ich | |
| von einer mir unbekannten Frau aus Spanien eine Mail bekommen. Sie hatte in | |
| der Presse einen Bericht darüber gefunden, dass es eine Begräbnisfeier am | |
| 2. Juni 2016 in Armo, einem Gebirgsdorf in der Nähe von Reggio Calabria | |
| gab. Im August 2016 bin ich hingeflogen. Ich habe dort Leute angesprochen | |
| und die haben mir die Gräber von Mohamed und Maryan gezeigt. So hießen die | |
| beiden ertrunkenen Kleinkinder, deren Leichen wir drei Monate zuvor | |
| geborgen hatten. Das Grab sah aus wie ein umgedrehtes Bienennest, ein | |
| Erdhaufen. Später habe ich Angehörige der Toten gesucht, aber niemanden | |
| gefunden. | |
| Hat es Sie beruhigt, dass es überhaupt ein Grab gab? | |
| Ich war froh, dass sie nicht einfach irgendwo verscharrt worden waren. Man | |
| hatte die Leichen von insgesamt 40 Geflüchteten dorthin gebracht. Mir | |
| erschien es merkwürdig, dass die Gräber in diesem Dorf waren, und die | |
| Bewohner nun plötzlich etwas mit den Flüchtlingen zu tun hatten. Die | |
| Dorfbewohner, mit denen ich sprach, konnten sich an die Bestattung | |
| erinnern. Ich wollte die Menschen dort kennenlernen, habe Kontakte geknüpft | |
| mit AktivistInnen, zuerst mit einer Gruppe, die im Hafen von Reggio | |
| Calabria tätig war. Die AktivistInnen haben mich herumgefahren, ich konnte | |
| ein paar Überlebende ausmachen, die wir auf dem Schiff hatten. | |
| Haben Sie zu denen Kontakt gehalten? | |
| Ich habe dezenten Kontakt aufgenommen, ich wollte mich nicht aufdrängen. | |
| Aber ich habe eine Anfrage an den Bürgermeister des Dorfes gestellt, ob er | |
| Interesse daran hätte, dass mal Deutsche für einen Kulturaustausch kommen. | |
| Später kamen dann Anfragen aus Reggio, bei Veranstaltungen zu sprechen. Ich | |
| war fünf- oder sechsmal da, unter anderem beim Nationalkongress der | |
| italienischen Caritas. | |
| Was haben Sie dort gesagt? | |
| Ich sollte davon berichten, was auf dem Meer geschieht. Die Menschen in | |
| Italien wussten davon teils genauso wenig wie die Menschen in Deutschland. | |
| Ich habe beschrieben, was wir auf See gemacht haben, welche [1][Ethik es | |
| auf der „Sea-Watch“] gab. Ich habe gesagt, dass wir aufeinander achtgeben | |
| müssen, nicht nur auf dem Schiff, sondern überall, dass Solidarität wichtig | |
| ist, das war die Botschaft. | |
| In Italien hat die Rechte stark gegen die HelferInnen mobilisiert. Haben | |
| Sie bei Ihren Auftritten dort davon etwas mitbekommen? | |
| Nein, es gab nie Anfeindungen. Die Leute fanden das erst mal sehr richtig, | |
| was wir getan haben. Am Retten hat niemand Zweifel geäußert. Es ging um | |
| Kinder, um Familien. Da gibt es in Italien keine Fragen. | |
| Haben diese Vorträge Ihnen das Gefühl gegeben, die Fragen beantworten zu | |
| können, die Sie sich selber gestellt haben? | |
| Ich hatte immer das Gefühl, dass wir zu spät gekommen sind. Zu spät im Mai | |
| 2016 als AktivistInnen für die Menschen an der Unglücksstelle, aber auch zu | |
| spät als Bewegung, als Gesellschaft insgesamt, um diesen Zustand zu | |
| verhindern. Ich dachte: Nächstes Mal will ich pünktlich sein. 2018 habe ich | |
| mich dann wieder für eine Mission auf der „Sea-Watch 3“ gemeldet. Drei | |
| Wochen war ich auf Malta. Aber wir konnten nicht rausfahren. Die Behörden | |
| hatten das Schiff an die Kette gelegt. | |
| Das war im Juli 2018. In jenem Monat sind 157 Menschen im zentralen | |
| Mittelmeer ertrunken. | |
| Ja. Da war mir klar: Es ist das politische Ziel, [2][die NGOs lahmzulegen]. | |
| Ich hatte das nie mit dieser Wucht erwartet. Ich bin europafreundlich, | |
| humanistisch, ich bin mit der Menschenrechtscharta groß geworden, das galt | |
| für mich als unumstößlich, als Kern meiner kulturellen Identität. Dieser | |
| Teil wurde mir entzogen durch die Tatsache, dass das Schiff festgehalten | |
| werden kann und wir wussten: Die Menschen werden nicht gerettet. Ich wollte | |
| trotzdem vor Ort sein und bin 2019 noch mal mit einem Segelschiff vor | |
| Libyen gewesen. | |
| Die Zeit ab 2015, in der die Seenot-NGOs auf den Plan getreten sind, gilt | |
| manchen als große Stunde der Zivilgesellschaft, die viel erreicht hat im | |
| Kampf gegen das Sterben. Sehen Sie das auch so? | |
| Das praktische, solidarische Handeln ist ganz sicher viel stärker geworden. | |
| Objektiv wissen wir heute viel mehr über das, was im Mittelmeer geschieht, | |
| entgegen der staatlichen Versuche, das humanitäre Monitoring der | |
| Zivilgesellschaft zu verhindern. Gleichzeitig wird die immer weiter gehende | |
| Verletzung international abgesprochener Menschenrechtsstandards | |
| demokratisch kaschiert. In dieser Hinsicht ist es schlimmer geworden. Es | |
| wird mittlerweile mit offenen Karten gespielt, in Parlamenten wird | |
| entschieden, dass unsere Steuern ausgegeben werden, um Kräfte zu bezahlen, | |
| die nicht retten. | |
| Was heißt das für die freiwillige RetterInnen wie Sie? | |
| Die können sich nicht mehr sicher sein, ob sie an Land gehen dürfen. Wenn | |
| ich heute das tote Baby bergen würde, könnte ich nicht mal mehr die Leiche | |
| irgendwo abgeben. Ich habe beim Bundestag eine Petition eingereicht. Wenn | |
| die EU-Staaten schon nicht die Lebenden nehmen, dann sollen sie wenigstens | |
| die Leichen nehmen, damit sie ein würdiges Begräbnis bekommen. Ich wollte, | |
| dass die geborgenen Leichen von MigrantInnen im Mittelmeer [3][nach einer | |
| Art Königsteiner Schlüssel] – also dem System der Flüchtlingsverteilung auf | |
| die deutschen Kommunen – in Europa verteilt werden. Aber der Ausschuss hat | |
| die Petition nicht angenommen. | |
| Sie haben in Deutschland ein Buch herausgegeben? | |
| Ja, das Buch heißt „Neuland“, da habe ich 22 Menschen zusammen gebracht, | |
| die sich mit dem Thema beschäftigt haben. Und ich habe dem Stadtrat hier in | |
| meiner Heimatstadt Delbrück geschrieben. Die Stadt solle sich wenigstens | |
| symbolisch zum sicheren Hafen erklären und sich von der Beteiligung an | |
| menschenrechtsverletzenden Handlungen distanzieren. Aber es hieß, die | |
| Kommune habe da keine Zuständigkeit. | |
| Wie oft denken Sie an Ihren damaligen Einsatz? | |
| Ich arbeite als Traumatherapeut und es landen bis heute immer Menschen bei | |
| mir, die über das Mittelmeer gekommen sind. Ihre Geschichten ähneln sich. | |
| Insofern ist das Teil meines Alltags geworden. | |
| Auf dem Friedhof in Armo entsteht ein Mahnmal. Wie wird das aussehen? | |
| Es wird ein Monument aus Marmorplatten, errichtet von lokalen AktivistInnen | |
| und einem Zusammenschluss der Caritas Italien und der Stadt Reggio | |
| Calabria. Die Namen der Toten werden da draufstehen. Ich habe in | |
| Deutschland Vorträge gehalten und dabei Geld gesammelt, Gemeinden gefunden, | |
| die das mit unterstützt haben. Wann das Mahnmal eröffnet wird, ist unklar. | |
| Aber als der Corona-Lockdown in Italien aufgehoben wurde, haben sie mit dem | |
| Bau angefangen. | |
| Können Sie sich einen Punkt vorstellen, an dem Sie mit dem Geschehen | |
| abgeschlossen haben? | |
| Es gibt keinen Schluss. Es fängt jetzt erst alles an. Als ich das Kind im | |
| Arm hatte, ist auch etwas gestorben in mir. Und es war klar, das was Neues | |
| kommt. Ich weiß nicht, was das ist, aber dem gehe ich seither nach. | |
| 18 Jun 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Sea-Watch-Kapitaen-ueber-Krisen/!5678508 | |
| [2] /Sea-Watch-3-mit-geretteten-Migranten/!5602878 | |
| [3] https://de.wikipedia.org/wiki/K%C3%B6nigsteiner_Schl%C3%BCssel | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Jakob | |
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