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# taz.de -- Regierungswechsel in Berlin: Wünscht euch was!
> Beim Gedanken an Rot-Rot-Grün keimt bei vielen die Hoffnung auf
> Veränderung. Was fordern gesellschaftliche Akteure von einem „linken“
> Senat?
Bild: Alles Hokuspokus? Gute Politik ist eigentlich kein Hexenwerk!
Kommt nun die Zeitenwende? Nach der Wahl von Sonntag keimt bei vielen
gesellschaftlichen Akteuren Hoffnung auf, dass sich mit Rot-Rot-Grün
einiges ändern wird. Und so werden, noch bevor die Koalitionsverhandlungen
begonnen haben, Forderungen laut – an die bisherigen Oppositionsparteien
Linke und Grüne, die im Wahlkampf viel versprochen haben. Aber auch an die
SPD, die immer wieder hat durchblicken lassen, dass sie ja gerne anders
würde, aber wegen der CDU nicht kann.
## Flüchtlinge und Integration
Beim Thema Oranienplatz-Flüchtlinge etwa hatte Noch-Integrationssenatorin
Dilek Kolat (SPD) immer auf den Noch-CDU-Innensenator verwiesen. Und so
sagt Taina Gärtner von der Gruppe Lampedusa Berlin, die sich um
O-Platz-Leute kümmert, sie erwarte jetzt, dass die von Kolat 2014 mit den
Flüchtlingen ausgehandelte Einigung endlich umgesetzt wird: „Alle
Einzelfälle müssen wie versprochen wohlwollend geprüft und Aufenthaltstitel
etwa aus humanitären Gründen gegeben werden“, fordert sie.
Einen Mentalitätswandel bei den Behörden fordert der Flüchtlingsrat: Man
müsse weg von der Abwehrhaltung hin zu einem progressiven Umgang mit
Zuwanderung kommen, sagt Katharina Mühlbeyer. „Mit der Ausländerbehörde
haben nicht nur Flüchtlinge Probleme, sondern viele international
Zugereiste, die eine Aufenthaltserlaubnis benötigen“, erklärt sie.
Zudem müsse der nächste Senat die Notunterkünfte, vor allem die Hangars und
Turnhallen, „schnellstmöglich“ schließen, so Mühlbeyer. Die Flüchtlinge
müssten in Wohnungen oder in ordentlichen Gemeinschaftsunterkünften nach
internationalen Schutzstandards unterkommen. „Viele Notunterkünfte sind
regelrechte Angsträume, gerade für Kinder und Frauen.“
Auch der Vorsitzende des Verbands der Berliner Flüchtlingsheimbetreiber,
Jens Quade, fordert die Schließung der Turnhallen. Zudem müsse endlich
Schluss sein mit der freihändigen Vergabe von Aufträgen und man bräuchte
„Planungssicherheit für die Betreiber, die seit 1,5 Jahren ohne Verträge
und damit ohne gesicherte Finanzen und klare Aufgabenbeschreibungen
arbeiten“.
Ob es Hoffnung gibt, dass die Versorgung der Flüchtlinge unter Rot-Rot-Grün
besser wird, vermag er nicht zu sagen: „Wir wissen nicht, wo es klemmt.“
Derzeit laufe es mit dem neuen Amt für Flüchtlingsangelegenheiten
jedenfalls „so schlecht wie zu den schlimmsten Zeiten im Lageso“ – warum
auch immer.
Einen Mentalitätswandel – Partizipation statt Integration – fordert auch
Tuğba Tanyılmaz, Geschäftsführerin des Migrationsrats. „Das Berliner
Partizipationsgesetz muss konsequent umgesetzt werden, gerade in
Senatsverwaltungen muss es eine Quote für Beschäftigte mit
Migrationshintergrund geben.“ An erster Stelle ihrer Wunschliste steht
jedoch das Wahlrecht für alle BerlinerInnen. Bei der Wahl am Sonntag
durften rund 14 Prozent der erwachsenen BerlinerInnen nicht wählen gehen,
weil sie keinen deutschen Pass haben.
Nina Mühe, Co-Moderatorin des Islamforums Berlin, sagt: „Wir hoffen auf ein
stärkeres Interesse der Berliner Politik, besonders auch des Senats für
Inneres, an Themen, die Muslime betreffen und allgemein am Dialog und
direkten Austausch, beispielsweise im Rahmen des Berliner Islamforums.“ Als
Signal der Solidarität gerade in Zeiten von AfD und zunehmender
Islamfeindlichkeit fordert Mühe die Abschaffung des Neutralitätsgesetzes.
Laut diesem sind Kopftuch und andere religiöse Symbole für Lehrer,
Polizisten und Justizangestellte in Berlin verboten.
## Wohnen und Bauen
Ob Flüchtlingsrat, Migrationsrat oder Caritas: Alle fordern von
Rot-Rot-Grün massives Engagement im sozialen Wohnungsbau. Und hier werde
auch etwas geschehen, glaubt Reiner Wild, Geschäftsführer des Berliner
Mietervereins. „Ein gutes Vorhaben“ nennt er etwa das Wahlversprechen der
Linken, den Bestand der kommunalen Wohnungen von derzeit 280.000 auf
500.000 fast zu verdoppeln. „Die Frage ist nur, wie und wie schnell geht
das.“
Mindestens genau so wichtig ist aus Sicht des Mieterlobbyisten, dass der
Senat ein wirksames Mittel gegen die rasant steigenden Mieten im Bestand
findet. „Das ist aber fast noch schwerer, da die meisten Wohnungen privat
vermietet werden“, dämpft Wild allzu optimistische Erwartungen, dass nun
mit Rot-Rot-Grün alles anders wird. Zudem seien die meisten
wohnungspolitischen Hebel Bundespolitik – etwa die dringend notwendige
Verbesserung der Mietpreisbremse oder die vom Mieterverein geforderte
Spekulationsbremse für Grundstücke.
Wo Land und Kommunen aber Einfluss nehmen könnten, müsse dies auch
geschehen, fordert Wild. „Die Bezirke könnten aktiver werden beim
Milieuschutz – und der Senat sollte in diesem Sinne auf sie Einfluss
nehmen.“
Caritas-Chefin Ulrike Kostka fordert konkret, landeseigene Grundstücke in
Erbaurecht an Träger zu vergeben, die sozialen Wohnraum schaffen wollen.
„Die Preise für Grund und Boden sind für viele unbezahlbar, so kämen gerade
kleinere Träger zum Zuge“, glaubt sie.
## Armutsbekämpfung
Das Thema Armut hatte der letzte Senat überhaupt nicht auf der Agenda,
beklagen viele Akteure. Daher fordert Kostka: „Das muss jetzt im
Mittelpunkt stehen, eine gemeinsame Strategie von Land, Bezirken und
Wohlfahrtsverbänden muss her.“ Dazu gehörten etwa niederschwellige Angebote
für Familien, die ihre Armut versteckten – und oft nicht einmal informiert
seien über das, was ihnen rechtlich zusteht.
Auch die Landesarmutskonferenz (LAK) mahnt, es müsse mehr in die
„Infrastruktur zur Förderung“ von Familien investiert werden. Konkret
fordert Ingrid Stahmer, früher SPD-Sozialsenatorin und heute Sprecherin der
LAK, Rot-Rot-Grün müsse die Obergrenze für Mieten, die das Jobcenter
übernimmt, heraufsetzen: „Immer mehr Menschen sind von Obdachlosigkeit
bedroht, weil sie ihre Miete nicht mehr bezahlen können.“
Eine weitere „kleine“ Forderung von Caritas-Chefin Kostka: Es bräuchte
dringend staatliche Förderung für niederschwellige medizinische Dienste,
die Nicht-Krankenversicherte behandeln. Es gebe in der Stadt immer mehr
gestrandete EU-Bürger, Osteuropäer oder Illegalisierte, die nicht
krankenversichert sind. Aber Einrichtungen wie die Wohnungslosenambulanz
der Caritas am Zoologischen Garten, die auch solche Menschen behandelten –
und nicht nur deutsche Versicherte –, müssten bislang alleine von
Spendengeldern leben.
## Klima und Verkehr
Wenn Linke und Grüne in den Senat einziehen, herrscht bei den Zielen –
massiver Ausbau des Radverkehrs und des Klimaschutzes – weitgehende
Übereinstimmung, sagt Tilman Heuser, Geschäftsführer des BUND. Zentrale
Frage sei nun, wie man diese konkret umsetzt. „Berlin hat viele tolle
Strategien und Masterpläne, aber man muss das, was auf dem Tisch liegt,
jetzt angehen.“ Dafür brauche man eine funktionierende Verwaltung. „Das ist
das Kernproblem.“
Auch Philipp Poll, Landesgeschäftsführer des ADFC, sagt: Die Zusammenarbeit
zwischen Senat und Bezirken müsse dringend verbessert werden, „damit
Radverkehrsvorhaben auch umgesetzt werden“.
Stefan Lieb von Fuß e.V. fordert, dass Tempo 30 zur Regelgeschwindigkeit in
der Stadt wird. Auch müssten Ampelschaltungen endlich überall
fußgängerfreundlich werden. Er hoffe sehr, dass es fußgängerpolitisch unter
Rot-Rot-Grün besser wird als bislang: „Zwar war auch bislang die
Senatsverwaltung für Stadtentwicklung bemüht, war aber personell und
finanziell unzureichend ausgestattet. Beides muss sich natürlich ändern –
attraktiver und sicherer Fußverkehr ist zwar preiswert, aber nicht umsonst
zu haben.“
## Bildung und Inklusion
Für die GEW steht an erster Stelle ihres Forderungskatalogs die Beseitigung
der „Ungerechtigkeit der Bezahlung von Angestellten und Beamten“, wie die
Vorsitzende der Lehrergewerkschaft, Doreen Siebernik, sagt. Zudem fordert
sie, Rot-Rot-Grün müsse endlich die „Weichen stellen für eine gelingende
Inklusion“. Es reiche nicht, nur an die Lehrer zu appellieren, der Senat
müsse Mittel und Möglichkeiten bereitstellen. Drittens würde Siebernik
gerne die Bedarfsprüfung für Nachmittagsbetreuung in der Schule abschaffen.
„Wenn Eltern einen Ganztagsplatz für ihr Kind wollen, muss der Staat das
übernehmen.“
Arbeit
Erste Forderung von DGB-Chefin Doro Zinke an den neuen Senat ist eine
strengere Kontrolle und Umsetzung der Vergaberichtlinien bei öffentlichen
Aufträgen. So verlangt das Vergabegesetz von Firmen, die Landesgelder
bekommen, dass sie sich tariftreu verhalten, Sozialversicherungsabgaben
zahlen u.s.w. Dies wird laut Zinke aber nicht kontrolliert, die
Finanzkontrolle Schwarzarbeit sei völlig überlastet. „Aber es reicht nicht,
einfach nur Tariftreueerklärungen zu verlangen. Papier ist geduldig“, sagt
Zinke. Zweitens wünscht sie sich in der Industriepolitik eine bessere
Pflege der noch hier ansässigen Industrie. Und in der Arbeitsmarktpolitik
müsse endlich eine funktionierende Struktur mit der Regionaldirektion des
Arbeitsamts geschaffen werden. „Für all dies muss man nicht unbedingt mehr
Geld ausgeben, es geht darum, Geld gezielt auszugeben.“
21 Sep 2016
## AUTOREN
Susanne Memarnia
Alke Wierth
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