# taz.de -- Stimmung in Berlin nach der Wahl: „Die haben nüscht anzubieten“ | |
> Mietenexplosion, Touristenschwemme, wachsende Armut und Flüchtlinge – die | |
> Themen des Wahlkampfs beschäftigen die Berliner weiter. | |
Bild: Was denken die Berliner über die Wahlergebnisse? | |
MARZAHN-HELLERSDORF/FRIEDRICHSHAIN-KREUZBERG taz | René Ruder hat schlechte | |
Laune an diesem Morgen. Eine Verkäuferin ist ausgefallen, sie sind zu | |
wenige heute im Obst- und Gemüsegeschäft am Ausgang einer U-Bahn-Station im | |
Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf. Hier werden nicht nur Pfirsiche und | |
Gurken an junge Mütter verkauft , sondern auch Bratwurst und Buletten vom | |
daneben aufgebauten Grill, Frühstück zum Beispiel für den Kfz-Lackierer, | |
der gerade vorbeikommt. | |
Aber nicht nur der anstrengende Arbeitstag lässt Ruder in seinen struppigen | |
Bart grummeln. Es sind Zahlen, die ihm zu schaffen machen: 23,6 Prozent der | |
Zweitstimmen hat die AfD bei den Wahlen am vergangenen Sonntag im Bezirk | |
bekommen, so viele wie keine andere Partei. Bei den Erststimmen schaffte | |
die hier traditionell starke Linkspartei nur einen hauchdünnen Vorsprung | |
von 71 Stimmen, außerdem konnte die AfD hier zwei ihrer fünf Direktmandate | |
holen. „So ’ne sinnlose Scheiße, jetzt mal auf gut Deutsch“, ist Ruders | |
erster Kommentar. | |
Ortswechsel. Am Morgen nach der Landtagswahl ist am Kottbusser Tor alles | |
wie immer: Im Köftecisi zischen die Hackfleischbällchen auf dem Grill, der | |
Gemüsehändler daneben sortiert pfeifend Tomaten. Friedrichshain-Kreuzberg | |
hat wie immer Grün gewählt. Der Bezirk ist der einzige grüne Klecks auf | |
einer ansonsten roten und schwarzen Stadtkarte. | |
Der 73-jährige Ali Durmas arbeitet als Hausmeister im Neuen Kreuzberger | |
Zentrum, einem achtstöckigen Betonklotz mit Hunderten von Mietern direkt am | |
Kottbusser Tor. Durmas selbst hat nicht gewählt, er ist kein deutscher | |
Staatsbürger. Eine Meinung zu den Wahlergebnissen hat er trotzdem: „Jetzt | |
muss es Monika zeigen“, sagt Durmas und rasselt unwillig mit seinem großen | |
Schlüsselbund. Monika Herrmann ist die grüne Bürgermeisterin von | |
Friedrichshain-Kreuzberg. Mit einem Ergebnis von 32,8 Prozent haben die | |
Grünen im Vergleich zu 2011 zwar 3 Prozent an Stimmen eingebüßt – aber sie | |
sind weiterhin stärkste Kraft im Bezirksparlament. | |
## „Eine Geldverschwendung ohne Ende“ | |
In den türkischen Geschäften und Cafés am Kotti pulsiert das Leben, drei | |
Schritte weiter regiert das nackte Elend: Abgemagerte Alkis und Junkies | |
hocken apathisch auf dem Trottoir und warten auf die Dealer und den | |
Drogenhilfebus mit frischen Spritzen und Butterstullen. Tagsüber wird die | |
Gegend von Touristen überschwemmt, nachts stürmt das Partyvolk die Bars und | |
Kneipen. Es liegt auch an den Gegensätzen, dass der Doppelbezirk – der sich | |
über mehrere Brücken vom ehemaligen Westen in den früheren Ostteil | |
erstreckt – angesagt ist wie nie zuvor. Im Windschatten der Amüsierlustigen | |
segeln Diebe und Räuber mit. Die Zahl der Strafanzeigen haben sich | |
verdoppelt. Anwohner und Ladeninhaber wie Durmas fordern daher dauerhafte | |
Polizeipräsenz. | |
In Marzahn-Hellersdorf wohnt der gebürtiger Berliner René Ruder seit Jahren | |
fünf Minuten Fußweg von seiner Arbeitsstelle entfernt. Sein Chef hat ihn | |
sofort gerufen, als es darum ging, wer wohl etwas zu den Wahlen sagen | |
könnte: „Der René, der hat da 'ne Meinung.“ Während er redet, schaut er | |
finster unter den buschigen Augenbrauen hervor mit einem Gesicht, das | |
aussieht wie das von einem, dem man so schnell nichts vormacht. Nur | |
manchmal blitzt es in seinen Augen, und ein schnelles Grinsen huscht über | |
sein Gesicht. Dann weiß man, dass Ruder gerade einen Witz gemacht hat und | |
sich freut, wenn der Gesprächspartner darüber lacht. | |
Ruder hält nichts von der AfD, aber er begründet das etwas anders, als es | |
unter den selbstverständlich antirassistischen AfD-GegnerInnen in der | |
Innenstadt üblich ist. Für ihn bedeutet der Einzug der Partei ins | |
Abgeordnetenhaus und die Bezirksparlamente vor allem eins: „eine | |
Geldverschwendung ohne Ende“. Aus seiner Sicht ist klar: „Die haben nüscht | |
anzubieten, die sind nur dagegen, was alle anderen machen, aber selber | |
werden die nichts reißen.“ | |
Die meisten seiner Kunden und privaten Bekannten, die die AfD wählten, | |
hätten das aus Protest getan: „Wähl ich gar nicht oder wähl ich Blau, das | |
war bei den Leuten die Frage“, sagt er. Es sei darum gegangen „zu zeigen, | |
dass man nicht einverstanden ist mit dem, was regierungsmäßig so abläuft.“ | |
## Nicht alle sind unzufrieden | |
Ist das der Frust der abgehängten Ex-DDR-PlattenbaubewohnerInnen, wie man | |
sie sich vorstellt, wenn man an Marzahn-Hellersdorf denkt? Ja und nein: Die | |
Menschen hier seien nicht alle unzufrieden mit ihrem Wohnort und Leben. Die | |
Anbindung an die Innenstadt ist gut, der Sanierungsbedarf im Bezirk gering, | |
die Wohnungen sind noch bezahlbar. Andererseits: „Auch hier explodieren die | |
Mieten, das kriegt nur eben außer den Leuten hier niemand mit“, sagt Ruder. | |
Und er hat recht: Zwar kann man hier immer noch weitaus günstiger wohnen | |
als in der Innenstadt, bei der Steigerungsrate ist der Bezirk aber ganz | |
vorne mit dabei. „Und dass sich wer dafür interessiert, wie es den Leuten | |
hier geht, das Gefühl hat man nicht.“ | |
Im ehemals durch die Mauer geteilten Friedrichshain-Kreuzberg hat die | |
Attraktivität des Bezirks zu einem deutlichen Anstieg der Immobilienpreise | |
geführt. Wohnungen zu erschwinglichen Preisen sind kaum zu haben. Die | |
Zuwanderung von EU-Bürgern mit Geld hält an. Während mancher | |
Alt-Kreuzberger Linksradikale heutzutage eher die Linkspartei, die Piraten | |
oder die Satirepartei Die Partei gewählt hat, wählt das gut situierte neue | |
Publikum Grün. Diese Leute leben ökologisch und fairtrade, fahren Fahrrad | |
und sind politisch interessiert. | |
Ein anderes Markenzeichen von Kreuzberg ist politisches Versagen auf allen | |
Ebenen. Viel zu lange haben Polizei, Bezirksamt und Senat zugesehen, wie | |
sich die Verhältnisse im Görlitzer Park und in der einstmals von | |
Flüchtlingen besetzen Gerhart-Hauptmann-Schule zuspitzten. Das große Plus | |
von Monika Herrmann ist, dass sie Fehler eingeräumt hat – für Politiker | |
keine Selbstverständlichkeit. | |
## Dialog statt Polizei | |
Die Versuche der grünen Bürgermeisterin, Probleme mit Flüchtlingen durch | |
Dialog und Sozialarbeiter zu lösen und nicht mit der Polizei, sind in der | |
Vergangenheit von vielen belächelt worden. Der CDU-Innensenator Frank | |
Henkel hat keine Gelegenheit ausgelassen, Herrmann Versagen vorzuwerfen. | |
Der Schwarze ist Geschichte, die Grüne regiert weiter. | |
„Tickt Kreuzberg links“, wurde Kreuzbergs Bezirksbürgermeisterin am | |
Sonntagabend nach der Wahl im Berliner Regionalfernsehen vom Moderator | |
gefragt. Die Sendung wurde in den Plenarsaal des Bezirksrathauses | |
übertragen. Anwohner, Anhänger der Linken und der Grünen schauten sich dort | |
zusammen die Hochrechungen an. Alle Anwesenden brüllten als Antwort auf die | |
Frage des Moderators: „Ja!“ | |
Die Menschen in ihrem Bezirk seien halt anders, kommentierte Herrmann. Sie | |
selbst, bekennende Lesbe mit wuscheligem Kurzhaarschnitt, ist das beste | |
Beispiel dafür. In Jeans und Bergschuhen steht sie im Studio neben der | |
Neuköllner SPD-Bürgermeisterin im roten Kostümchen mit Hochsteckfrisur. Man | |
konnte das einstellige AfD-Ergebnis in Friedrichshain-Kreuzberg auch so | |
erklären wie Christian Ströbele, direkt gewählter grüner | |
Bundestagsabgeordneter in diesem Bezirk: „Kreuzberg steht und | |
Friedrichshain auch.“ | |
Am Morgen nach der Wahl kommt der grüne Direktkandidat Turgut Altug mit | |
einem Handkarren zum Kottbusser Tor. Wie auf den Wahlplakaten hat der | |
45-Jährige seine langen grauen Locken zu einem dicken Pferdeschwanz | |
zusammengebunden. Turgut ist der Sohn von Landarbeitern aus Anatalien. Als | |
einziger von neun Kindern hat er studiert, Agrarwissenschaft und Politik. | |
In der Hand hat er Zettel. „31,3 Prozent“ steht darauf und „Danke“. Die | |
klebt er nun auf seine Plakate. | |
## Nicht die Flüchtlinge sind Schuld | |
Noch am Tag zuvor hatte Ali Durmas vor seinem Laden gesessen und über die | |
Kriminalität im Kiez und die unfähigen Grünen gewettert. Dabei hatte er so | |
heftig an seiner Wasserpfeife gezogen, dass die Kohlen dunkelrot glühten. | |
Als Turgut Altug nach der Wahl vorbeikommt, ist das vergessen. Durmas gibt | |
ihm freudestrahlend die Hand. | |
In Marzahn-Hellersdorf kommt René Ruder zu dem, was er „das Thema mit die | |
Ausländer“ nennt. „Für mich ist klar, dass Multikulti kein Problem ist, h… | |
’nen Jugoslawen in der Familie, werd selber oft für ’nen Türken gehalten | |
hier mit dem Gemüse.“ Er sagt aber auch: „Den Leuten zu erzählen, da käm… | |
nur syrische Familien, und dann ist das Heim plötzlich voll mit Bosniern, | |
Afghanen und so Krimskrams. Das können die nicht bringen.“ | |
Überhaupt: Der Frust der Leute bei dem „Thema“, an dem hätten doch nicht | |
die Flüchtlinge Schuld, sondern die Politik. „Wenn hier von einem auf den | |
anderen Tag gesagt wird, die Turnhalle ist jetzt ein Heim, und es gibt | |
keine Informationen und nix dazu, dann regt das die Leute eben auf.“ | |
Das wussten in Marzahn-Hellersdorf in den letzten Jahren immer wieder | |
Rechtsextreme für sich zu nutzen. Als 2013 eine ehemalige Schule zum | |
Flüchtlingsheim umfunktioniert wurde, gleich um die Ecke von hier, | |
protestierten AnwohnerInnen wochenlang Seite an Seite mit organisierten | |
Neonazis aus der Nachbarschaft. Der Bezirk war völlig überfordert – und | |
geriet bundesweit in die Schlagzeilen. | |
## Die Gefühle der AfD-Wähler | |
Flüchtlingsfeindliche Proteste gibt es seitdem immer wieder. Zwar gelingt | |
es den Braunen nicht mehr, breitere Teile der Bevölkerung zu mobilisieren, | |
dafür steigt die Zahl der Brandanschläge und körperlichen Übergriffe. Dass | |
die AfD hier gut abschneiden würde, ist keine Überraschung. Gleichzeitig | |
gilt aber auch: Die Linke ist im Bezirk erneut stärkste Kraft geworden und | |
wird die Bezirksbürgermeisterin stellen können – auch wenn diese mit einem | |
AfD-Stadtrat regieren wird. | |
Ruder hat die Linkspartei gewählt, dieses Mal und die Male davor auch. Was | |
die Leute zur AfD treibt, versteht er schon: zum einen ein diffuses Gefühl, | |
dass sich der Bezirk verändert, und zwar nicht zum Guten – „in fünf Jahren | |
ist es hier wie in Kreuzberg mit die Türken“, habe ihm neulich ein | |
Bekannter gesagt; zum anderen das Gefühl, benachteiligt zu werden, das man | |
nicht nur als rassistische Propaganda abtun kann: „Die ganzen sozialen | |
Träger, die machen jetzt alle in Flüchtlinge, weil sie wissen, damit können | |
sie richtig abkassieren“, sagt Ruder. | |
Für ihn ist die AfD trotzdem unwählbar – weil sie Deutsche und | |
Nichtdeutsche gegeneinander aufhetze, aber vor allem aus einem anderen | |
Grund: „Die wollen das ganze Soziale abschaffen, da bin ich doch nicht | |
bescheuert und geb denen meine Stimme.“ | |
Was die Erfolgsaussichten der Partei angeht, bleibt er allerdings trotz der | |
Wahlergebnisse gelassen: „Ich geb denen nicht lange, keene Ideen und keene | |
Konzepte, die werden absaufen wie die Piraten“, sagt er und schaut zum | |
ersten Mal an diesem Morgen etwas zuversichtlicher. | |
20 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Malene Gürgen | |
Plutonia Plarre | |
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Sebastian Czaja | |
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